# taz.de -- SEHENSWÜRDIGKEITEN: Individueller Selbstbetrug | |
> Die Masse hat nicht immer recht, sie liegt aber auch nicht immer falsch. | |
> Ein Plädoyer für das ganz gewöhnliche Programm | |
Bild: Hackesche Höfe in Berlin-Mitte | |
"Habt ihr ein paar Geheimtipps?", fragt uns der Belgier in dieser | |
Friedrichshainer Kickerkneipe. Hier im Kiez ist er einer von vielen | |
Touristen, die noch nicht erwachsen sind, aber auch nicht mehr jugendlich. | |
Und einer von gefühlt noch mehr Touristen, die nach den "besonderen | |
Sehenswürdigkeiten" gieren. | |
Ich kenne da ein paar: den Aldi-Supermarkt, den Spätkauf, die | |
S-Bahn-Station Ostkreuz. An letzt genanntem Ort wird sogar gerade gebaut. | |
Stadttourismus im Wandel am Beispiel des Ostkreuzes, das touristische | |
Programm für alle, die sich nicht das Brandenburger Tor angucken wollen. | |
Wieso eigentlich nicht? Ich frage mich manchmal, was sich junge Menschen | |
überhaupt vom Städtetourismus erhoffen - die berühmten Bauten der Stadt | |
sind es wohl nicht. Eine Floskel, die in diesem Zusammenhang oft fällt, | |
ist: "Die Atmosphäre fühlen." Das ist ungefähr das Gleiche wie Meditieren: | |
tief einatmen - tief ausatmen. Die einzelnen Luftpartikel in der Lunge | |
analysieren. Den Feinstaub herausspüren und mit dem Feinstaub von zu Hause | |
vergleichen. Die Hand hochheben und die Luftfeuchtigkeit auf die Haut | |
einwirken lassen. Die Zunge rausstrecken und damit den Nieselregen | |
auffangen und seinen Säuregehalt überprüfen. Vielleicht hat das Ganze doch | |
nichts mit Meditieren zu tun. | |
Vor dem Ostkreuz steht oft ein Polizeieinsatzwagen, die Polizisten kaufen | |
sich Kaffee an der Wurstbude, die kaum größer ist als der Einsatzwagen. Die | |
Bauarbeiter, die gerade das Ostkreuz neu bauen, kaufen sich ihren Kaffee an | |
derselben Wurstbude wie die Polizisten. Titel des Ausflugs: | |
Gesellschaftliche Homogenität in Berlin am Beispiel des Kaffeeverkaufs | |
einer Wurstbude. Nicht weit vom Ostkreuz entfernt befindet sich der | |
Aldi-Supermarkt. Vor dem Aldi steht oft ein Straßenzeitungsverkäufer. Der | |
stellt sich immer direkt an die Einkaufswagenparkstation. Jeder, der seinen | |
Euro aus dem Einkaufswagen nimmt und in die eigene Tasche steckt, hat das | |
Gefühl, vorwurfsvoll angeguckt zu werden, obwohl der | |
Straßenzeitungsverkäufer so gut wie nie jemanden direkt anblickt. Im | |
Umkreis des Supermarktes befinden sich gefühlt fünf Hundeplätze. Vor dem | |
einen Hundeplatz ist ein Schild angebracht, auf dem steht: "Alle Rassen | |
erlaubt". Der politischen Korrektheit halber ist vor dem Wort Rassen | |
handschriftlich "Hunde" ergänzt worden. | |
Mirals Berlin-Tourist wäre das alles so was von egal. Ob da jetzt | |
Hunderassen steht oder nicht. Ich würde nicht nach Hause nach Belgien | |
fahren und erzählen: "Krass, die Deutschen sind tatsächlich noch alle | |
Nazis." Würde ich Berlin besuchen, dann würde ich mir das Parlament | |
angucken, das Brandenburger Tor, den Alex. Und immer würde ich ein Foto von | |
mir selbst mit der Attraktion im Hintergrund machen. Beeindruckende Bauten | |
sind das, alle drei, und von historischer Bedeutung. Auf jeden Fall | |
beeindruckender als der Aldi-Supermarkt. | |
Natürlich meint keiner der Touristen mit Geheimtipp tatsächlich das | |
Ostkreuz und Aldi. Sie meinen so Dinge wie sonntags Flohmarkt im Mauerpark | |
oder Kaffeetrinken in der Bergmannstraße. Toll. Oder im Sommer im | |
Badeschiff schwimmen. Dann fahren sie nach Hause und erzählen, sie haben | |
nicht das gemacht, was jeder andere gemacht hat. Und sie erzählen, wie nett | |
alle Berliner sind, wie toll die Stadt ist. Sie waren individuell. | |
Das Ganze trägt den Titel "Der Zwang des Individualtourismus". Eine | |
typische Ausprägung westlicher Wohlstandsgesellschaften, geprägt von einer | |
Kultur der "Selbstverantwortung", "Selbstverwirklichung" und vor allem des | |
"Selbstbetrugs". Touristen anderer Kulturen haben es wesentlich einfacher. | |
Sie unterliegen nicht der Panik, zur Masse zu gehören, zum verfluchten | |
Mainstream. Sie können seelenruhig fünf Fotos hintereinander vom Alex | |
machen, schamlos fragen sie Passanten, ob die nicht auch ein Foto von ihnen | |
mit Alex machen könnten. Denn sie sind an einem Ort, der schon Millionen | |
andere Menschen begeisterte. | |
Die Quintessenz von alledem ist übrigens recht einfach: Lieber | |
Individualtourist, die Masse hat nicht immer recht, sie liegt aber auch | |
nicht immer falsch. Liebe Individualtouristen, befreit euch endlich ein | |
bisschen vom kollektiven Zwang der Individualität! | |
10 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Moritz Förster | |
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