Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Mia Hansen-Løves „Alles was kommt“: Zurück bleibt die Katze P…
> Ihr Leben ist die Theorie: Im Film „Alles was kommt“ spielt Isabelle
> Huppert eine Philosophielehrerin, der ihr Selbstbild abhanden kommt.
Bild: Trost in der Philosophie: Nathalie (Isabelle Huppert) in „Alles was kom…
Vor zwei Jahren, als Mia Hansen-Løves Film „Eden“ in die Kinos kam, hatte
ich die Möglichkeit, mit ihr ein Telefonat zu führen. Das Vorhaben verlief
nicht unproblematisch. Erst wollte es mit der Verbindung nicht klappen,
dann verschwand Hansen-Løve für gute zehn Minuten aus dem Gespräch. Jene
Minuten, die tatsächlich stattfinden konnten, waren freundlich und
informativ, aber auch etwas konfus.
Im „Eden“-Telefonat berichtete Hansen-Løve davon, wie die gesamte Crew zur
Drehvorbereitung French-Touch-Platten gehört hatte, Bücher zur Clubkultur
las und im Nachtleben recherchierte. Wie könnten die Voruntersuchungen zu
„Alles was kommt“(L’avenir) ausgesehen haben? Also die, die möglicherwei…
gerade stattfanden, als ich nach Paris telefonierte?
Hansen-Løve hat sich für ihre letzten drei Filme immer eine thematische
Plattform gesucht, die ihren Hauptprotagonisten zur mehr oder minder
tragfähigen Fläche gereichten. In „Eine Jugendliebe“ („Un amour de
jeunesse“) von 2011 war es die Architektur, welche die junge Camille (Lola
Créton) zumindest zeitweise vom Liebesschmerz, verursacht durch den
bindungsunwilligen Sullivan (Sebastian Urzendowsky), befreien konnte.
Außerdem gab es während des Studiums dieses Feldes den sehr viel älteren
und von Camilles Tiefe angetanen Dozenten Lorenz (Magne-Håvard Brekke), der
mit seiner Klasse Studienausflüge zum Bauhaus nach Dessau und ins dänische
Louisiana unternahm – eine von theoretischen Einwürfen gespickte Reise, auf
der Studentin und Lehrender zueinander fanden und man nebenbei noch etwas
über Konstruktion erfahren konnte.
Über mehrere Jahre hinweg erstreckte sich Hansen-Løves fiktive
Langzeitbeobachtung „Un amour de jeunesse“, ebenso wie ihr erster Spielfilm
„Tout est pardonné“. Und auch „Eden“ und nun„L’avenir“ stellen k…
Ausnahmen dar. Beschäftigte sich „Tout est pardonné“ mit einem
gescheiterten Schriftsteller, der obendrein den Drogen anheim gefallen war,
verblieben „Eden“ viele rauschhafte Nächte und verkaterte Tage mit DJ Paul
(Félix de Givry).
## Rousseau am Morgen
„L’avenir“ schließlich zeigt das Leerwerden eines Lebens. Es ist das von
Philosophielehrerin Nathalie Chazeaux (Isabelle Huppert). Die zu
bespielende Plattform von Mia Hansen-Løves aktuellem Film also ist die
Philosophie. Und es gibt einige Vertreter dieser Disziplin, denen
in„L’avenir“ zu begegnen ist.
So beginnt ein üblicher Morgen Nathalies mit Rousseaus Gedanken zur
Demokratie, die sie ihren Schülern zur Diskussion aufgibt. Der Klassenraum
wird zum Denkraum, in den sich Madame Chazeaux mühelos begibt.
Wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, weil sie ihn kaum je verlässt.
Die Fahrt mit der U-Bahn verbringt sie mit der französischen Übersetzung
von Hans Magnus Enzensbergers Schrift „Schreckens Männer: Versuch über den
radikalen Verlierer“, abends empfiehlt ihr der ehemalige Schüler und
jetzige Doktorand Fabien (Roman Kolinka), der außerdem Mitglied einer
anarchischen Gruppierung ist, die sich mit alternativen Lebensformen sowie
der Herstellung von Käse befasst und sich aufs Land zurückgezogen hat, ein
Werk Günther Anders’.
Nathalie Chazeauxs Leben ist die Philosophie und sie hat sich auf diesem
Gebiet immerhin so verdient gemacht, dass sie an Schulbüchern mitwirkt und
Anthologien zusammenstellt. Allerdings befindet sich das alles auf dem
absteigenden Ast. Dem Verlag sind die Bücher zu trocken und kompliziert –
kurz: nicht konkurrenzfähig genug –, Ehegatte Heinz (André Marcon) beginnt
eine Affäre und entscheidet sich gegen die Fortführung der Beziehung mit
Nathalie.
Und schließlich ist da noch Mutter Yvette (Édith Scob), die ihre Tochter
mit Telefonanrufen überhäuft, die depressiv ist, sich umbringen möchte und
weiß, dass der ehemalige Premierminister Jacques Chirac gerne Sex in
Stiefeln mochte. Als Yvette stirbt, hinterlässt sie Nathalie die schwarze
Katze Pandora. Und Nathalie verliest einige Zeilen von Blaise Pascal.
## Reicht intellektuelle Erfüllung zum Glücklichsein?
Die Verluste öffnen Nathalies geschlossenes, philosophisches System, in dem
Aktualitäten (auch politische) ausgeblendet werden, sobald sie sich real
formieren. Geschehen ist für sie nur als Lektüre greifbar. Ein Streik auf
der Straße geht sie nichts an, abgesehen davon, dass dieser den pünktlichen
Unterrichtsbeginn verhindert.
Sie selbst sagt in einem Gespräch mit Fabien, der so attraktiv ist, dass es
Nathalie unmöglich entgangen sein kann: „Mein Leben ist intellektuell
erfüllt, das reicht zum Glücklichsein.“ Mia Hansen-Løve scheint ihr dieses
Selbstbekenntnis nicht ganz abzunehmen. Sie maßt ihrer Figur aber auch
keinen Gegenvorschlag an. Was dafür spürbar ist, ist ein Vertrauen in das,
was vielleicht als so etwas wie ein Wesen benannt werden könnte. So schwamm
Camille der von Sullivan geschenkte Sommerhut in einem Moment
selbstvergessener Freude einfach davon. Und Nathalie freut sich, während
einer Autofahrt mit Fabien endlich etwas anderes zu hören als die Stimme
Dietrich Fischer-Dieskaus.
22 Aug 2016
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Philosophie
Drama
Isabelle Huppert
Spielfilm
Isabelle Huppert
Spielfilm
Dokumentarfilm
Film
Schwerpunkt Berlinale
Isabelle Huppert
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regisseurin über „An einem schönen Morgen“: „Leben und Film sind verzah…
Die Regisseurin Mia Hansen-Løve spricht über Abschied und authentisches
Erzählen in ihrem Film „An einem schönen Morgen“. Schreiben schmerzt sie
oft.
Spielfilm „Elle“ von Paul Verhoeven: Lob der komplizierten Frau
Zwischen Thriller, Horrorfilm und Farce: In „Elle“ spielt Isabelle Huppert
eine unberechenbare Frau. Sie ist dabei eine Offenbarung.
Coming of Age-Film „Sparrows“: Kindmann in erwachsenem Körper
Initiation vor harscher Landschaft: Rúnar Rúnarsson versetzt in „Sparrows“
einen Jugendlichen von Reykjavík an die Peripherie Islands.
40. Duisburger Filmwoche: Es wackelt und quasselt
Die 40. Duisburger Filmwoche stand unter der Losung „Es ist Zeit“. Dabei
ging es immer wieder um die Frage nach dem Standpunkt der Regisseure.
US-Komiker mit 83 Jahren gestorben: Gene Wilder ist tot
Der US-Schauspieler war vor allem aus Filmen des Regisseurs Mel Brooks
bekannt. Seine letzte große Rolle hatte er in „Alice im Wunderland“.
Wettbewerb der Berlinale 2016: Die Welt ist immer noch die gleiche
„L’avenir“ von Mia Hansen-Løve zeigt Isabelle Huppert als desillusionier…
Philosophielehrerin an der Schwelle zu einem neuen Leben.
Französisches Starkino: Pilgerfahrt im Death Valley
Mit dem eigenen Mythos spielen: Guillaume Nicloux schickt Isabelle Huppert
und Gérard Depardieu in „Valley of Love“ in die Wüste.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.