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# taz.de -- Salzburger Festspiele: Die Wucht der Chorregie
> Christoph Marthaler verzappelt in Salzburg Verdis „Falstaff“. Simon Stone
> inszeniert Bohuslav Martinůs „Greek Passion“ hingegen klar.
Bild: Sebastian Kohlhepp (Manolios) und Sara Jakubiak (Katerina) in „The Gree…
Eine der prallsten Figuren der Opern-Repertoires ist der Titelheld von
[1][Giuseppe Verdis] „Falstaff“: Der genusssüchtige, übergewichtige Ritte…
der zwei Frauen die Ehe verspricht und aus Rache gleich mehrfach in die
Falle gelockt wird, gilt als Paraderolle, ist aber in Wahrheit eine
ambivalente Gestalt.
Regisseur Christoph Marthaler zweifelt daher ganz zu Recht am allzu
prallen Falstaff-Klischee und sieht ihn eher als einen melancholischen
Ritter der traurigen Gestalt, mehr Don Quijote als feister Trottel. So ist
es nur konsequent, dass sein Sir John Falstaff, der kanadische Bass-Bariton
Gerald Finley, den umzuschnallenden Bauch kategorisch ablehnt. Aus dieser
verfremdenden Distanz zum Falstaff-Klischee könnte eine erhellende Deutung
entstehen, aber Marthaler vertraut dieser Einsicht nicht, sondern baut
einen Wust aus Metaebenen auf, die er an einer weiteren Idee aufhängt: Der
große Orson Welles hatte eine Schwäche für die Figur des schwergewichtigen
Liebesritters und hat ihn auch selbst in einem Film verkörpert.
Für Marthaler ein Anlass, die Handlung [2][bei den Salzburg Festspielen] in
ein Filmset zu verlegen und einen bis zum Schluss stummen
Orson-Welles-Lookalike als Regisseur (Marc Bodnar) über die Bühne tappen
zu lassen. Anna Viebrock hat im Großen Festspielhaus ein dreiteiliges
Bühnenbild geschaffen, links ein Filmvorführraum, mittig ein trister
Kulissenraum, rechts ein Pool ohne Wasser.
Das Personal hat Viebrock in Kostüme der 1970er Jahre gesteckt,
Schlaghosen, Karo-Röcke, spießige Seidenblusen mit Schluppenkragen,
Vokuhilas und fiese Bärte sollen für Lächerlichkeit sorgen, leider hat der
Effekt sich inzwischen doch ein wenig abgenutzt. Der stumme Orson Welles
ist zunächst äußerst präsent, stets mit Zigarre und Whiskeyglas bewaffnet,
scheucht er Statisten und die Filmcrew umher, schlurft aber immer wieder
zurück zum Regiestuhl, in dem er dann apathisch versinkt. Mit der Zeit
scheint er mit der Figur Falstaffs mehr und mehr zu verschmelzen, gegen
Ende spielt er kaum mehr eine Rolle, dann sitzt plötzlich Alice Ford (Elena
Stikhina) im Regiestuhl, doch ganz am Schluss schlurft Welles nochmal in
Falstaff-Ritterrüstung über die Bühne.
Permanent wird Slapstick gezündet
Da hat man aber schon längst das Interesse an der Figur und der Regieidee
verloren, an die Marthaler offenbar selbst nicht mehr glaubte, sonst hätte
er sie konsequenter durchdekliniert. So aber verzappelt die Handlung in
einem Wust an kleinteiliger Aktion, dauernd verpasst man etwas, weil
permanent parallel Slapsticks gezündet werden. Immer wieder purzeln
Assistenten in den leeren Pool, ein Menschenknäuel kugelt umher und
natürlich gibt es auch einige Marthaler-Klassiker: Menschen, die es nicht
schaffen, ein Kleidungsstück anzuziehen, Menschen, die sich hoffnungslos in
Liegestühlen einklemmen.
Aber es wird nicht gelacht im Festspielhaus, zäh schleppt sich das
Geschehen fort, nach der Pause ist endgültig die Luft raus. Zumal auch die
musikalische Seite des Abends flau bleibt: Unter Ingo Metzmachers betont
ausgenüchterten, wenig Italianità versprühendem Dirigat klingen die Wiener
Philharmoniker ungewohnt strohig und unsinnlich.
Gerald Finley lässt sich als indisponiert ansagen, singt daher gebremst,
hat seine Interpretation aber ohnehin sehr oratorisch-nobel angelegt, ein
Verdi-Gesang mit Schubert-Legato, Simon Keenlyside muss als Ford einen
lächerlichen Nerd geben und wirkt stimmlich bemüht, Elena Stikhina singt
eine blitzsaubere Alice Ford, Tanja Ariana Baumgartner drückt arg auf die
Tube als Mrs Quickley, Bogdan Volkov ist ein strahlender Fenton, Giula
Semenzato lässt mit seraphischen Piani als Nanetta aufhorchen. Freundlicher
Applaus fürs Musikalische, Buhgewitter für die Regie.
Archaische Gesänge zu Ostern
Tags darauf ein Kontrastprogramm: Die riesige, 40 Meter breite Bühne der
Felsenreitschule ist komplett in hellem Grau ausgeschlagen (Bühne: Lizzie
Clachan), nur der obere Arkadengang bleibt offen. In diesem weiten, doch
klaustrophobisch abgeschlossenen Raum sind zwei kleine Abgänge wie
Mauselöcher seitlich eingelassen. Am Anfang regnet es weiße
Papierschnitzel, dann kommt von links eine Gruppe grau gewandeter Menschen
hereingezogen. Es sind die Bewohner eines griechischen Dorfes, die mit
archaischen Gesängen Ostern feiern. Der Priester Grigoris teilt ihnen mit,
wer von ihnen beim Passionsspiel für welche Rolle ausgewählt wurde.
Dann kommt von rechts eine weitere Gruppe herein, heutige Flüchtlinge mit
Zelten, Plastiktaschen und Schwimmwesten. Sie bitten um Asyl, doch der
Priester bleibt abweisend. Als ein Mädchen tot zusammenbricht, behauptet
er, sie sei an Cholera gestorben. Die Dorfgemeinschaft ist nun einig in der
Ablehnung, aber mit Ausnahme jener, denen Rollen im Passionsspiel
anvertraut wurden und die sich zunehmend mit diesen identifizieren, am
stärksten der Hirte Manolios, der Christus spielen soll. Er lädt die
Flüchtlinge ein, sich auf einem Berg anzusiedeln. Am Ende von Bohuslav
Martinůs „Greek Passion“ siegt eine fatale Eigendynamik, Manolios wird von
den Dorfbewohnern umgebracht, die Flüchtlinge ziehen weiter.
Martinůs posthum 1961 uraufgeführte Oper bildet keine psychologisch
ausgefeilten Charaktere aus, sondern arbeitet mit holzschnittartigen Typen,
sie ist mehr eine oratorische Parabel als dramatische Oper. Und kann leicht
in Betroffenheits-Kitsch kippen. Doch [3][Simon Stone] hütet sich –
abgesehen von den Schwimmwesten – vor plakativer Aktualisierung. Er belässt
das Geschehen im abstrakten Raum, findet einfache, aber starke Bilder wie
etwa eine glitzernde Wasserwand und setzt ganz auf die Wucht der minutiösen
Chorregie. Drei sich abseilende Maler schreiben schließlich „Refugees out!“
an die Wand, da ist aber längst klar, dass das Ende fatal sein wird.
Maxime Pascal meistert am Pult der Wiener Philharmoniker Martinůs
hochkomplexe Partitur souverän und mit sensiblem Sinn für ihre harschen
Brüche. Das Orchester klingt nun ungleich aufgeweckter, klangschön, zeigt
herrliche Soli – das Englischhorn! – und auch das Sängerensemble ist famos:
Gábor Bretz gibt dem Priester Grigoris versteinerte Härte mit sonorem Bass,
Sebastian Kohlhepp ist ein tenorstrahlender Manolios, Sara Jakubiak eine
lodernde Katerina mit Mezzo-Farben, Christina Gansch eine anrührende Lenio
mit schimmerndem Sopran, großartig die Chöre, perfekt gebündelt von Maxime
Pascal. Großer Jubel für alle Beteiligten, der bislang größte Erfolg dieses
Festspieljahrgangs.
14 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Regine Müller
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