# taz.de -- Queerer Chor erobert Wien: Fetisch statt Frack | |
> Der Wiener Schmusechor ist queer, stimmgewaltig und poppig. In der | |
> Klassikstadt ist er eine willkommene Alternative zu den spießigen | |
> Pendants. | |
Bild: Wer hier mitmachen will, muss Lust auf schrille Kleidung und Make-up habe… | |
WIEN taz | Zuerst steht eine Krähe, dann ein Schwan am Pult. Die Arme | |
flattern, fliegen nach oben und zur Seite, zwischendurch heben auch die | |
Füße vom Boden ab. Begleitet werden sie von [1][einem Chor] an Stimmen. Sie | |
schwellen an, wenn die Arme unsichtbare Bögen zeichnen, und ab, wenn sie | |
sich wie kleine Wellen durch die Luft bewegen. Applaus löst den Gesang ab | |
und der Schwan verwandelt sich. Er dreht sich um und wird zu Verena | |
Giesinger, Dirigentin im weißen Federcape und Leiterin des Schmusechors. | |
Schmusechor, das ist das, was passiert, wenn „Sister Act“ auf Opernball und | |
[2][Queerfeminismus] trifft. Einem größeren Publikum bekannt wurde die | |
Gruppe durch Youtube-Videos, in denen die Sänger:innen Songs performen. | |
Sie tragen für Chorensembles nicht gerade übliche Outfits. | |
Den italienischen Popschlager „Parole Parole“ singen sie mit Grünpflanzen | |
auf dem Kopf, „My future“ von Billie Eilish in fancy Outfits und | |
Fetishwear. | |
Auf Youtube wurde die ausgebildete Musiktherapeutin Verena Giesinger einst | |
vom Berliner Kneipenchor inspiriert: „Als ich die Videos gesehen habe, habe | |
ich verstanden, dass Chöre nicht nur ‚Ave Maria‘ oder Mozart singen könne… | |
Sondern auch [3][grandiose Popmusik].“ | |
## Karten nach 1 Minute ausverkauft | |
Also gründete sie den Schmusechor, der dieses Jahr zehnjähriges Jubiläum | |
feiert. Inzwischen hat er fast fünfzig Mitglieder, wird für alle möglichen | |
Kulturveranstaltungen gebucht und kollaboriert mit bekannten | |
Musiker:innen aus der Wiener Szene wie „Oehl“ und „Hearts Hearts“. | |
Die Karten für das letzte Konzert waren nach einer Minute ausverkauft, die | |
je nach Zahlbereitschaft zwischen 10 und 35 Euro kosteten. Extravagante | |
Outfits hin oder her. Dafür, dass es über 3.900 offiziell registrierte | |
Chöre in Österreich gibt, darunter auch Dutzende Popchöre, ist der Hype um | |
diesen groß. Was steckt dahinter? | |
Ein Teil der Antwort findet sich auf einem Baustellengitter in der Wiener | |
Innenstadt, ein paar Meter entfernt vom Universitätsgebäude. Wer dort in | |
die Straßenbahn steigt, fährt an Dirigentin Verena Giesinger vorbei. Auf | |
einer Reihe von Plakaten steht sie mit erhobenen Händen, so als würde sie | |
Geister beschwören oder „Stopp! Hierhin und nicht weiter“ sagen. | |
„Schmusechor“ steht über ihr, darunter „Neujahrskonzert“. Es ist eine | |
Werbung und zugleich eine Ansage. | |
„Neujahrskonzert“ ist in Österreich eigentlich ein Begriff für den Auftri… | |
der Wiener Philharmoniker, der am Morgen des 1. Januars in die ganze, | |
zumindest halbe Welt übertragen wird. Weil sich die internationalen | |
Scheinwerfer selten länger als für diese paar Stunden auf Österreich | |
richten, ist dieser Auftritt dort eine große Sache. | |
Dass das Gesicht, welches das Land an diesen Tagen der Welt zeigt, weiß und | |
männlich ist, hat ebenfalls Tradition. Weil sich an der wohl so schnell | |
nichts ändern wird (der Dirigent 2025 wird der 82-jährige Italiener | |
Riccardo Muti sein), beschloss Giesinger vergangenen Februar, die Sache | |
selbst in die Hand zu nehmen und dieses Jahr einen Gegenentwurf zum | |
Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zu veranstalten. Ganz nach dem | |
Motto „Parole!“ Das Schmusechor-Neujahrskonzert sollte nicht nur | |
Gesangserlebnis, sondern auch ein feministischer Akt sein. | |
„Alle sind feministisch, viele sind queer“, sagt Giesinger über die | |
Chormitglieder. „Wir wollen uns empowern mit unseren Kostümen. Sobald wir | |
hineinschlüpfen, passiert etwas mit dem Schmusechor, das ist gar nicht in | |
Worte zu fassen.“ Dafür können sich auch Personen begeistern, die mit | |
Gruppengesang bisher nicht viel anfangen konnten. | |
## „Cunt“ statt Walzer | |
Zumindest würde man die rund 550 Zuschauer:innen, die beim Neujahrskonzert | |
am 5. und 6. Januar zu großem Teil die Wiener Veranstaltungsstätte WUK | |
füllen, eher auf dem Konzert einer Indieband als auf dem eines Chors | |
vermuten. | |
20.05 Uhr, die Schlange an der Garderobe reicht bis in den Konzertsaal. Aus | |
den Lautsprechern schallt der Donauwalzer, der im österreichischen Radio | |
üblicherweise Neujahr einläutet, die Sänger:innen treten im Frack auf | |
die Bühne. Sie tanzen Walzer und mimen Ballettfiguren, bis die klassische | |
Musik verzerrt und vom Song „I’m giving you cunt“ abgelöst wird, dazu ei… | |
Gruppenchoreo. Die Message: das eben war von vorgestern. | |
Von gestern und heute sind die Songs, die sie anschließend performen, unter | |
anderem von Radiohead und Miley Cyrus. Mal rücken einzelne Chormitglieder | |
mit Solo-Acts ins Rampenlicht, dann wieder alle. Am Rande wird gebeatboxet, | |
Schlagzeug gespielt, eine Rapperin tritt auf. | |
Als die Sänger:innen nach einem Kostümwechsel in Ballkleidern und | |
Anzügen auf die Bühne laufen, jubelt das Publikum. Einerseits, weil die | |
Outfits zwischen goldenen Zwanzigern und viktorianischem Prunk alle | |
Register des Glamours abdecken. Andererseits vielleicht auch, weil die | |
Outfits, ob gewollt oder ungewollt, ein politisches Statement sind. | |
Immerhin reichte vor ein paar Jahren schon der rote Lippenstift, den die | |
Ensemblemitglieder (auch die männlich gelesenen) trugen, um in | |
Kommentarforen für Empörung zu sorgen. Kein Grund für den Schmusechor, den | |
Lippenstift wegzulassen – im Gegenteil. | |
Bei einem Casting letzten Sommer gab es neben einer musikalischen Station, | |
bei der die Bewerber:innen gemeinsam mit den Chormitgliedern sangen und | |
einer Social-Station für das Stellen von Fragen auch eine Kostüm- und | |
Schminkstation. | |
## Werte-Gemeinschaft | |
Wer aufgenommen werden sollte und wer nicht, diskutierten die | |
Schmusechor-Mitglieder bei einem mehrtägigen Aufenthalt am Land aus. Wer | |
hat Lust, sich mit Kleidung und Make-up spielerisch auszudrücken, vertritt | |
dieselben Werte, hat genug Zeit und passt stimmtechnisch in den Chor? | |
Alles Fragen, die wichtig waren für die Auswahl von rund zwanzig Personen | |
aus über hundert. Das war ziemlich viel, denn der Chor zählte danach | |
doppelt so viele Mitglieder. Nach vielen Jahren im selben Kernteam sollte | |
er ähnlich wie ein Kleinunternehmen wachsen und mehr Auftritte annehmen. | |
Mitunter teilen sich die Chormitglieder diese auf. | |
Lavinia Lanner ist seit 2017 dabei. Wenn sie vom Chor spricht, öffnet sich | |
ein Tor zu einer Parallelwelt. Sie spricht vom „anderen Leben“, das Leben, | |
in dem die Chormitglieder einen Beruf ausüben, Familie oder andere Dinge | |
haben, mit denen sie Zeit verbringen. In ihrem anderen Leben ist Lanner | |
bildende Künstlerin. | |
Studiert hat sie Kunst, weil sie die Musik durch ihre Kindheit begleitet | |
hat, hätte sie die Sehnsucht zu singen vor ein paar Jahren eingeholt. Als | |
Selbstständige lässt sich der Chor mit ihrem Alltag vereinbaren. Andere, | |
die früher Vollzeit gearbeitet haben, hätten ihren Job inzwischen | |
gekündigt, auch wenn das Singen im Chor unbezahlt ist. „Uns fällt manchmal | |
nach Jahren auf, dass wir gar nicht wissen, was die andere Person beruflich | |
macht“, sagt Lanner. „Es ist eine große Freiheit, nicht darüber definiert | |
zu werden.“ | |
Neujahrskonzert, zweiter Akt: „Uuuh.“ Die Chormitglieder stehen an der | |
Schwelle zur Melancholie und schaukeln Oberkörper und Hände, bevor sie ihre | |
Münder weiten und ein enthusiastisches „Aaah“ formen. Schließlich wandelt | |
eine der Sänger:innen die Laute um in das italienische Lied „Parole | |
parole“. | |
Im Saal kommt Urlaubsstimmung auf. Italien ist in Österreich immerhin nicht | |
nur die Grenze im Süden, sondern auch die Grenze, die man passieren muss, | |
damit es sich nach Ferien anfühlt. | |
Draußen regnet es, immer wieder geht die Tür des Konzertsaals auf und kalte | |
Luft zieht herein. Im Saal ist trotzdem Sommer oder zumindest die Ahnung | |
davon, wie er sich anfühlen wird. | |
Für Momente wie diesen haben die Chormitglieder mehrere Monate geprobt, | |
nach Silvester jeden Tag von Mittag bis spätabends. Bei der Feedbackrunde | |
nach dem ersten Konzertabend gehen die Mitglieder Lied für Lied durch, | |
besprechen Fehler und machen Verbesserungsvorschläge, eine Person schreibt | |
am Laptop mit. | |
## Faire Feedbackkultur | |
Es ist wie in einer Konferenz, nur dass die Sänger:innen im | |
Schneidersitz am Boden hocken, zwischendurch Bananen schälen und | |
Pausenbrote auspacken. Im Schmusechor geht es so professionell zu, dass | |
sogar das harmonische Beisammensein „trainiert“ wurde. | |
Im vergangenen Jahr hatte der Chor eine zweitägige Klausur mit einer | |
Supervisorin, bei der auch unangenehme Themen angesprochen wurde – wie in | |
jedem Unternehmen, kann es auch im Chor Konkurrenz geben. „Es gibt welche, | |
die wahnsinnig gerne Solos singen würden und noch keines bekommen haben“, | |
sagt Giesinger. | |
Sie wählt aus, wer die Solos bekommt, nicht alle hätten ihre Entscheidungen | |
aber nachvollziehen können. Seit der Klausur gibt es deswegen eine | |
Sänger:innenvertretung und die Gruppe „Feedbackkultur“. | |
Zweieinhalb Stunden nach Konzertbeginn packt den Chor der Trotz. Die | |
Streicher:innen haben die Bühne verlassen, eine E-Gitarristin im roten | |
Tüllkleid zupft die Seiten an. Auch die restlichen Hände im Saal kommen zum | |
Einsatz, am Parkett wird geklatscht, auf der Bühne geschnipst. Aus einem | |
„Uuuh“ formen die Sänger:innen ein „Su“ und daraus „Su-Su-Su-Su-Suck… | |
on my titties“. | |
Wieder bewegt sich das Publikum unisono, nicht mit den Händen, sondern den | |
Stimmen und johlt passend dazu „Wuhuuuh“. | |
„Fuck the Pain Away“ der Sängerin Peaches ist das Highlight. Als der Chor | |
nach drei Stunden inklusive einer Zugabe die Bühne verlässt, ist es | |
Mitternacht und das Publikum tanzt – zwar nicht Walzer, aber das ist ja | |
auch kein Muss. Zumindest nicht auf diesem Neujahrskonzert. | |
18 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Chorstueck-mit-ukrainischen-Frauen/!5967140 | |
[2] /Entertainerin-Denice-Bourbon/!5907489 | |
[3] /Taylor-Swift-ist-Person-of-the-Year/!5978550 | |
## AUTOREN | |
Lara Ritter | |
## TAGS | |
Chor | |
Wien | |
Popmusik | |
Queer | |
Taylor Swift | |
Oper | |
Queer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Taylor Swift ist Person of the Year: Popstar mit Macht | |
Das Magazin „Time“ ehrt dieses Jahr Sängerin Taylor Swift. Die Begründung | |
scheint übertrieben, aber immerhin nutzt Swift ihre Macht | |
verantwortungsvoll. | |
Salzburger Festspiele: Die Wucht der Chorregie | |
Christoph Marthaler verzappelt in Salzburg Verdis „Falstaff“. Simon Stone | |
inszeniert Bohuslav Martinůs „Greek Passion“ hingegen klar. | |
Entertainerin Denice Bourbon: Wie ein knallender Korken | |
Denice Bourbon ist lesbisch und lustig. Die Schwedin lebt in Wien und | |
bringt Glamour und Euphorie in eine chronisch schlecht gelaunte Stadt. |