Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regisseurin über „An einem schönen Morgen“: „Leben und Film…
> Die Regisseurin Mia Hansen-Løve spricht über Abschied und authentisches
> Erzählen in ihrem Film „An einem schönen Morgen“. Schreiben schmerzt sie
> oft.
Bild: Langsamer Verfall: Sandra (Léa Seydoux) und ihr Vater Georg (Pascal Greg…
In ihrem Drama „An einem schönen Morgen“ schildert die französische
Regisseurin Mia Hansen-Løve den Alltag einer selbstbewussten Frau zwischen
pflegebedürftigem Vater, beruflichen Herausforderungen und einer
unverhofften neuen Liebe. Ein kluges, berührendes Porträt über eine
komplizierte Lebensphase, inspiriert von eigenen Erfahrungen.
taz: Frau Hansen-Løve, in „An einem schönen Morgen“ verweben Sie sehr
vielschichtig das Leben Sandras zwischen der Sorge um ihren dementen Vater
Georg mit dem komplizierten Alltag als Patchworkfamilie, dem fordernden
Beruf als Dolmetscherin und ihrer neu aufkeimenden Liebe zu einem alten
Freund. Wie gelang die Balance dieser oft widersprüchlichen Emotionen?
Mia Hansen-Løve: Diese Gleichzeitigkeit von Gegensätzen war die größte
Herausforderung. Dieser Moment, wenn man einen geliebten Menschen verliert
und unerwartet einem großen Glück begegnet, das war mir passiert und das
wollte ich in einem Film festhalten. Als Meditation über Verlust und
Wiedergeburt. Gerade wenn man am Leben verzweifelt, bringt es oft
unverhofft etwas, das es erträglicher macht. Sandra hätte sich vielleicht
sowieso in Clément verliebt, doch der Verfall ihres Vaters lässt sie diese
Leidenschaft noch intensiver spüren. Sie fühlt sich wieder lebendig, dabei
aber auch schuldig. Um diese Ambivalenz ging es mir.
Haben Sie diese Sandra bereits mit Léa Seydoux in Gedanken als Darstellerin
geschrieben?
Das habe ich tatsächlich. Es half mir nicht nur, die Figur zum Leben zu
erwecken, sondern gab mir überhaupt erst den Mut, die Geschichte zu
erzählen. Es hätte ein sehr schmerzhafter Prozess werden können, dieses
Drehbuch zu schreiben, sich diesen Emotionen auszusetzen. Ich wollte nicht
einfach nur diese Erfahrung filmisch nachstellen, sondern ihr auf den Grund
gehen, eine neue Erfahrung daraus machen. Dazu brauchte ich die Gabe einer
Schauspielerin wie Léa.
Was macht das Schreiben für Sie so schmerzhaft?
Für mich gibt es zwei Arten von Drehbüchern. Jene, die ich schreiben will.
Und die, die ich schreiben muss. Wenn ich etwas verfasse, das auf
schmerzhaften Erinnerungen in meinem Leben basiert, in diesem Fall der
Verfall meines Vaters, kehre ich damit zu diesem Moment und diesen Gefühlen
zurück, durchlebe sie auf eine Art erneut. Manchmal wäre es sicher
leichter, nicht zurückzublicken, einfach weiterzumachen. Aber das wollte
ich nicht. Ich bin wieder in das Krankenhaus, in dem er untergebracht war,
habe zum Teil in dem Zimmer gedreht, in dem er gelegen hatte. Mehrmals bin
ich in Tränen ausgebrochen. Aber ich musste es tun, um dem nachzuspüren.
Filmen ist für mich ein Suchen.
Hätten es dafür nicht etwas weniger persönlich belastete Drehorte sein
können?
Das hatte einen ganz praktischen Grund. Es war Lockdown, viele
Krankenhäuser und Pflegeheime ließen kaum Besuche zu, geschweige denn ein
fremdes Filmteam. Die Tatsache, dass mein Vater dort gewohnt hatte, öffnete
mir Türen, die sonst verschlossen geblieben wären. Und ich drehe lieber an
Orten, die mir vertraut sind. Wenn ich einen Drehort noch nicht kenne,
verbringe ich zunächst viel Zeit dort, um ihn mir zu eigen zu machen, ein
Gefühl für ihn zu bekommen. Auch das war wegen Covid unmöglich. Zu den
Krankenhäusern kehrte ich also zurück, weil ich mich dort auskannte: die
Zimmer, die Flure und jede Ecke waren mir vertraut. Ich musste mich nicht
erst einleben.
Sie sagten einmal, je präziser und spezifischer eine Geschichte erzählt
sei, desto allgemeingültiger werde sie.
Davon bin ich heute mehr denn je überzeugt. Ich habe keine Angst davor,
sehr spezifisch zu sein. Universalität ist nichts, was wir bewusst
erstreben sollten. Ich versuche, so wahrhaftig und authentisch wie möglich
zu sein. Denn je tiefer ich mich auf meine eigenen Erfahrungen einlasse und
mich damit wirklich auseinandersetze, umso glaubhafter kann ich Geschichten
erzählen, die berühren und etwas bedeuten.
Wie nah ist das Schicksal Georgs im Film an dem Ihres Vaters?
Dieser Teil des Films ist sehr nah an meinem Leben. Diese neurodegenerative
Krankheit ist grausam, ganz egal, welchen Beruf jemand hat. Aber aus meinem
subjektiven Blick hatte es eine besondere Tragik, dass mein Vater, der sein
ganz Leben geistig arbeitete, es dem Denken und der Lektüre gewidmet hatte,
so jung davon betroffen war. Vor allem in der Phase, als er noch klar genug
ist, zu begreifen, was mit ihm passiert, wie ihm das Denken langsam
entgleitet. Es war wie ein Ertrinken, vor dem ihn niemand retten konnte.
Sie zeigen diesen Verfall ohne falsche Scham. Das wäre vor einigen Jahren
noch undenkbar gewesen, ändert sich seit [1][Michael Hanekes „Liebe“]
langsam. Wie sehr hat sich unser Umgang mit Demenz und Sterben wirklich
verändert?
Zumindest das Kino scheint nun eher bereit zu sein, sich diesem Thema zu
stellen. Und es gibt ein Publikum, das nicht nur Zerstreuung sucht, sondern
sich bewusst mit dem Altwerden als Teil des Lebens auseinandersetzt. Aber
ich habe meinen Film nicht als gesellschaftspolitisches Statement gemacht,
sondern aus einem persönlichen, inneren Bedürfnis.
Sandra findet am Ende in den handschriftlichen Notizen ihres Vaters vier
Worte auf Deutsch: „An einem schönen Morgen“, die sie für den Titel seiner
nie geschriebenen Memoiren hält und die auch der Titel Ihres Films sind.
Wie entstand diese Idee?
Mein Vater verfasste zwar einige Artikel und Essays, aber er hätte ein
richtiger Autor sein können, Bücher schreiben, auch über seine
Familiengeschichte. Wegen der Umstände war ihm dieser Traum verwehrt, und
für mich fühlt es sich an, als würde ich vollenden, wozu er nicht in der
Lage war. Ohne seine Frustration, sich nicht verwirklicht zu haben, hätte
ich nicht diese Entschlossenheit, Filme zu machen. Das ist ein starkes Band
zwischen uns. Darauf spiele ich mit diesen Worten an. Ich habe sie
erfunden, alle anderen Zitate im Film, die Pascal Greggory am Ende aus den
Notizbüchern vorliest, stammen von meinem Vater.
Im Film spielen auch die Bücher von Annemarie Schwarzenbach und Klaus Mann
eine Rolle. Weil sie Ihnen wichtig sind oder weil sie Ihrem Vater am Herzen
lagen?
Auch die Bücher im Film sind die meines Vaters. Ich nutzte den Film als
Vorwand, sie aus dem Keller zu holen, wo sie eingelagert waren, und ans
Licht zu holen. Mich irritiert es, wenn ich [2][auf der Leinwand
Fake-Bibliotheken mit Buchattrappen] sehe. Als Lehrertochter fällt mir das
sofort auf. Meine Figuren sollen mit echten Büchern leben. Und was
Annemarie Schwarzenbach angeht: Sie ist mir eine Herzensangelegenheit.
Inwiefern?
Ich beende gerade ein erstes Drehbuch für eine Miniserie über ihr Leben.
Sie war Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin, mit Erika und Klaus
Mann befreundet, reiste um die Welt, immer auf der Suche. Es gibt dieses
schöne deutsche Wort „Sehnsucht“, die hatte sie und die kenne ich auch aus
meiner Familiengeschichte. Auf den Spuren ihrer europäischen Melancholie
erkunde ich meine eigene.
Wenn Filmen für Sie Suchen ist, was haben Sie diesmal dabei gefunden?
Schwer zu sagen, weil Leben und Film bei mir so verzahnt sind. Ich weiß,
wie das Leben meine Filme beeinflusst, aber umgekehrt? „An einem schönen
Morgen“ half mir sicher, den Tod meines Vaters zu verarbeiten. Es war wie
ein langes Abschiednehmen. Ich habe dadurch Trost gefunden. Für mich und
hoffentlich für andere. Und ich habe gelernt, mich und meine Erfahrungen
besser zu verstehen. Den Film zu machen, hatte etwas Kathartisches. Aber
sobald er fertig ist, muss ich ihn ziehen lassen, er gehört mir nicht mehr.
8 Dec 2022
## LINKS
[1] /Neuer-Haneke-Film-Liebe/!5083782
[2] /Regisseur-Gaspar-Noes-Film-Vortex/!5847342
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Spielfilm
Abschied
Pflege
Altern
Schwerpunkt Coronavirus
Spielfilm
Philosophie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regisseur Gaspar Noés Film „Vortex“: „Das Alter ist ein Kampf“
„Vortex“ ist ein Film über das Sterben. Der Regisseur spricht über
Endlichkeit, Arbeiten im Lockdown und Horrormeister Dario Argento als
Schauspieler.
Elegante Hommage an Ingmar Bergman: Ein Sommer auf der Insel
In ihrem Spielfilm „Bergman Island“ lässt Mia Hansen-Løve schöne Menschen
schöne Dinge tun. Und das auch noch im umwerfenden Schweden.
Mia Hansen-Løves „Alles was kommt“: Zurück bleibt die Katze Pandora
Ihr Leben ist die Theorie: Im Film „Alles was kommt“ spielt Isabelle
Huppert eine Philosophielehrerin, der ihr Selbstbild abhanden kommt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.