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# taz.de -- 40. Duisburger Filmwoche: Es wackelt und quasselt
> Die 40. Duisburger Filmwoche stand unter der Losung „Es ist Zeit“. Dabei
> ging es immer wieder um die Frage nach dem Standpunkt der Regisseure.
Bild: Authentisch oder inszeniert? Kambodschanische Reisbauern in „Mirr“.
„Jetzt habe ich meinen Bruder hergebracht“, verkündet einer der „Bursche…
in Patric Chihas „Brüder der Nacht“, der in Duisburg mit einem Preis
gewürdigt wurde. Ein Film aus Wien, genauer: aus dem Etablissement
„Rüdiger“ auf der Rüdigergasse. Hierhin scheint ein ganzer Strom junger
Männer aus Bulgarien zu sprudeln, die in der österreichischen Hauptstadt
wenn nicht ihr Glück versuchen, so doch zumindest auf der Suche nach ihrer
Jugend sind. Die meisten von ihnen: zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt,
früh verheiratet, bereits Väter kleiner Kinder.
In Wien lockt die Freiheit und das Geld. Letzteres kann im „Rüdiger“
verdient werden. Denn ins bläulich-rot ausgeleuchtete Lokal mit seinen
vielen Spiegeln kommen die Schwulen. Chiha inszeniert das stark im Stile
Rainer Werner Fassbinders, kaum würde es überraschen, erklänge plötzlich
„Frankie Teardrop“ von Suicide. Und für 40, 50, manchmal 300 Euro kann man
die Burschen haben, je nachdem.
„Es ist Zeit“, lautete das Motto der Filmwoche in diesem Jahr. Das sagt,
wer ankündigt zu gehen, wer kurz vorm Aufbruch steht. Wenn etwas passieren
soll, etwas passieren muss. Tatsächlich war eine Frage, die man sich
während dieser Woche stellen konnte, auch diese: „Wer geht wohin?“ Und vor
allem: „Weswegen?“ Denn auf den Weg gemacht haben sich viele. Nicht nur die
Burschen nach Wien.
## Mit dem Moped übers Land
In „Mirr“ von Mehdi Sahebi begibt sich Binchey, ein in Kambodscha lebender
Reisbauer und der Minderheit der Bunong zugehörig, sogar auf eine
Heldenreise. Weil die Felder der Kleinbauern Plantagen von Kautschukbäumen
weichen mussten, bangen viele Familien wie die Bincheys um ihre Existenz.
In einer Szene lässt Sahebi, der aus dem Iran stammt, seit den frühen 80ern
in der Schweiz lebt und visueller Ethnologe ist, ihn mit dem Moped übers
Land fahren, nach neuen Feldern suchen.
Dabei bemerkt er, dass es um die umliegenden Dörfer ähnlich schlecht
bestellt ist wie um seines. Binchey kehrt ohne Ausblick zurück. Dazu lässt
ihn Sahebi nachts an einer von Bränden gesäumten Straße entlangfahren. Das
sieht dramatisch aus und ist inszeniert: sowohl Sahebi als auch Chiha
arbeiten in ihren Filmen mit Arrangements, stellen nach, lassen spielen.
Dokumentarisches und seine Dehnmöglichkeiten – das sind Dinge, die während
der Filmwoche zur Verhandlung stehen. Doch in „Mirr“ wird noch eine weitere
Frage laut: die nach dem Standpunkt. Philip Scheffner, dessen Film
„Havarie“ ebenfalls zu sehen war und der wie Chiha und Sahebi mit einem
Preis geehrt wurde, äußert ein gewisses Unbehagen: zu intransparent sei ihm
der Regisseur in seiner Position, zu undeutlich.
## Authentizität des Materials
Wenn die Dorfbewohner während eines Plenums über die Dreharbeiten selbst zu
verhandeln begännen oder am Ende über die Authentizität des Materials
richten. Sahebi kann sich zu Scheffners Bemerkung verhalten – er sei eben
ein Regisseur, der diese Art Film mache.
Anders ist es bei Ulrich Seidl, der zur Vorführung seines Films „Safari“
nicht anwesend war. Auch in ihm begeben sich Menschen auf den Weg,
unternehmen eine Reise. Auch hier geht es um Zeit und um den richtigen
Zeitpunkt: nämlich den zum Abdruck. „Safari“ beobachtet gemäß der typisch
Seidl’schen „Überspitzungsanalyse“ einige deutschsprachige Paare bei der
Teilnahme an einer Großwildjagd in Namibia. Sehr aufregend geht es dort zu,
die Größe der erlegten Tiere steigert sich sukzessiv im Verlauf des Films.
Schließlich liegt eine ausgewachsene Giraffe am Boden.
Zwischendrin wechselt Seidl mit Bildern von Schwarzafrikanern, die den
Touristen nicht nur bei der Fährtensuche helfen, sondern auch fachmännisch
die geschossenen „Stücke“ zerlegen. Hin und wieder zeigt er sie beim
Zerkauen von Knorpelfleisch, was einen ziemlich eindringlichen Ton ergibt.
Das ist ein bisschen provokant und ein bisschen interessant.
## Die „Braunheit“ des Regisseurs
Filmemacher Peter Ott rechnet „Safari“ zu Seidls „dümmeren Filmen“ und
stellt die „Braunheit“ des Regisseurs zur Debatte. Medienwissenschaftlerin
Eva Hohenberger wendet sich lieber gleich an die Kommission der Filmwoche,
die anstelle Seidls die Bühne übernommen hat. Warum „Safari“ überhaupt in
Duisburg laufe und dann mit einem solch prominenten Programmplatz
(Freitagabend), möchte sie wissen.
Ein Gegenbeispiel zu Seidls „Gucktheater-Perspektiven“ ist „Paradies!
Paradies!“ von Kurdwin Ayub. Gleich zu Beginn des Films präsentiert sich
die junge Wienerin vor der Kamera, zeigt die Kleidung, die sie mit in den
Irak, nach Kurdistan nehmen wird: Selbst- statt Fremdbeobachtung. Es folgt
ein Zusammenschnitt abenteuerlicher Szenen, aufgenommen in Dohuk, der
Heimatstadt des Vaters Omar, der in Wien als Arzt tätig ist, aber unter
Heimweh leidet und eine Immobilie erstehen möchte.
Ayubs Film verströmt den Charme von Homevideos. Allerdings verlässt ihre
Kamera die Grenzen des Kinderzimmers (in dem zu „Du hast den schönsten
Arsch der Welt“ getanzt wird) und stößt bis zur Frontlinie der Peschmerga,
den kurdischen Streitkräften, vor. Freies Feld erstreckt sich da bis zum
Ort, wo der IS in ähnlicher Aufstellung Position bezogen hat. Ayubs
Erregung, zwischen Furcht und Sensation schwankend, übersetzt sich in Bild
und Ton, es wackelt und quasselt. Als „anarchisch“ lobt Festivalleiter
Werner Ruzicka diese Haltung am Abschlussabend, an dem auch Ayub
ausgezeichnet wird. Diese weilt nicht mehr in Duisburg. Sendet aber eine
SMS.
15 Nov 2016
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Dokumentarfilm
Spielfilm
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Spielfilm
Philosophie
Film noir
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Dokumentarfilm
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