| # taz.de -- Ann Petrys Roman „The Street“: Hürdenlauf in Harlem | |
| > Als 1946 der Roman „The Street“ über eine alleinerziehende schwarze | |
| > Mutter erschien, war es ein Megaerfolg. Nun kann man ihn wiederentdecken. | |
| Bild: Keine Afroamerikanerin hatte vor ihr so viel Erfolg mit einem Buch: Ann P… | |
| Für gewöhnlich betrachten wir Straßen als Durchgangsorte. Irgendeine, hier | |
| oder dort, ist zufällig auch unser Wohnort. Selten aber sind Straßen von | |
| existenzieller Bedeutung. Anders für Lutie Johnson. Als sie in die 116th | |
| Street zieht, ist das für sie zugleich ein Triumph und eine Niederlage. | |
| Ein Triumph, weil sie endlich bei Pop ausziehen kann. Der war mit seinem | |
| heimlich gebrannten Schnaps und den wechselnden Damenbekanntschaften | |
| schlicht kein gutes Vorbild für ihren Sohn Bubb. | |
| Eine Niederlage ist der Umzug trotzdem, weil Lutie das bisschen Geld, das | |
| sie beiseitegelegt hat, für den Umzug in ein dunkles [1][Apartment in | |
| Harlem] zahlen muss. Trotzdem bleibt Lutie zuversichtlich. Sie wird Geld | |
| verdienen, sie wird diese Straße in Harlem verlassen, sie wird es zu etwas | |
| bringen. | |
| Lutie ist eine junge schwarze Frau. Die Beziehung zu Jim, dem Vater ihres | |
| Sohnes, ist zerbrochen. Monatelang arbeitete sie bei einer weißen Familie, | |
| weit weg von ihrer eigenen, in Connecticut. Versuchte Geld zu verdienen für | |
| den fälligen Hypothekenzins, für ein Auskommen ihrer Familie. Es kam, wie | |
| es kommen musste: Ihr Mann, arbeitslos und gelangweilt, suchte sich | |
| weibliche Abwechslung. Lutie nahm ihren Sohn und zog davon. | |
| Ann Petrys „The Street“ erzählt nicht einfach vom Schicksal einer jungen | |
| Schwarzen, die alles dafür tut, im Leben voranzukommen – neben ihren | |
| Putzjobs lernt sie Tippen und Stenografieren, um irgendwann in einem Büro | |
| arbeiten zu können. „The Street“ erzählt vom strukturellen Rassismus in | |
| einer tief gespaltenen Gesellschaft. | |
| Arbeite hart und spare klug, so lautet die magische Devise Benjamin | |
| Franklins, des großen Gründervaters der USA, zur Erfüllung des | |
| amerikanischen Traums. Im Text hat er einen Wiedergänger in Form des weißen | |
| Barbesitzers Junto, der Lutie ins Verhängnis führen wird. | |
| ## „There’s no fun, Darlin’ / There’s no sun, Darlin’“ | |
| Bis dahin ist Luties Leben ein ständiger Hürdenlauf. So wie das der meisten | |
| schwarzen Frauen. Die Männer sind arbeitslos. Die Frauen schuften sich | |
| kaputt. Die Männer amüsieren sich mit anderen Frauen und Alkohol. Familien | |
| zerbrechen. Alleinerziehende Mütter müssen hart kämpfen. Ihre Kinder | |
| wachsen einsam und allein auf der Straße auf. Die Straße, diese Straße, ist | |
| ein Ort, an dem es keine Spielplätze gibt, nichts zu tun, außer in | |
| Schwierigkeiten zu geraten. | |
| Autorin Ann Petry erzählt diese Geschichte in einer eindringlichen Sprache. | |
| Dicht ist der Text, so dicht, dass man spürt, wie Lutie in den engen Wänden | |
| des Apartments fast erstickt. Grandios beklemmend, wie Petry von der ersten | |
| Begegnung von Lutie und dem Hausmeister Jones erzählt. | |
| Kapitel um Kapitel wird ihre Geschichte multiperspektivisch erweitert. Mal | |
| folgt der Text dem seltsamen Hausmeister Jones, der sich Lutie von Anfang | |
| an mit begehrlichen Blicken nähert, dann Miu, die mit Jones in einer | |
| eigenartigen Wohngemeinschaft zusammenlebt. | |
| Aber dann wendet sich das Blatt, ausgerechnet, als Lutie ihre kleine | |
| Haushaltskasse gefährdet, indem sie in Junto’s Bar einige Drinks einnimmt. | |
| Dort macht sie Bekanntschaft mit Boots Smith, der ihr eine Karriere als | |
| Sängerin verspricht. Lutie macht sich keine Illusionen, wenn sie in Boots’ | |
| „skrupelloses Gesicht“ schaut. „There’s no fun, Darlin’ / There’s n… | |
| Darlin’“, singt Lutie, und wer immer ihr die große Gesangskarriere in | |
| Aussicht stellt, erwartet im Gegenzug Gefälligkeiten, für die sich Lutie | |
| nicht hergibt. | |
| ## 1,5 Millionen verkaufte Exemplare | |
| Gehört haben wir schon viel über Rassismus, aber in diesem Text scheint man | |
| ihn zu erleben. Da sind die Blicke der weißen Frauen auf die junge | |
| Schwarze, von der sie zu wissen glauben, dass sie ein Flittchen ist. Weil | |
| „die“ das doch alle sind. Überprivilegierte Weiße begreifen die | |
| Arbeitsverhältnisse, die sie Schwarzen offerieren, als Gnade und | |
| Freundschaftsdienst. | |
| In den Fleischereien in Harlem wird Gammelfleisch zu horrenden Preisen | |
| angeboten, auch die Kleidung, die es zu kaufen gibt, ist nur das, was | |
| anderswo niemals angeboten würde. | |
| Rassismus, Sexismus und soziale Benachteiligung bilden die Schlinge, aus | |
| der Lutie sich beim besten Willen nicht befreien kann. Ann Petry | |
| veröffentlichte ihren Roman 1946. Er wurde zum bis dato größten | |
| Verkaufserfolg einer afroamerikanischen Autorin mit über 1,5 Millionen | |
| verkauften Exemplaren. | |
| Im Deutschen war das Buch bis zuletzt unter dem Titel „Die Straße“ | |
| angekündigt – wegen der gleichnamigen Erzählung von Cormac McCarthys | |
| entschied man sich am Ende doch für den Originaltitel. Die Neuübersetzung | |
| von Uda Strätling lädt dazu ein, die 1997 verstorbene Autorin und ihren | |
| Roman, der nichts von seiner Brisanz und Aktualität eingebüßt hat, neu oder | |
| erstmals zu entdecken. | |
| 8 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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