# taz.de -- Lars Eidinger in der Berliner Schaubühne: Einladung zur Regression | |
> Die Premiere von Henrik Ibsens Klassiker „Peer Gynt“ war bescheiden. | |
> Vielleicht entwickelt sich das Stück ja im Laufe der Aufführungen noch? | |
Bild: Kopf und Gesicht werden malträtiert und bestraft | |
[1][Lars Eidinger] und John Bock erzählen „Peer Gynt“ an der Schaubühne. … | |
kommen also zwei Künstler zusammen, die das Grenzüberschreitende und | |
Verrückte, den Gestus der Selbstüberschätzung und seine ironische | |
Brechung, schon ziemlich oft und manchmal sehr gut ausprobiert haben. | |
Gemeinsam erzählen sie nun von einem größenwahnsinnigen Bauernsohn, | |
Aufschneider, Lügner und Betrüger, der in [2][Ibsens] Stationendrama zu den | |
Trollen und den Feen reist, Frauen ver- und entführt und verlässt, als | |
Sklavenhändler Geld macht und es wieder verliert, noch mehr Frauen verrät | |
und sich dabei immer wieder fragt, wer bin ich? Klingt nach einer recht | |
sicheren Bank. | |
Das Bühnenbild von John Bock, Bildhauer, Aktionskünstler und Filmemacher, | |
ist eine Collage aus Weichem und Hartem, mechanischen Walzen, Melkmaschine, | |
Behindertentoilette, Rohren, in denen Weißes blubbert, und einem | |
Patchwork-Monster aus Stoff mit vier Beinen und zahllosen, sich nach außen | |
stülpenden Rüsseln und Zitzen. | |
Es kann zur Höhle werden und zum Bauch der Mutter; zweimal kriecht Eidinger | |
in diesen weichen Knubbel hinein, erlebt hier den Tod der Mutter und fast | |
auch den eigenen. Man könnte das lustige Zotteltier als Einladung in die | |
Regression begreifen, für den Rückfall in infantile, gierige, trotzige | |
Verhaltensmuster. Das passt ganz gut, denn Ibsens Drama, eigentlich ein | |
ausuferndes Langgedicht, kann auch als Geschichte über das | |
Nichterwachsenwerden und Keine-Verantwortung-übernehmen-Wollen gelesen | |
werden. | |
## Eidinger in Strapsen und Unterhose | |
Auch die Kostüme sind von John Bock und kleiden Lars Eidinger in knappe | |
Oberteile, Strapse, Unterhose und Hosenbeine, die stets den Arsch und den | |
Bauch freilassen. Der Body bleibt schön und attraktiv, der Kopf und das | |
Gesicht hingegen werden malträtiert und bestraft; mit viel Farbe clownesk | |
bemalt, mit Goldzähnen und Perücken entstellt, umwickelt mit Metallfolie | |
und in einen grünen Sack gesteckt. | |
Oder er muss den Kopf durch einen Stuhlrahmen stecken, als hätte ihm den | |
jemand über den Kopf gezogen. Eidinger spielt auch Peers Mutter Aase, mit | |
Gehhilfe und Transfusionsbeutel, die ihn, weil sie ihm keinen Freiraum | |
lassen will, zu gerade immer wilderen Fluchten animiert. | |
Die anderen Frauenfiguren, denen Peer bei Ibsen übel mitspielt, sind | |
irgendwie verloren gegangen. Das erspart die Auseinandersetzung mit einer | |
frommen Jungfrau, die an der Erlösung des Tunichtgut arbeitet, was sich ja | |
heute auch meist nur peinlich ausnimmt. Aber es fehlt so auch viel von dem, | |
was Handlung und Spannung in die wechselnden Bilder brachte. | |
Man guckt am Premierenabend dem Schauspieler auch auf die Finger und zählt, | |
ob alle zehn da sind, es sieht so aus. Am Anfang gab es eine Ansage, er | |
habe sich bei der Probe einen Finger abgeschnitten, kam in die Charité und | |
spielt nun unter dem Einsatz starker Schmerzmittel. Was einen den ganzen | |
Abend bangen lässt, vor irgendeiner Splatterszene, die aber | |
glücklicherweise nicht kommt. | |
## Hochstapler wie Donald Trump und Kanye West | |
Es kommt aber eine Orgie. Drei schöne junge Frauen, namenlose Statistinnen, | |
lieben sich auf der Leinwand und Peer beamt sich dazwischen. Das geschieht | |
durch einen kameratechnischen Trick per Greenscreen, er wird in das Bild | |
gestanzt, knapp so groß wie ein Bein der drei so intensiv mit ihrer | |
Erregung beschäftigten Frauen, dass sie ihn gar nicht beachten. Das sieht | |
ganz lustig aus, wenn man nicht aus Verlegenheit die Augen von der | |
pornografischen Szene abwendet. Dass man immer so abgebrüht tun muss, auch | |
oder gerade im Theater. | |
Einige Male wird auf der Leinwand und einem Bildschirm Eugen Drewermann, | |
Theologe und Psychoanalytiker, eingeblendet, wie er „Peer Gynt“ erläutert | |
und eine weitere Geschichte, übrigens von einem Knaben, dem ein Finger | |
fehlte, erzählt. Die Komplexität, die er mit wenigen Sätzen aufruft, würde | |
man an diesem Theaterabend gern sehen, aber die Sache funktioniert nicht | |
gut. | |
Dass es um Selbsterkenntnis geht, dass Peer mit seiner Gier auf Leben, Geld | |
und Macht sich selbst im Weg steht, das geht aus den Textpassagen Eidingers | |
schon hervor. Er ergänzt dabei die lyrischen Verse von Ibsen mit Begriffen | |
zum Beispiel aus den heutigen Finanzspekulationen, und er zitiert | |
Hochstapler der Gegenwart, wie Donald Trump oder [3][Kanye West.] | |
Aber wenn die Sache theoretisch auch klar ist, sie schnurrt doch auf | |
Schlagworte zusammen. Man fühlt und erlebt sie nicht, die Dummheiten und | |
Gemeinheiten von Peer Gynt. Vielleicht weil ihre Kenntnis immer schon | |
vorausgesetzt wird. | |
Getüftelt und gebastelt haben sie sicher viel, der Künstler und der | |
Schauspieler, sich gemeinsam über vieles schlapp gelacht, so stellt man | |
sich das vor. Aber wohl zu wenig einen Blick von außen dazugeholt. Kein | |
dritter Blick außer ihnen beiden für Regie und Dramaturgie ist dann doch zu | |
wenig. Gut möglich aber, dass sich das Stück im Laufe der Aufführungen erst | |
noch weiterentwickelt. | |
16 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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