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# taz.de -- Theater „Ajax und der Schwan der Scham“: Der blutige Tanz der e…
> Christopher Rüping widmet sich am Hamburger Thalia Theater dem antiken
> Ajax-Mythos. Er verknüpft ihn mit Fragen nach Leistungsdruck und
> Konkurrenz.
Bild: Raus mit dem ganzen Frust: Ajax rächt sich blutig an Odysseus
Es ist ein verstörendes, aber auch faszinierendes Bild: Kübelweise kippt
Ajax dem verdutzten Odysseus das Theaterblut über den Körper. Bis in die
ersten Reihen im Parkett des Hamburger Thalia Theaters spritzt es, und auf
die Bühnenwände und auf eine riesige weiße Leinwand auf dem Bühnenboden.
Die ganze aufgestaute Frustration, immer nur im Schatten eines anderen zu
stehen, entlädt sich in einem minutenlangen Spektakel ungezügelter Gewalt.
Als die Eimer leer sind, füllt Ajax sie aus einem Gartenschlauch wieder
auf, traktiert den rot glänzenden Körper des Widersachers weiter, benutzt
ihn als Pinsel auf dem Boden und zwängt ihm den spritzenden Schlauch in den
Hals: „Nimm ihn in den Mund!“
Nach dieser brutalen, wie eine Vergewaltigung wirkenden Szene in der ersten
Hälfte des Abends wird die blutverschmierte Leinwand über der Bühne
aufgespannt. Wie ein zerrissenes Herz sieht das Bild darauf aus. Und wie
eine Künstlerin sitzt die Täterin – denn Ajax ist hier, anders als im
antiken Vorbild, eine Frau – vor ihrem Werk: eine makabere
Action-Painting-Trophäe, von der das Blut weiter auf die Bühne tropft,
während sich Odysseus im Hintergrund abduscht. „Das ist meine Rache!“,
schreit Ajax.
Eindringliche Bilder findet [1][Christopher Rüping], bekannt für seine
ungewöhnlichen Interpretationen antiker Klassiker, für sein Stück „Ajax und
der Schwan der Scham“ [2][zum Auftakt der letzten „Lessingtage“ unter
Intendant Joachim Lu]x. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem sonst selten
beachteten „Ajax-Komplex“: mit der Scham und Qual, immer nur an zweiter
Stelle zu stehen.
## Selbstüberschätzung und Erniedrigung
In Sophokles’ Tragödie geht die Geschichte so: Ajax, einst mächtiger
Krieger im Trojanischen Krieg, steht stets im Schatten des legendären
Achill. Als ihm nach Achills Tod dessen legendäre Rüstung verweigert und
stattdessen dem listenreichen und wortgewandten Odysseus zugesprochen wird,
bricht Ajax’ Welt zusammen. Die Demütigung führt zur Raserei, zu Scham und
schließlich zum Suizid – ein tragischer Kreislauf von Ehrgeiz,
Selbstüberschätzung und Erniedrigung.
Ein Gefühl, das auch heute, in einer Welt, in der überall makellose High
Performance eingefordert wird, viele kennen. Und so prüfen Rüping und sein
spielstarkes Ensemble den antiken Stoff gute zwei Stunden lang an einer
Gesellschaft ab, in der Leistungsdruck und Konkurrenzkampf allgegenwärtig
sind. Mehr und mehr verschwimmen in ihr die Grenzen zwischen Realität und
Inszenierung, zwischen dem, was eine:r tatsächlich getan und verdient hat
und bloßem Hype.
Dabei verlegt das Stück die Handlung nicht einfach in die Gegenwart. Es
schafft viel mehr durch ein komplexes Spiel mit Kameras und
Verfremdungseffekten eine Welt, in der Antike und Moderne
ineinandergreifen. Subtil verwebt das Stück die antike Tragödie mit
Anspielungen auf [3][Darren Aronofskys Ballettthrillerfilm „Black Swan“].
In beiden geht es um den Druck, Höchstleistungen zu erbringen, um den Kampf
um Anerkennung und die daraus resultierenden Kränkungen und psychischen
Zerrüttungen. Es geht um Identität, um den Umgang mit öffentlicher Schande,
ums Doppelgängertum, die Zweitbesetzung und die Verzerrung von Identitäten.
## Gaslighting und Revenge Porn
Und es geht um die Frage, wie man aus einem solchen System ausbrechen kann,
das nur Erfolg kennt und keine Schwäche zulässt? Rüpings Ajax, von Maja
Beckmann in Trainingshosen und Sneakern als Underdog gespielt, der
unermüdlich wie ein Pulverfass aus unterdrückter Wut und verletztem Stolz
über die Bühne tigert, verweigert sich einfach der Selbsttötung.
Aber auch Odysseus, den Nils Kahnwald als listigen, immer überlegenen
Trickster in glänzendem Jackett gibt, scheitert. Es gelingt ihm einfach
nicht, Ajax dazu zu bringen, sich in ihr Schwert zu stürzen. Dabei ist es
ihr doch vorbestimmt und die Götter sind auf seiner Seite! Auf seine
Gaslighting-Versuche aber fällt sie nicht herein und die Zweitbesetzung
verweigert sich ebenfalls: Die Schauspielerin Pauline Rènevier spielt, sie
wolle nicht mehr jemand anderes sein, als sie ist. Sie tritt hier in der
Rolle der Balletttänzerin Sarah Lane auf, die im Black-Swan-Film der
Schauspielerin Natalie Portman den tanzenden Körper geliehen hatte, aber im
Abspann nur unter „Stunts“ erwähnt wird.
Auch dafür findet Rüping ein beeindruckendes Bild: Als Rènevier über
Revenge Porn und Deep Fakes anhand der Geschichte einer Betroffenen
erzählt, verwandelt sich ihr Gesicht live in das von Natalie Portman. Das
sieht faszinierend aus, [4][beeindruckend real], aber immer wieder auch
durch Störungen gebrochen, etwa wenn das Gesicht beim Kuss mit Odysseus
verzerrt wird und der Effekt auf dessen Gesicht wandert.
Rüping gelingt ein überraschend kurzweiliger und übrigens streckenweise
auch wirklich komischer Abend. Klug und vielschichtig verknüpft er den
Ajax-Komplex mit aktuellen Fragen nach Identität und Manipulation, nach
Demütigung und Scham, ohne belehrend zu werden.
23 Jan 2025
## LINKS
[1] /Nahaufnahme-von-Christopher-Rueping/!6027396
[2] https://www.thalia-theater.de/programm/thaliaplus/festivals/lessingtage/les…
[3] /Aranofskys-Ballett-Film-Black-Swan/!5128497
[4] /Regulierung-von-KI-generierten-Inhalten/!5997398
## AUTOREN
Robert Matthies
## TAGS
Antike Dramen
Mythos
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Benjamin von Stuckrad-Barre
Oper
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