# taz.de -- Probenbesuch am Hamburger Schauspielhaus: Die Tyrannei des Weglasse… | |
> Christoph Marthaler interpretiert am Hamburger Schauspielhaus Gedichte | |
> von Emily Dickinson. Ein Besuch bei einer Probe voller Ruhe und | |
> Heiterkeit. | |
Bild: Marthaler-Vertraute: Sasha Rau, Fee Aviv Dubois, Josephine Israel und Mag… | |
Die Andeutung eines Bahnhofs steht da im Malersaal, der kleinen Spielstätte | |
des Hamburger Schauspielhauses. In den hinteren Ecken kleben zwei | |
graublasse Bahnwärterhäuschen. An den Seitenwänden: ein paar Mülleimer, ein | |
Klavier und ein Keyboard – in der Mitte eine Wartebank. | |
Eigentlich ist es ein unwirtlicher Ort, den der Bühnenbildner Duri Bischoff | |
entworfen hat. Doch so, wie ihn das Ensemble rund um Christoph Marthaler | |
bespielt, wirkt er fast behaglich. So voller Ruhe und Heiterkeit ist diese | |
Probe zu „Im Namen der Brise – mit Texten von [1][Emily Dickinson]“. Die | |
Premiere ist am 14. Oktober. | |
Gerade einmal sieben von Dickinsons insgesamt mehr als 1.700 Gedichten | |
wurden zu ihren Lebzeiten (1830–1886) veröffentlicht. Und auch nach dem Tod | |
der US-amerikanischen Dichterin konnte nur durch Zufall verhindert werden, | |
dass ihr Nachlass verbrannt wurde. In ihrer Lyrik verwandelte sie die | |
Ausschnitte der Welt, die die zurückgezogen lebende Dichterin aus den | |
Fenstern ihres Hauses in Amherst, Massachusetts, beobachtete, in | |
einzigartige Literatur. | |
Diese Gedichte auf der Bühne zu interpretieren sei „schwierig und fast | |
nicht möglich“, sagt Marthaler. Er versucht es doch, und knüpft mit „Im | |
Namen der Brise“ an seinen Hölderlin-Abend [2][„Die Sorglosschlafenden, die | |
Frischaufgeblühten“] (2021) an. | |
„Im Nachhinein ist es vermutlich gar nicht so zufällig oder intuitiv, dass | |
Dickinson auf Hölderlin folgt“, stellt der Dramaturg Malte Beckenbach fest, | |
tatsächlich bahne sich in diesen Arbeiten „eine Trilogie über die | |
Zurückgezogenen“ an, „über die Zimmer- und Turmbewohner, die sich von der | |
Welt abschließen. Und die durch Sprache und Poesie eine ganz eigene Welt | |
erfinden.“ | |
Was für eine Welt wird [3][Christoph Marthaler] für Dickinsons Texte | |
erfinden? Wie probt jener Schweizer Regisseur, der berühmt ist für | |
Inszenierungen voll introvertierter Melancholiker? Die geprägt sind von | |
leiser Komik, hartnäckigen Slapsticks und skurriler Präzision? Jener | |
Theatermacher, der in seinen Arbeiten immer wieder geduldig der Zeit beim | |
Vergehen zusieht. Und der – spätestens seit seiner Erfolgsinszenierung | |
[4][„Murx den Europäer!“] (1993) an der Berliner Volksbühne – bekannt i… | |
für hoch musikalische Abende gemeinsam schweigender und gemeinsam singender | |
Schicksalsgemeinschaften? | |
Im Malersaal verliert sich eine Gruppe im Raum, einer spricht einen Vers, | |
eine andere liest einen Dickinson-Brief, ein Dritter zerknüllt ein Stück | |
Papier. Zwischendrin setzt sich die Lüftung in Betrieb, spielt Bendix | |
Dethleffsen Klavier. Marthaler sitzt irgendwo am Rand, macht sich Notizen, | |
beobachtet das Spiel auf der Bühne und den Propeller in der Lüftung. Er | |
sieht scheinbar den Szenen beim Entstehen zu. Und hat sie in einem früheren | |
Probenstadium doch selbst gebaut? | |
Nie würde er diesen Vorgang für sich in Anspruch nehmen. „Es ist eine | |
Arbeit, die wirklich gemeinsam entsteht. Das sind Gärprozesse, die | |
gemeinsam stattfinden, und auf dem Gebiet sind wir nun wirklich schon | |
geübt. Das ist absolut wesentlich für diese Produktion“, betont er und fügt | |
hinzu: „Ich muss gestehen, mit den Menschen, mit denen wir das hier machen, | |
ist es traumhaft. Ich könnte so ein Projekt nicht mit jedem Ensemble | |
machen.“ | |
Das Ensemble, das sind Magne Håvard Brekke, Bendix Dethleffsen, Fee Aviv | |
Dubois, Josefine Israel, Sasha Rau und Samuel Weiss. Alles lange und | |
mittellange Marthaler-Vertraute. | |
Als schön und anstrengend beschreiben die Spieler*innen die Proben. „Es | |
ist ein sehr musikalischer Prozess, der sehr viel Konzentration erfordert, | |
es ist ein ständiges Zusammenfügen und gemeinsames Erfinden“, fasst Sasha | |
Rau zusammen. | |
Und Samuel Weiss charakterisiert den Regisseur liebevoll als „Tyrann des | |
Weglassens“. Damit konterkariere dieser aufs Angenehmste seine eigene | |
Darstellungsneurose. „Wenn ich nicht alle zwei Minuten irgendetwas mache, | |
was nicht auf eine Pointe zuläuft, denke ich sofort, das merkt jetzt jemand | |
im Zuschauerraum und wird mich erschießen. Diese Angst habe ich jahrelang | |
gehabt. Bei Christoph Marthaler lernt man, dass man nicht erschossen wird. | |
Das ist das Schöne, und das Beruhigende.“ | |
## Kindlichen Freude am Skurrilen | |
Während der Probe steigt der Regisseur höchst persönlich in einen | |
Mülleimer, um eine Position nachzuempfinden, da werden Zuggeräusche | |
abgespielt und mögliche Timings besprochen. All dies geschieht mit einer | |
fast kindlichen Freude am Skurrilen und zugleich mit hoher Konzentration. | |
Höflich und zurückhaltend begegnet Marthaler allen Mitwirkenden. Er bewegt | |
sich behutsam, scherzt halblaut, irgendwann verschwindet er kurz. Seine | |
heitere Ruhe, die den Raum längst erfüllt hat, bleibt. | |
Später, auf meinem Nachhauseweg, hält der Bus unvermittelt auf offener | |
Strecke. Am Rand jener sechsspurigen Straße, die ostwestwärts durch Hamburg | |
führt. Der Fahrer steigt aus und murmelt – es ist mehr eine Kopfbewegung | |
als ein Halbsatz – etwas von einem Unfall. | |
Was für ein Unfall? Zwischen Irritation und Inszenierung stecke ich fest | |
auf einer abgebrochenen Reise. Fahrgäste suchen mit ratlosen Blicken nach | |
Halt oder einer Erklärung, die ausbleibt. Einen Augenblick lang durchströmt | |
eine sanft ironische Marthaler-Melancholie diesen Stadtbus. Dann mit einem | |
zischenden Geräusch, fast so musikalisch wie das Rauschen einer Lüftung, | |
öffnen sich die Türen. In Richtung Dauerregen. | |
13 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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