# taz.de -- Internationale Tourismusbörse in Berlin: Raus aus der Werbeschleife | |
> Die ITB steht vor der Tür: Wie wird der Tourismus in Berlin nach der | |
> Pandemie aussehen? Ein Plädoyer für weniger Marketing und mehr | |
> Tourismuspolitik. | |
Bild: Nicht in Sicht: ein Konzept zur Lenkung des Reise- und Sightseeing-Busver… | |
Die Organisatoren der Internationalen Tourismusbörse sind nicht zu | |
beneiden. Als eine der ersten Großveranstaltungen wurde die ITB [1][2020 | |
covidbedingt abgesagt]. Dieses Jahr bleibt sie auf dem Scheitelpunkt der | |
Omikronwelle im Onlinemodus. Erklärtermaßen aus direkter Betroffenheit | |
widmet sich die [2][einmal mehr] als Stream übertragene Fachdiskussion den | |
Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz. | |
Für die Reisebranche sind das derzeit die Themen. Aber was bedeutet das in | |
der Praxis? Zum Beispiel für Berlin, einer Stadt, die sich traditionell | |
gern als besonders fortschrittlich gibt und nun sogar „Zukunftshauptstadt“ | |
werden will? | |
Herausforderungen gäbe es genug, um tourismuspolitisch Gestaltungsanspruch | |
zu beweisen, und das mitnichten nur pandemiebedingt. Viele der Konflikte, | |
die vor der Pandemie zu heftigen Auseinandersetzungen darüber führten, | |
inwieweit Berlin ein Problem mit „Übertourismus“ habe, sind nicht auf | |
wundersame Weise verschwunden. Sie haben, wenn überhaupt, nur vorübergehend | |
an Sprengkraft verloren. | |
Zum Beispiel die Klimakrise. Nach Angaben des Umweltbundesamtes trug der | |
weltweite Tourismus vor Beginn der Pandemie schätzungsweise acht Prozent zu | |
den globalen Treibhausgasemissionen bei. Grund genug, sollte man meinen, um | |
zum Beispiel darüber zu diskutieren, inwieweit es noch vertretbar ist, in | |
den Flieger zu springen, um ein paar Tage in Berlin zu verbringen. | |
## „Business as usual“ unter RGR | |
Doch Fehlanzeige. Der für die „Zukunftshauptstadt“ geschmiedete | |
Koalitionsvertrag deutet darauf hin, dass es der neue Senat in puncto | |
Tourismus weitgehend bei „business as usual“ belassen wird. | |
[3][Marco d’Eramo] hat in seiner viel beachteten „Besichtigung des | |
touristischen Zeitalters“ (2018 unter dem Titel „Die Welt im Selfie“ | |
erschienen) auf ein Paradox hingewiesen, das sich im Lichte von Pandemie- | |
und Klimakrise weiter zuzuspitzen scheint. Wie Sport oder Werbung gehöre | |
Tourismus zu jener Kategorie sozialer Phänomene, die, so d’Eramo, zwar | |
allgegenwärtig seien, sich aber doch auf erstaunliche Weise der Befragung | |
entzögen. | |
Für die politische Reflexion des Tourismus scheint dies in besonderer Weise | |
zu gelten. So hat die laute Diskussion der Reiseeinschränkungen während der | |
Pandemie zwar gezeigt, zu welcher Selbstverständlichkeit Reisefreiheit | |
geworden ist. Wie angesichts der globalen Klimaauswirkungen des Tourismus | |
mit diesem Privileg verantwortungsvoll und generationengerecht umgegangen | |
werden soll, ist jedoch eine politisch kaum thematisierte Frage. Man darf | |
gespannt sein, ob und wie die verzichtsdebattenmüden Grünen das Thema auf | |
Bundesebene angehen. | |
Von der „Zukunftshauptstadt“ Berlin hätte man mindestens erwarten können, | |
dass sie die „[4][Glasgow Declaration on Climate Action in Tourism]“ der | |
Weltklimakonferenz mitträgt und sich so zumindest ein bisschen | |
Rechenschaftspflichten auferlegt. Hat man aber nicht. Der neue Senat sieht | |
im Koalitionsvertrag zwar einen „ökologischen Fonds“ zur Senkung des | |
Ressourcenverbrauchs im Gastgewerbe vor. Über die Höhe der angestrebten | |
Einsparungen oder die zu investierenden Mittel ist jedoch bisher nichts | |
bekannt. Und weitergehende Neuerungen sucht man in den wieder einmal | |
spärlichen Aussagen zum Tourismus – die bezeichnenderweise erneut im | |
Wirtschaftsteil zu finden sind – vergeblich. | |
## Andere Städte sind weiter | |
Andere Städte sind da weiter. Amsterdam hat etwa die klassische | |
Tourismuswerbung reduziert. In Barcelona wurde sie institutionell vom | |
Tourismusmanagement getrennt. Daran ist in Berlin offenbar nicht zu denken; | |
hier leistet man sich mit „visitBerlin“ und „Berlin Partner“ lieber gle… | |
zwei Stadtmarketingagenturen beziehungsweise | |
Wirtschaftsförderungsagenturen. | |
Noch ein Beispiel: Während sich die katalanische Hauptstadt auf Initiative | |
der Bürgerplattform „Barcelona en Comú“ schon vor Jahren | |
Beteiligungsformate schuf, um Stadtbewohner in die | |
Stadttourismusentwicklung einzubeziehen, tagt bei der Berliner | |
Bürgermeisterin Franziska Giffey weiterhin ein „Runder Tisch Tourismus“ – | |
seit seiner Einführung durch Klaus Wowereit exklusiv und hinter | |
verschlossenen Türen. | |
Jenseits dieser grundsätzlichen Fragen zeigt sich auch im ganz Konkreten, | |
dass die Berliner Tourismuspolitik im Marketing-Modus feststeckt, statt die | |
Schnittstellen von Stadt- und Tourismusentwicklung gestalten zu wollen. So | |
harrt der im neuen Koalitionsvertrag erneut in Aussicht gestellte | |
Hotelentwicklungsplan seit 2013 seiner Realisierung. Noch länger wartet man | |
auf das erneut angekündigte Konzept zur Lenkung des Reise- und | |
Sight-Seeing-Bus-Verkehrs. | |
Dieser Stillstand mag zum Teil verwaltungsstrukturell bedingt sein. Doch | |
das macht die Sache nicht besser. Wenn selbst überschaubare, politisch | |
vereinbarte Projekte nicht zustande kommen oder scheitern, sollte dies | |
vielmehr Anlass sein, sich endlich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen, | |
wie das Politikfeld Tourismus neu ausgerichtet und die Handlungsfähigkeit | |
in diesem Bereich verbessert werden kann. | |
Ob derlei Fragen bei Franziska Giffey am „Runden Tisch Tourismus“ | |
diskutiert werden? Wir wissen es nicht, aber es entbehrt nicht einer | |
gewissen Ironie, dass visitBerlin-Chef Burkhard Kieker Berlin gern als | |
„Drehscheibe des Nachdenkens über Zukunftslösungen“ bezeichnet, die | |
tourismuspolitische Reflexion aber – wenn überhaupt – in einem obskuren | |
Hinterzimmergremium stattfindet. | |
## Gute und schlechte Orte | |
Um die Erlebensqualität öffentlicher Räume geht es aber auch an mehreren | |
konkreten Orten, die den touristischen Appeal Berlins auf sehr | |
unterschiedliche Art und Weise ausmachen. Zum Beispiel bei der Gestaltung | |
der verbleibenden Freiflächen am [5][Checkpoint Charlie]. Die ehemalige | |
Grenzübergangsstelle ist nach Besucherzahlen die drittbeliebteste | |
Sehenswürdigkeit Berlins und zugleich, seit 2015 auch offiziell qua | |
Baugesetzbuch, ein Ort „außergewöhnlicher stadtpolitischer Bedeutung“. | |
Seine Zukunft bleibt jedoch trotzdem oder gerade deshalb ungewiss. Ob hier | |
ein qualitätsvolles Stück Stadt entsteht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob | |
kultur-, stadtentwicklungs- und tourismuspolitische Belange miteinander in | |
Einklang gebracht und koordiniert werden können. | |
Weitere Baustellen, an denen Stadt- und Tourismusentwicklung eng | |
ineinandergreifen, finden sich viele. Auf einer der letzten Freiflächen an | |
der Rummelsburger Bucht plant das multinational agierende Unternehmen | |
[6][Coral World] sein als „Wasserhaus“ gelabeltes Aquarium nicht nur größ… | |
als ursprünglich vorgesehen, sondern nun auch noch in Kombination mit einem | |
Hotel. | |
Nicht nur viele Anwohnerinnen und Anwohner stehen dem geplanten Aquarium, | |
das zu großen Teilen auf einer als öffentlicher Park ausgewiesenen Fläche | |
entstehen soll, äußerst kritisch gegenüber. Sie werfen der Politik | |
mangelnde Distanz zum Umgang mit dem Investor vor. Dass dessen | |
PR-Dienstleister laut einem Bericht des RBB auch Gesellschafter bei Berlin | |
Partner, einer der beiden Hauptstadtmarketing-Agenturen, ist, trägt nicht | |
unbedingt dazu bei, diesem Eindruck entgegenzuwirken. | |
Während sich im Fall der Rummelsburger Bucht kommerzielle Interessen und | |
Befürworter einer „Bucht für alle“ unversöhnlich gegenüberstehen, beste… | |
auf der gegenüberliegenden Seite der Spree beim Spreepark die Möglichkeit, | |
zu zeigen, dass ein solches Szenario nicht unausweichlich ist. | |
Da sich das Gelände des ehemaligen DDR-Vergnügungsparks im Plänterwald im | |
Besitz des Landes befindet, könnte hier ein Modellprojekt realisiert | |
werden, wie wirtschaftliche Entwicklung „von oben“ und | |
zivilgesellschaftliche Kreativität „von unten“ einerseits und touristische | |
und andere Anliegen andererseits in Einklang miteinander gebracht werden | |
können. | |
Insgesamt werden 20 Millionen Euro aus einem Bund-Länder-Programm in die | |
touristische Erschließung investiert. Viel Geld also, um ein Experiment zu | |
wagen, das sich Berlin mit seinem Selbstverständnis als Stadt der Kreativen | |
buchstäblich aufdrängt. Hier ließe sich zeigen, wie kooperative | |
Planungsprozesse und Möglichkeiten zur bürgerschaftlichen Aneignung und zum | |
Experimentieren Räume schaffen können, die für Berliner und Besucher | |
gleichermaßen einladend und attraktiv sind. | |
## Die Rolle von visitBerlin | |
Doch worauf müsste die politische Mitgestaltung des Stadttouristischen im | |
Zeichen der Klimakrise und eines mittelfristig wahrscheinlichen | |
postpandemischen „Overtourism 2.0“ zielen? Der Koalitionsvertrag | |
verspricht, dass ein seit Jahren geplanter Bürgerbeirat gegründet, das | |
existierende Tourismuskonzept fortgeschrieben und ein „zentraler | |
touristischer Datenhub“ eingerichtet werden soll. Das sind gute Absichten, | |
man braucht sie nicht von vornherein schlechtzureden. Gleichwohl steht | |
erfahrungsgemäß zu befürchten, dass ein bisschen Konzeptarbeit und ein | |
bisschen Beteiligung nicht weit führen werden. Berlin muss vielmehr fragen, | |
ob es noch sinnvoll ist, Tourismus in erster Linie als | |
wirtschaftspolitisches und nicht als eigenständiges Querschnittsthema zu | |
betrachten. | |
Zu fragen ist auch, ob es angemessen ist, ausgerechnet visitBerlin, also | |
ein Unternehmen, das eng mit der Tourismusbranche verbunden ist und sich | |
immer noch in erster Linie als Marketingagentur versteht, regelmäßig mit | |
der Gestaltung und Umsetzung von Prozessen und Projekten zu betrauen, die | |
vorgeben, zwischen unterschiedlichen Interessen vermitteln und | |
tourismusbezogene Konflikte lösen zu wollen. Längst überfällig ist zudem | |
eine Infragestellung der Möglichkeit und Notwendigkeit immer weiteren | |
touristischen Wachstums und einer Politik, die durch öffentlich | |
finanziertes Marketing fortwährend auf weiteres Wachstum setzt. | |
Natürlich ist es unpopulär, Investitionen in das Tourismusmarketing infrage | |
zu stellen. Seit der Weimarer Republik ist das, was heute als „Destination | |
Branding“ bezeichnet wird, ein wichtiges Mittel für Städte, um sich im | |
Wettbewerb um Aufmerksamkeit zu behaupten und sich ihrer Bedeutung zu | |
vergewissern. Und angesichts dessen, was sie in den letzten Jahren | |
durchgemacht hat, kann man es der heutigen Tourismusbranche nicht | |
verdenken, dass sie lautstark nach mehr Marketinginvestitionen ruft. | |
Aber würden diese überhaupt noch etwas bringen? Die Deutungshoheit über die | |
Bilder der Stadt hat sich in der digitalen Welt ebenso verflüssigt, wie | |
sich das Verhalten und die Erwartungen der Touristen ausdifferenziert | |
haben. Wie viel Einfluss mit teurer TV- oder Printwerbung, aufwendigen | |
Plakatkampagnen oder immer kostspieligerem Social Media- und | |
Influencer-Marketing in Zeiten einer zunehmend medial dezentralisierten und | |
unübersichtlichen Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt noch erreicht werden | |
kann, ist ungewiss. | |
Klar braucht es sehr gute Tourist-Infos, Menschen, die Kongresse nach | |
Berlin holen, und weitere, die all jene vernetzen, die den Berlin-Tourismus | |
mitgestalten. Dass visitBerlin unter der Marke BAHNHIT.de auch noch selbst | |
Bahnreisen nach Berlin (und in andere Städte) vertreibt, lässt sich sogar | |
als echter Beitrag für einen nachhaltigeren Tourismus verstehen. | |
Unter dem Strich ist jedoch eine echte Abkehr vom klassischen | |
Destinationsmarketing überfällig. Der tourismuspolitische Fokus muss der | |
komplexen Frage gelten, wie sich Stadt- und Tourismusentwicklung | |
wechselseitig prägen und gestalten lassen. Ein „Weiter so“ ist in | |
Anbetracht der vielfältigen Krisen und Herausforderungen, mit denen der | |
Tourismus konfrontiert ist, verheerend. Vor allem für eine Stadt, die doch | |
unbedingt „Zukunftshauptstadt“ sein will. | |
7 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ausbreitung-von-Corona/!5667981 | |
[2] /Internationale-Tourismus-Boerse-virtuell/!5754070 | |
[3] /Besichtigung-des-touristischen-Zeitalters/!166374/ | |
[4] https://www.unwto.org/news/the-glasgow-declaration-an-urgent-global-call-fo… | |
[5] /Berliner-Baupolitik/!5654278 | |
[6] /Coral-World-soll-nach-Rummelsburg/!5588826 | |
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