| # taz.de -- „4.48 Psychose“ am Deutschen Theater: Die Geometrie des Unglüc… | |
| > Sarah Kanes letztes Stück „4.48 Psychose“ sprüht vor Verzweiflung und | |
| > Depression. Ulrich Rasche inszeniert das Stück als dreistündige | |
| > Sprechoper. | |
| Bild: Wie in vielen Inszenierungen Rasches laufen die Schauspielenden hier durc… | |
| Das Orchester gleitet vorüber. Wie ein Totenschiff durch die Dunkelheit. | |
| Vier MusikerInnen an elektronischer Orgel, Schlagwerk und Bass sitzen auf | |
| dem äußersten Ring der Drehbühne [1][im Deutschen Theater in Berlin] und | |
| spielen die düsteren Klangsätze von Nico van Wersch. Ins Endlose könnten | |
| ihre Repetionen laufen, von Schlägen getrieben. Wenn sie verstummen, ist es | |
| jedes Mal wie ein Sprung von der Klippe. Nur das Licht an den Notenpulten | |
| lässt die Musiker erkennen. | |
| Sie umkreisen die Schauspielenden, die [2][in Ulrich Rasches Inszenierung] | |
| von „4.48 Psychose“ von Sarah Kane wie in vielen Stücken aus der Hand | |
| dieses Regisseurs über Laufbänder gehen, endlos auf der Stelle treten, | |
| immer in Bewegung sind und trotzdem nicht vorankommen. Alles ist hier auch | |
| Geometrie, das Licht aus schmalen Röhren oder gepunkteten Linien, die | |
| Kreise der Drehbühnen, die Diagonalen der Laufbänder – es ist ein äußerst | |
| kontrollierter Raum, den Rasche zusammen mit Franz Dittrich konzipiert hat. | |
| Die Spielenden erscheinen darin wie von Licht gerahmt in einem flachen Bild | |
| und verschwinden im dunklen Raum dahinter wieder wie beim Ausblenden eines | |
| Films. Das Verschwinden, die Auslöschung, um die Sarah Kanes Text „4.48 | |
| Psychose“ kreist, ist hier sehr ästhetisch gefasst. | |
| Drei Frauen und sechs Männer geben dem Text ihre Stimme. Kathleen | |
| Morgeneyer kämpft sich Wort für Wort voran, „Ich hab das Gefühl, die | |
| Zukunft ist hoffnungslos und es wird nie besser“, als drohten ihr bei jeder | |
| Silbe die Gedanken zu entgleiten, als hätte die Zunge Mühe, die Laute aus | |
| dem Mund zu lassen. Linda Pöppel, lang und zierlich, hängt irgendwie schräg | |
| zu ihrer eigenen Körperachse. Katja Bürkle stemmt sich gegen den Abgrund, | |
| das Nichts, dem sie mit jedem Schritt näherkommt. | |
| ## Vorwärts, seitlich, rückwärts | |
| Manchmal klingen die mikroportverstärkten Stimmen, als würden sie über | |
| einen Abgrund weggerufen. Schritt für Schritt heben sie dabei die Beine, | |
| mühsam jedes Mal, keine Spannung im Körper. Das Gehen der Müden, vorwärts, | |
| seitlich, rückwärts, den Körper immer frontal zum Publikum, auch wenn die | |
| Laufbandrichtung sich ändert, ist hier eine Qual und ein Zwang, von Anfang | |
| an auf Unausweichlichkeit gestellt. Manchmal entsteht ein zusätzliches Bild | |
| der Bedrängnis, der Enge, wenn die männlichen Schauspieler dicht an die | |
| Frauen rücken. | |
| „4.48 Psychose“ ist Sarah Kanes letztes Stück, sie beging 1999 Suizid. Von | |
| der jungen britischen Autorin kam in den 1990er Jahren etwas Ungebändigtes | |
| und Wütendes in die Theater, das von Grausamkeit ebenso wie von | |
| Verletzlichkeit geprägt war. Vor allem aber von einer Sprache, die | |
| durchdringt, die nicht überhöht war, sondern fluchdurchsetzt und doch | |
| Erschütterungen und Tragik in einem Ausmaß transportierte, wie es der | |
| Dramatik der Gegenwart nur selten gelingt. | |
| In „4.48 Psychose“ fließen Medikationen und Diagnosen einer an Depression | |
| Erkrankten ein, Gespräche mit Therapeuten, Selbstverletzungen und Schmerz, | |
| Wut über den Ausschluss, Verzweiflung über die Unfähigkeit, in | |
| Kommunikation zu treten. In der Schaubühne war eine mitnehmende | |
| Inszenierung von Falk Richter von 2002 mehr als zehn Jahre lang zu Recht im | |
| Repertoire. Es haute einen um. | |
| Es spricht jemand am Rande der Auflösung, zwischen psychotischen Schüben | |
| und der Ruhigstellung durch Medikamente. Hinzu kommt Liebeskummer, das | |
| Unglück, keinen Adressaten zu haben für die sehnsüchtigen Rufe „finde | |
| mich“. Dass der Text auf den Suizid zusteuert, das endgültige Verschwinden, | |
| ist von Anfang klar. Und doch ist der letzte Satz „bitte öffnet den | |
| Vorhang“. | |
| ## Kein Unterschied zwischen Jäger und Gejagtem | |
| In Rasches Inszenierung wird das Stück zu einer Sprechoper. Meistens steht | |
| eine Stimme im Vordergrund, manchmal teilen sich zwei eine Textpassage, | |
| manchmal sprechen sie im Chor. Wird der Raum tief und das ganze Ensemble | |
| sichtbar hinter dem/der einen vorne, entsteht ein ambivalentes Bild, wie | |
| ein Chor oder Corps die Menge hinter dem Solisten, ihn ebenso treibend wie | |
| auch in seiner Haut steckend. Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen | |
| Jäger und Gejagter. | |
| Den Zuschauer in einen solchen Zwiespalt zu drängen, gehört zu den Stärken | |
| von Rasches Inszenierung. Aber sie überrollt einen auch, am Ende der drei | |
| Stunden fühlt man sich so platt, als wären die Laufbänder über einen | |
| drübergerollt. Die Musik, die immer dabei ist, übertönt die eigene | |
| Musikalität der Sprache von Sarah Kane, die eine differenziertere Rhythmik | |
| hat, neben dem Stakkato der Worte auch das Schweigen kennt. | |
| Hier wird man so vereinnahmt, so aufgesogen, dass kaum Distanz entstehen | |
| kann und damit auch die Möglichkeit einer Reibung. So entstehen auch keine | |
| Fragen danach, was das Außen, die Welt, mit diesem Innen, dem Unglück zu | |
| tun hat – und das ist ein Verlust. | |
| 20 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/448-psychose/4434/ | |
| [2] /Die-Bakchen-am-Wiener-Burgtheater/!5625999 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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