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# taz.de -- Staatsoper Hamburg: Die Dämonen der Vergangenheit
> In Hamburg wurde die Spielzeit mit Mussorgskys „Boris Godunow“ eröffnet.
> Die Inszenierung von Frank Castorf war pandemiebedingt verschoben werden.
Bild: Alexander Tsymbalyuk, Olivia Boen und Renate Spingler in Frank Castorfs �…
Keine Buhs für Frank Castorf. Im Gegenteil: auch dem Regisseur und seinem
Team schlug nach der coronabedingt verspäteten Premiere von Modest
Mussorgskys „Boris Godunow“ in Hamburg allgemeine Zustimmung entgegen. Es
ist vor allem sein Bühnenbildner Alexandar Denić, der [1][dem
Regie-Altmeister] mit der Revoluzzer-Attitüde Bühnenwelten erfindet, die
nicht nur Assoziationsräume öffnen, sondern auch der szenischen Fantasie
Castorfs einen Rahmen vorgeben.
Castorf erzählt im Falle seines Godunow textbrav die Geschichte in der
Urfassung von 1868, schlägt aber einen Bogen aus der Anfangszeit der
Zarenherrschaft bis in die postsowjetische Gegenwart. Dabei ist er klug
genug, aus Godunow kein Putin-Alter-Ego zu machen. Dass der Chronist Pimen
im Habitus Stalins vor dem Zaren erscheint, reicht aus. „Ukraine“ taucht
als Vokabel nur einmal auf, wenn der Mönch in seiner Chronik blättert und
dabei auch eine Seite der ukrainischen Prawda ins live gefilmte Video
gerät.
Da die Fassung ohne den sogenannten Polenakt gespielt wird, werden die
Aktivitäten des falschen Zarewitsch (den richtigen hatte Godunow zumindest
in der Oper aus dem Weg räumen lassen) nur als stummes Video hinzugefügt.
Es ist vor allem eine schauspielerische Herausforderung für Dovlet
Nurgeldiyev, den abgedrehten Dimitrij zu spielen – zu hören ist er nur bei
seiner Flucht aus Russland als abtrünniger Mönch Grigorij.
Die kongeniale Bühnenwelt von Denić fasziniert damit, wie sie Geschichte
und nahe Gegenwart in eins zu denken vermag und damit die Zarenherrschaft
bis in die autokratische russische Gegenwart führt, die auch ein Ergebnis
jener Sowjetjahrzehnte ist, die ihre Stalin’sche Prägung nie wirklich zu
überwinden vermochten. Es hat Witz, wie Denić die Lenin-Losung
„Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes“ in
seine Bühne einfügt.
Stalinistischer Neobarock
Die Leitungen eines riesigen Strommastes führen direkt zu einer Fassade im
stalinistischen Neobarock mit Sowjetemblem. Die berühmte, monumentale
Mucha-Skulptur des Arbeiters und der Kolchosbäuerin gibt es ebenso wie eine
Stalinbüste oder die Kinderzeichnung, die einen Kosmonauten zeigt, der über
der Losung „Gott gibt es nicht“ schwebt. Die Rückseite des
Drehbühnenkonstrukts ist die Andeutung eines U-Bootes, auf dem der
Jahreszahl des russischen Revolutionsjahres 1917 die erste Ziffer
abhandengekommen ist. Vor die Zeugen der Sowjetjahrzehnte haben sich eine
orthodoxe Kirche und die Insignien von deren Prachtentfaltung geschoben.
Dass die [2][Volks-Chormassen] meist nur als Tableau an der Rampe stehen,
zeigt deren Manipulierbarkeit besser als entfesseltes Gewusel. Abgesehen
davon kommt hier die geradezu hemmungslose Kostümopulenz von Adriana Braga
Peretzki zur Geltung. Selbst die Amme im Billardsalon des Zaren trägt einen
goldenen Kopfschmuck. Dessen Uniform erinnert an den letzten regierenden
Romanow, so wie der Priester, der sich Löcher in die Zeitung reißt, um die
Intrigen zu beobachten, auf diverse Geheimdienstklischees anspielt.
Ansonsten sind die Jahrhunderte gemischt und die Bewaffnung mit
Kalaschnikows sozusagen rückdatiert. Am Ende ist der Zar im Kreml tot und
draußen ersetzt eine Coca-Cola-Skulptur auf einer Louis-Vitton-Kiste die
Hammer-und-Sichel-Symbolik. Vorerst jedenfalls.
An der Spitze des fabelhaften Protagonistenensembles gelingt Alexander
Tymbalyuk das differenzierte Porträt eines Machthabers, der am Ende
kläglich scheitert. Matthias Klink ist ein fabelhaft intriganter Fürst
Schuiskij. Musikalisch ist die Produktion insgesamt ein Volltreffer. Kent
Nagano findet einen nicht lärmenden, aber machtvollen Zugang, betont mit
der Hamburgischen Philharmonie das sinnlich Atmosphärische mehr als das
Raue der Urfassung. Vor allem dieser musikalische Sog sorgt durchgängig für
Spannung in den zwei pausenlosen Stunden. Die Denić-Bühnenwelt sowieso.
18 Sep 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Joachim Lange
## TAGS
Oper
Bühne
Frank Castorf
Hamburg
Schwerpunkt AfD
Weimar
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