| # taz.de -- Fran Ross' Roman „Oreo“: Superheldin auf Suche | |
| > Afroamerikanerin, Jüdin, leidenschaftliche Autorin: Fran Ross und ihr | |
| > 1970 erstmals erschienener Roman „Oreo“ wurden wiederentdeckt. | |
| Bild: Schreibt mutige, schräge, nicht immer zugängliche Prosa: Fran Ross, 193… | |
| Generationen von feministischen Forscher_innen haben ihre Zeit damit | |
| zugebracht, vergessene feministische Autor_innen auszugraben – um den | |
| Kanon, samt seiner Herrschaft von vornehmlich (weißen) männlichen Autoren, | |
| neu zu schreiben. Viele dieser wiederentdeckten Autor_innen sind ein | |
| zweites Mal vergessen worden. | |
| Manchen wiederum wurde tatsächlich zu einer internationalen | |
| Leser_innenschaft verholfen, wenn auch posthum. Die US-Autorin Lucia Berlin | |
| oder die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector etwa zählen zu | |
| diesen erst jüngst neu aufgelegten, neu übersetzten und neu gefeierten | |
| Stimmen, die uns zwar aus der Vergangenheit erreichen, aber eine Frische | |
| ausstrahlen, als sei ihre Zeit eben jetzt erst gekommen. | |
| Fran Ross ist die neueste dieser Wiederentdeckungen. Eventuell die | |
| Mutigste, möglicherweise nicht die Zugänglichste, ganz sicher aber die | |
| Schrägste unter ihnen. 1985 ist Ross im Alter von 50 Jahren an Krebs | |
| gestorben, viel ist von ihrem Leben nicht bekannt, außer dass sie in | |
| Philadelphia geboren, mit 25 nach New York gezogen ist und als | |
| Korrekturleserin und Journalistin tätig war. Und eben dass 1970 ihr | |
| einziger Roman erschienen ist, dem nur ein paar winzige Rezensionen | |
| gewidmet wurden. Mehr nicht. | |
| ## Innen weiß, außen schwarz: Oreo | |
| „Oreo“ heißt das Buch, das 2015 in den USA neu gedruckt wurde und nun | |
| erstmals auf Deutsch erscheint. Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur | |
| auf den berühmten Keks, der innen weiß und außen schwarz ist, es ist auch | |
| der Kosename von Romanheldin Christine Clark, die – wie die Autorin Fran | |
| Ross selbst – als Tochter einer Afroamerikanerin und eines Juden in | |
| Philadelphia aufwächst. | |
| Gleich zu Beginn der Geschichte wird von dem Unbehagen berichtet, das die | |
| Familien beider Elternteile bei dieser gemischten Partnerschaft im | |
| gespaltenen Amerika der 1950er Jahre ereilt: Christines Oma | |
| väterlicherseits stirbt auf die Nachricht hin an einem Herzinfarkt, ihr | |
| schwarzer Opa väterlicherseits erstarrt zu einem halben Hakenkreuz. | |
| Schwarzer Humor erweist sich als eine der Kernstrategien, mit deren Hilfe | |
| Ross die Absurdität demaskiert, welche sich hinter der Idee | |
| festgeschriebener Identitäten verbirgt. Christine ist ein Hybrid und alles | |
| an ihr steht dafür: ihr Sound, der zwischen schwarzem Slang, Jiddisch und | |
| Fantasiesprache hin und her changiert. Ihr Körper, der zugleich wunderschön | |
| und mit 16 so superheldenhaft trainiert scheint, dass er jeden erwachsenen | |
| Mann um den Verstand bringen und anschließend auf die Fresse legen kann, | |
| etwa wenn er ihren Afro berührt. | |
| ## Abenteuerliche Vatersuche | |
| Und dann ist da noch ihre abenteuerliche Vatersuche in New York, die sich | |
| am Theseus-Mythos orientiert, jedoch viel weniger Sinn und viel mehr Chaos | |
| stiften will als das griechische Original. Zuhälter werden verprügelt, | |
| Pädophile übers Ohr gehauen, sadistischen Kindern Lektionen in Tierschutz | |
| erteilt, während Christine sämtliche Samuel Schwartze im New Yorker | |
| Telefonbuch abklappert. | |
| Denn dieser eine, ihr Vater, hat seine Familie schon früh verlassen, weil | |
| er, so begründet es Christines Mutter Helen, ein „Schmock“ ist. Eine Liste | |
| unverständlicher Hinweise, die ihr Vater ihr hinterlassen hat, soll | |
| Christine helfen, ein Geheimnis zu lüften, das mit ihrer Geburt zu tun hat. | |
| Christine ist keine dreidimensionale Figur, kein realistischer Charakter, | |
| nichts an ihrer Geschichte will „authentisch“ wirken. Da sind | |
| Zwergenfamilien, Jungfernhäutchen aus Wundermetall, | |
| Nachbarschaftsnymphomaninnen, die ihre Väter verführen. Zu Beginn fragt man | |
| sich noch stellenweise, was die Autorin mit dieser oder jener Szene | |
| bewirken will, doch diese Fragen wischt man lieber schnell beiseite, wenn | |
| man Spaß haben will mit diesem wahnsinnigen Buch. Und den kann man wirklich | |
| haben. | |
| Selten merkt man einem Roman so sehr an, mit welcher Leidenschaft am | |
| Schreiben er verfasst wurde, mit wie viel Freude daran, auf sämtliche | |
| literarische Konventionen komplett zu pfeifen. Vielleicht ist das die Art | |
| von Spaß die Pynchon- oder Foster-Wallace-Fans verspüren, wenn sie über | |
| deren postmodernen Wälzern schmunzeln? Nur dass Fran Ross’ Heldin sexier, | |
| cooler und lustiger daherkommt als die Protagonisten vieler ihrer Kollegen. | |
| ## Black Power und Feministinnen | |
| Im Rückblick überrascht es wenig, dass „Oreo“ 1970 kein Publikum fand. Die | |
| Black-Power-Bewegung befand sich auf ihrem Höhepunkt, die | |
| Zweite-Welle-Feminist_innen verschafften sich gerade Gehör – und dann war | |
| da dieses Buch, das zwar nicht unpolitisch, aber für seine Zeit viel zu | |
| subtil wirkt und sich jeder Eindeutigkeit und allem Pamphlethaften | |
| verwehrt. Und dann auch noch so jüdisch ist? | |
| Heute, gut 50 Jahre später, erklärt die US-Dichterin und | |
| Literaturwissenschaftlerin Harryette Mullen, die „Oreo“ wiederentdeckte, | |
| den Roman zu einem der wichtigsten, weil sehr seltenen satirischen Texte | |
| schwarzer Autor_innen. Im Nachwort der deutschen Ausgabe ergänzt der | |
| Essayist und Lyriker Max Czollek, dass es sich zugleich um einen wichtigen | |
| Beitrag zur jüdischen Literatur handelt. So scheint „Oreo“ nun endlich am | |
| Ziel, nämlich im literarischen Kanon angekommen zu sein, auch wenn die | |
| Reise eine beschwerliche war. | |
| 18 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Fatma Aydemir | |
| ## TAGS | |
| Historischer Roman | |
| Fran Ross | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Black Lives Matter | |
| Jazz | |
| Charles Bukowski | |
| Harlem | |
| Flugzeug | |
| USA | |
| Salman Rushdie | |
| US-Literatur | |
| deutsche Literatur | |
| Afrofuturismus | |
| Cemile Sahin | |
| Schriftstellerin | |
| USA | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Roman von Jacqueline Woodson: Erinnerung lebendig halten | |
| Die Schriftstellerin Jacqueline Woodson erzählt in ihrem Roman „Alles | |
| glänzt“ von einer Schwarzen Familie. Diese ist von rassistischer Gewalt | |
| geprägt. | |
| Compilation mit „Yiddisher Jazz“: Die schönste Sprache der Welt | |
| Eine Compilation mit jiddischen Jazz- und Folksongs bringt uns die | |
| versunkene radikale Welt des Londoner East End näher. Sie fließt wie ein | |
| DJ-Set. | |
| Erzählungen von Ottessa Moshfegh: Urlaub in der Vorhölle | |
| Ottessa Moshfegh erzählt in „Heimweh nach einer anderen Welt“ | |
| Alltagsstories mit surrealen Zügen. Wer es fies und bitterböse mag, wird | |
| sie lieben. | |
| Ann Petrys Roman „The Street“: Hürdenlauf in Harlem | |
| Als 1946 der Roman „The Street“ über eine alleinerziehende schwarze Mutter | |
| erschien, war es ein Megaerfolg. Nun kann man ihn wiederentdecken. | |
| Aris Fioretos' Roman „Nelly B.s Herz“: Berauschende Aufwinde | |
| „Nelly B.s Herz“ heißt der neue Roman des schwedischen Autor Aris Fioretos. | |
| Er erzählt die Lebensgeschichte der Berliner Flugpionierin Melli Beese. | |
| Leslie Jamisons Roman „Der Gin-Trailer“: Das Leben der anderen | |
| Warum hat fast jede Familie ihre schwarzen Schafe? Diese Frage stellt sich | |
| US-Autorin Leslie Jamison in ihrem Roman „Der Gin-Trailer“. | |
| Salman Rushdie über sein neues Buch: „Ich bin ein erbärmlicher Prophet“ | |
| Salman Rushdie spricht über seinen Roman „Quichotte“, den Zustand der | |
| Demokratie in seiner Wahlheimat USA und über Rassismus-Erfahrungen. | |
| Neue Erzählungen von Lauren Groff: Wenn die Situation kippt | |
| Hurrikans und Mutterschaft, Sex, Angst und Wut: US-Autorin Lauren Groff hat | |
| den Erzählungsband „Florida“ veröffentlicht. | |
| Zum Tod von Ernst Augustin: Fantastischer Fantastiker | |
| Der einzigartige, satirische, unterschätzte Schriftsteller Ernst Augustin | |
| ist tot. Er stand für ein Genre- und Denkkategorien weitendes Erzählen. | |
| Roman „Ein anderer Takt“: Auf Nimmerwiedersehen | |
| Afroamerikaner fliehen aus einem fiktiven US-Staat: William Melvin Kelleys | |
| Roman „Ein anderer Takt“ liegt nun auf Deutsch vor. | |
| Debütroman „Taxi“ von Cemile Sahin: Raffinierte Metafiktion | |
| Cemile Sahin erzählt in „Taxi“ von einer Frau, die ihren Sohn im Krieg | |
| verloren hat und sich eine neue Wirklichkeit bastelt. Ein starkes Debüt. | |
| Nachruf auf Autorin Toni Morrison: Von den Kämpfen mit Dämonen | |
| Ein halbes Jahrhundert hat Toni Morrison den Rassismus in den USA | |
| angeklagt. Das brachte ihr den Nobelpreis. Jetzt ist die Schriftstellerin | |
| gestorben. | |
| US-Bürgerrechtlerin und Lyrikerin: Maya Angelou gestorben | |
| Zu ihren Freunden zählten Martin Luther King und Malcom X: Maya Angelou war | |
| Autorin, Lyrikerin, Bürgerrechtlerin. Mit 86 ist die Afro-Amerikanerin | |
| gestorben. |