# taz.de -- Erzählung von Stephan Wackwitz: Die Küste von England | |
> Wem das rettende Ufer des Glaubens an die Liebe verwehrt bleibt, hat den | |
> Sprung über den Abgrund des Zweifels nicht geschafft: Der Absturz in die | |
> Hölle der Eifersucht ist beängstigend tief. | |
Bild: Die Küste von England ist unendlich - und kann grausam sein | |
Ein Zweifel ohne Ende ist nicht einmal ein Zweifel. (Ludwig Wittgenstein) | |
Eifersucht sei etwas Normales und Nachvollziehbares, beruhigen uns die | |
psychologischen Beratungsbücher. Ein Treibstoff der Monogamie. Etwas, | |
worüber man gerührt oder geschmeichelt lächelt und spricht. Aber in | |
bestimmten Graden und Erscheinungsformen ist sie der unheimlichste, | |
zwanghafteste, intellektuell anspruchsvollste, komplizierteste und | |
gewalttätigste Gefühlszustand im Arsenal des menschlichen Wahnsinns. | |
Shakespeare, der die dämonische Extremvariante dieser Emotion am eigenen | |
Leib sehr hautnah erfahren haben muss, bezeichnet sie im "Othello" als "the | |
green-eyed monster, that doth mock the meat it feeds on", was für sich | |
schon unheimlich genug ist: Ein Ungeheuer, welches das Fleisch verhöhnt, | |
das es gerade verschlingt. Es fällt so surrealistisch aus dem Rahmen sogar | |
der elisabethanischen Schauerromantik wie nur je ein selten-kostbarer | |
Durchblick ins tiefste Innere der Autorenangst. Vollends Graf Baudissin | |
(der die Stelle philologisch durchaus missverstanden zu haben scheint) | |
macht einen in sich abgeschlossenen kleinen Horrorfilm daraus: "Das | |
grüngeäugte Scheusal, das besudelt die Speise, die es nährt", was irgendwie | |
suggeriert, dass hier ein Monster in sein Essen scheißt. Und die Sache und | |
die Wahrheit über dieses entsetzliche Gefühl eigentlich viel genauer trifft | |
als eine korrektere Übersetzung. So weit die Barocktragödie. Mir aber sind, | |
nachdem eine unabweisbare Leidenschaft mir keine andere Wahl ließ, als mein | |
innerstes Leben drei Jahre lang mit dem grüngeäugten Scheusal zu teilen, | |
gewisse Zentralmetaphern unserer wissenschaftlichen Lebenswelt zu | |
einleuchtenden Denkbildern dieser seelischen Ungeheuerlichkeit geworden. So | |
etwa "Die Küste von England", über deren dämonische Maßstablosigkeit Benoît | |
Mandelbrot ein komisches, genaues, unheimliches und absurdes kleines | |
Mathematikermärchen erzählt hat. | |
Benoît Mandelbrot ist der berühmteste Spross einer alten jüdischen | |
Mathematikerfamilie aus Warschau, die von den Deutschen 1939 nach Paris | |
vertrieben wurde, bevor der geniale junge Mann (der ohne sein Glück und | |
seine vorausschauenden Eltern leicht in Auschwitz hätte umkommen können) | |
als hochgeehrter IBM-Fellow und MIT-Professor in Amerika zum Guru und | |
Grundlagenwissenschaftler verschiedener wirtschaftlich hochbedeutsamer | |
Zweige der Industrie und der Wissenschaft wurde, eine Koryphäe vor allem | |
der Mathematik und Physik sogenannter Fraktale. 1968 trat er mit einem | |
kurzen Aufsatz hervor, der eines der berühmtesten Paradoxe der | |
Fraktalgeometrie in eine spielerische Frage zusammenfasst: "How long is the | |
coast of Britain?" Mandelbrots Antwort lautet überraschenderweise, dass die | |
Küste von England unendlich lang ist. Natürliche Formen, so könnte man | |
dieses paradoxe Ergebnis umschreiben (eine Küstenlinie; die Verzweigungen | |
eines Baums; das Auf und Ab im Seelenleben eines Menschen), sind mit | |
endlichen Ergebnissen nur messbar, wenn man sich auf eine kleinstmögliche | |
Maßeinheit verständigt und zwischen den Messenden oder Wahrnehmenden | |
vereinbart, diese Maßstäblichkeit nicht zu unterschreiten. So kann man etwa | |
die Länge der Küste von England auf einer Straßenkarte durchaus mit einem | |
endlichen Resultat feststellen. Schon auf einer Sammlung von Wanderkarten | |
oder Messtischblättern aller Küstenabschnitte Englands zum Beispiel aber | |
wäre die Küstenlinie der Insel erheblich länger (wenn natürlich aber auch | |
nur endlich lang). Könnte man eine Landkarte herstellen, die so groß wäre | |
wie die Insel selber, wäre ihre Küstenlänge so lang, wie man es mit Hilfe | |
seiner natürlichen Sinne eben erkennen kann. Würde man schließlich in die | |
Lage kommen, mikroskopische oder schließlich subatomare Maßeinheiten | |
anzulegen, wäre ihre Länge unvorstellbar. Da aber theoretisch ein unendlich | |
kleiner Maßstab an eine Küstenlinie (wie an jede natürliche Form) | |
herangebracht werden kann, ist die Küste von England eben auch unendlich | |
lang, genauer: so lang wie der angelegte Maßstab klein. | |
Diese grundsätzliche Nichtmessbarkeit natürlicher Formen und Vorgänge führt | |
dazu, dass man sich zum Beispiel über die Intensität und Qualität von | |
Gefühlen oder über die emotionale Bedeutung alltäglicher Ereignisse nur mit | |
Hilfe einer intuitiven Absprache darüber verständigen kann, bis in welchen | |
Mess- oder besser Empfindungsbereich die Beurteilung gehen soll. Man kann | |
über derlei nur dann sinnvoll reden, wenn die an der jeweiligen | |
Einschätzung beteiligten Personen mit einer vorbewussten, wortlosen | |
Vereinbarung einen Maßstab festgelegt haben, an den ihre Kommunikation sich | |
hält. Man ahnt, während man diesen Kommunikationsvertrag in | |
Sekundenbruchteilen miteinander aushandelt, dass es auch feinere Maßstäbe | |
geben könnte, die gegenseitigen Anliegen und Angelegenheiten zu erfassen, | |
und dass das Messergebnis ganz anders aussehen würde, wenn man sie anlegen | |
würde. Aber man weiß auch, dass die Kommunikation dann zusammenbräche und | |
man, bei einem Gespräch über die Untreue eines Sexualpartners etwa, nicht | |
mehr wüsste, worüber man eigentlich spricht. Der einseitige Wechsel der | |
Empfindlichkeitsebene in solchen Dingen durch einen von zwei Partnern | |
markiert in intimer Kommunikation nichts anderes als einen Angriff, ein | |
Infragestellen des anderen, den Beginn eines Streits (möglicherweise der | |
Katastrophe). Und beim Hinschreiben werden mir, wie ich gerade merke, | |
unwillkürlich die Handflächen ein bisschen feucht. Nennen wir die | |
literarische Versuchsperson, von der die Rede sein soll, der Einfachheit | |
halber noch einmal B. | |
In den letzten Wochen hatten ihr Blick und ihre Stimme, zuverlässig und | |
jeden Tag ein bisschen mehr, so etwas wie die Atmosphäre eines nur von uns | |
beiden bewohnten Planeten geschaffen, in der ich nach langer Einsamkeit | |
aufatmen konnte. Diese Stimmung um uns war mir schon in der kurzen Zeit, | |
seit ich sie kannte, ganz unentbehrlich geworden. Ich hatte mich in den | |
letzten Wochen daran gewöhnt, in der Empfänglichkeit und Freigebigkeit | |
dieses dunklen Blicks und in der Süße ihrer Stimme geborgen zu sein, wann | |
immer ich sie ansah oder sprechen hörte. An jenem Abend an der Bar jenes | |
Krakauer Kellerlokals aber war es von einem Augenblick auf den anderen | |
geworden, als sei die Farbe, die Wärme und die Hoffnung aus der Welt | |
geströmt. Als herrsche zwischen mir und der über alles geliebten jungen | |
Frau plötzlich das Sausen von Dämonenflügeln. Die Gegenstände um mich | |
verkleinerten sich und schienen sich von mir zurückzuziehen. Meine | |
Gesichtshaut war plötzlich zu eng. Etwas Kaltes wehte mich an. In meinem | |
Unterleib regte sich etwas, als hätte mich ein plötzlicher und nicht zu | |
kontrollierender Durchfall angewandelt. | |
Wenn sich in den nächsten Jahren dieses Umschlagen immer häufiger und | |
zuletzt so gut wie täglich ereignete, wurde meine Angst vor B.s Eifersucht | |
so schlimm, dass ich dann oft tatsächlich sofort die Toilette aufsuchen | |
musste, wenn das Übel einsetzte. Schon der Rückweg führte mich zur | |
Weinflasche im Kühlschrank. Mit einem vollen Glas in der jetzt schon leicht | |
zitternden Hand setzte ich mich angsterfüllt und zugleich unkontrollierbar | |
wütend an eine Ecke unseres großen Tischs - der Frau gegenüber, die mich | |
gerade noch in der Welt gehalten und mir alle denkbare Geborgenheit | |
gespendet hatte. Sie hatte sich verwandelt. Sie sah mich nicht an. Ihre | |
Stimme hatte den Ohrfeigenton angenommen. Sie hatte die Zigaretten | |
hervorgeholt und saß blicklos, gierig rauchend, in unserem großen, noch | |
wenige Augenblick zuvor vollkommen heimischen Atelierzimmer über der | |
Altstadt, das jetzt der Schauplatz eines Wortwechsels immer triumphalerer | |
Anklage und einer immer verzweifelteren Verteidigung wurde. Wieso ich (ich | |
hole das voll entwickelte Erscheinungsbild eines dieser Verhöre aus meiner | |
Erinnerung herauf, es fand vermutlich eineinhalb Jahre später statt) im | |
Fernsehen gerade diese beiden jungen Frauen so lange angesehen hätte? | |
"Baby. Bitte. Ich bin einen Moment lang beim Zappen in dieser Vorabendserie | |
hängen geblieben. Das ist alles. Um Gottes willen. Das ist doch absurd. | |
Lass uns diesen Quatsch stoppen, bevor das wieder außer Kontrolle gerät." | |
"Aha." | |
Der Laut, den sie nun machte, war das initiale Urgeräusch dieser Abende und | |
Nächte. Aha. Die harmlose Interjektion war in ihrem plötzlich steinharten | |
Mund zur stenografischen Kurzform eines ritualisierten inneren Monologs | |
geworden, gegen dessen brunnentiefen Sarkasmus nichts ankam. Ich mit meinen | |
nun einsetzenden und immer schlingernderen Rechtfertigungsmanövern schon | |
überhaupt nicht. Es war eine Art bitter-amüsiertes Auflachen aus diesem | |
ursprünglich einmal Verständnis signalisierenden Kommunikationsgeräusch | |
geworden, ein schon durch keine Verworfenheit mehr zu überraschendes | |
Sich-dennoch-Wundern oder Einmal-mehr-fassungslos-Sein darüber, wie dreist | |
ich log. Wie unverschämt und zugleich ungeschickt und durchsichtig ich | |
diese lächerliche Pseudoharmlosigkeit, dieses vollkommen unglaubwürdige | |
Unverständnis fingierte, kurz: was für ein unbeschreiblicher Schweinehund | |
ich war. Aha. Es ging in eine Art stilles Auflachen über. Kafka schreibt an | |
einer besonders albtraumhaften Stelle, jemand wende sich von einem harmlos | |
Fragenden ab, "wie jemand, der mit seinem Lachen allein sein will". B. in | |
ihrem Sichabwenden wollte jetzt mit ihrem Ekel, mit ihrem fassungslosen | |
Amüsement über meine Hinterhältigkeit allein sein, sich in sich | |
zurückziehend, kopfschüttelnd, giftig vor sich hin lächelnd. | |
Rein schriftstellerisch ist dieses "Aha" kaum adäquat zu bearbeiten. | |
Dagegen vielleicht durch eine filmisch nachvollziehbare Parallele. In Woody | |
Allens Film "Deconstructing Harry" wird die Geschichte einer Dame erzählt, | |
die von einer Bekannten etwas Furchtbares erfährt: Der Mann, mit dem sie | |
seit vierzig Jahren verheiratet ist und dem sie mehrere Söhne schenkte, ihr | |
Max hat, so wird ihr jetzt unwiderleglich bewiesen, vor ihrer gemeinsamen | |
Zeit, in einem früheren Leben, seine erste Frau, seine Kinder und eine | |
illegitime Geliebte mit der Axt erschlagen und anschließend aufgegessen. | |
Jetzt, in der friedlichen Gegenwart, sitzen die beiden alten Leute am | |
Abendbrottisch, der Mann schmaust mit gutem Appetit, und seine Frau bricht | |
in der genau und lustig beobachteten Art launischer Ehefrauen (die | |
Alltäglichkeit dieser Szene steht in sehr komischem Kontrast zu dem | |
entsetzlichen Verbrechen, um das es in dieser Geschichte geht) einen Streit | |
vom Zaun, um das Gespräch darauf lenken zu können, was sie inzwischen | |
zuverlässig weiß. Ob er statt des Fischs, der heute auf dem Tisch steht, | |
nicht eigentlich lieber Fleisch wolle? Der alte Mörder und Kannibale lässt | |
sich die Sour Cream reichen und sagt mit großer Ruhe: "Honey, since when do | |
I eat meat? With my arteries you have to watch your colesterol!", worauf | |
sie mit fonografischer Präzision genau B.s "Aha" hören lässt, das das | |
Leitsignal meiner Verworfenheit an jenen Abenden geworden war und mir auch | |
an diesem jetzt wieder so unüberwindliche Schuldgefühle eingab, als hätte | |
ich tatsächlich, in einem mir nicht begreiflichen Paralleluniversum und | |
ohne mein Gegenwartswissen, vier Menschen mit der Axt erschlagen und | |
stückweise aufgegessen. | |
In bitterer Belustigung von ihrem Kopfschütteln und Vor-sich-hin-Lächeln | |
dann wieder aufsehend, fragte B. jetzt: "Dann war das wahrscheinlich auch | |
reiner Zufall, dass die eine von denen blond war? Was?" Sie schaute mich | |
mit einem Amüsement an, aus dem mir nichts mehr entgegensah als der | |
Wahnsinn, der zwischen uns jederzeit ausbrechen konnte. "Ja", sagte ich, | |
jetzt auch unfroh lachschnaufend: "Totaler Zufall." Sie stieß höhnisch | |
lächelnd einen Stoß Luft durch ihre schöne Nase und sagte: "Akkurat" (was | |
auf Polnisch so etwas wie "genau" oder "sicher" bedeutet, aber fast nur | |
ironisch benutzt wird). In diesem Stadium der Eröffnung des nun | |
unweigerlich folgenden, auf der Verzweiflungs-, Lächerlichkeits- und | |
Gefährlichkeitsskala nach oben offenen gemeinsamen | |
Zusammenbruchsereignisses konnte ich dann schon nichts mehr auf sich | |
beruhen lassen. Ich musste sie davon überzeugen wollen, dass es tatsächlich | |
Zufall oder zumindest völlig harmlos gewesen war, dass ich eine Weile dem | |
doofen Gespräch zweier junger Frauen in einer Vorabendserie im Fernsehen | |
zugehört hatte. Dass mir nichts ferner gelegen hatte, als mich "an ihnen | |
aufzugeilen". Dass ich außerdem - ein Leitmotiv des Unsinns, der mein | |
Alltag geworden war - nicht "auf blonde Frauen stünde" und - der Höhepunkt | |
in B.s Überführungslitanei noch zwei Jahre später - außerdem nie "etwas von | |
A. gewollt" habe. | |
"Akkurat. Deswegen hast du ja auch in deinem Tagebuch seitenlang darüber | |
geschrieben, was sie in dir: auslöst!" (Vor Indignation fast spuckend; sie | |
hatte im Winter 2006, über Wochen hinweg, ohne dass ich es geahnt hatte und | |
hätte einschreiten können, meine Tagebücher studiert und kannte sie | |
praktisch auswendig.) | |
"Baby. Das war damals für mich nicht so wichtig. Und es war, bevor ich dich | |
kennengelernt habe. Es ist sowieso eine Schweinerei, dass du in meinen | |
Tagebüchern rumgeschnüffelt hast. Das macht man doch einfach nicht." | |
"Ich wollte die Wahrheit über dich wissen. Jetzt weiß ich wenigstens, wie | |
du wirklich bist." | |
"Ich habe dir schon oft erklärt, dass ich in mein Tagebuch unklare Gefühle | |
hinschreibe, um mir über sie klar zu werden. Das ist ein emotionaler | |
Schuttabladeplatz für mich. Da steht nicht die Wahrheit über meine Gefühle | |
drin. Das ist absoluter Quatsch." | |
"Aha. Akkurat." | |
Und so weiter ad nauseam, nächtelang und auf sie folgende Tage lang. Ein | |
verkaterter Morgen nach einer über meine Untreue durchdiskutierten Nacht | |
(an dem schon wieder geraucht wurde) ging im Büro in die | |
Nachmittagserschöpfung über und neigte sich einer unguten weiteren Nacht | |
entgegen, bis zum angsterfüllten Frieden eines Zwischenhochs, während | |
dessen Dauer ich auf den nächsten nichtigen Anlass für einen neuen | |
vernichtenden Angriff wartete. Ich brauchte diese Frau immer noch wie | |
niemanden sonst auf der Welt. Ich liebte sie immer noch so sehr, wie ich | |
sie vermutlich schon im ersten Augenblick geliebt hatte. Vor allem begehrte | |
ich sie umso verzweifelter, je mehr sie mich anklagte, ich "stünde auf | |
andere Frauen". Aber ich begann sie auch zu hassen, je länger sich dies | |
alles über Wochen, Monate und schließlich Jahre hinzog. Ich begann sie | |
unwillkürlich zu hassen, allmählich, gegen meinen Willen und trotz der | |
poetischen, schönen, erotischen, lustigen und vertrauten Tage und | |
Tagesfolgen (Wochen waren es nie), die sich zwischen unseren | |
Zusammenbrüchen ereigneten, zwischen den Katastrophen, die, je länger wir | |
zusammen waren, immer häufiger wurden wie die Einschläge einer langsam, | |
aber unaufhaltsam sich nähernden Front. | |
Denn die labyrinthisch-fraktale Deutung der endlos zwischen uns | |
verhandelten Ereignisse, ihre Unendlichkeitsform, ist durchaus nicht immer | |
und dauernd in Kraft gewesen. Während unserer schönen Tage habe ich oft | |
genug die Sprache auf die fehldimensionierte und dämonisch verzerrte | |
Deutung und Bedeutung zu bringen versucht, die alle möglichen Blicke, | |
Abende, Bemerkungen bei jedem Cross-over auf die Nachtseite unserer Liebe | |
unweigerlich wieder annahmen. "Baby, guck mal, wie wunderbar jetzt alles | |
zwischen uns ist", könnte ich in solch entspannten Augenblicken noch zwei | |
volle Jahre später vielleicht gesagt haben. "Und vorgestern haben wir über | |
den Abend mit A. im Piekny Pies diskutiert, bis wir uns nach Mitternacht | |
stundenlang anschrien, zwei Flaschen Wein und drei Schachteln Marlboro | |
intus hatten, und dann hast du auf meiner Brille rumgetrampelt und mein | |
Tagebuch vom Balkon geschmissen. Und jetzt sitzen wir hier verliebt auf dem | |
Sofa und trinken Champagner. Baby, du musst doch merken, wie sehr ich dich | |
liebe und wie absurd das alles ist." B.s Reaktion auf diese verbalen | |
Klärungsversuche war mit gewissen Variationen stets dieselbe. Sie verhielt | |
sich im Prinzip einerseits so, als sei die jüngst vergangene solche | |
Auseinandersetzung jetzt endgültig die letzte gewesen ("Wir haben das, | |
Baby, doch jetzt hinter uns"). Und sie schien die eklatartige, oft | |
gewalttätige Form dieser Auseinandersetzungen entweder für normal zu halten | |
oder vergessen zu haben ("Zeig mir ein Paar, das keinen, Baby, Streit hat") | |
- während mir in der Erinnerung an eine solche Höllennacht oft noch Tage | |
danach die Knie schwach wurden wie bei der Erinnerung an einen Autounfall. | |
Sie könnte dann zum Beispiel ihren berühmten Augenaufschlag hinter den | |
kastanienbraunen Flechten abgefeuert und, indem sie sich an mich kuschelte, | |
etwas gesagt haben wie "Hör jetzt doch, Baby, auf". | |
Die Apostrophe sind im Polnischen, anders als in unserer gemeinsamen | |
Paarsprache, ihrem brillanten und akzentfreien Deutsch (in dem man mit | |
einer Anrede allenfalls einen Satz beginnt) auf sehr expressive Weise frei | |
im Satz positionierbar. Was B. zu einem Feuerwerk von "Babys" auf den | |
ungewöhnlichsten syntaktischen Positionen nutzte. "Du darfst, Baby, davon | |
nicht immer wieder anfangen. Wir haben das doch jetzt, Baby, überwunden, | |
nicht wahr?" Und so wird mein oft geplanter Versuch, die Schleifen, Loops, | |
Lo-mos, Fraktale und Kommunikationszusammenbrüche, die sich seit Jahren | |
regelmäßig zwischen uns begaben, in guter Stimmung "vernünftig | |
durchzusprechen", einmal mehr daran gescheitert sein, dass ich angesichts | |
dieses Lächelns dieses halb geöffneten Mundes sowieso keinen klaren | |
Gedanken fassen konnte. Bis zum nächsten Flip-over ins dunkle Land. Ich mag | |
dann zum Beispiel schon tags darauf ein Bild von Scarlett Johansson im | |
Spiegel betrachtet oder gedankenverloren einer Kellnerin hinterhergesehen | |
haben, indem ich an etwas ganz anderes und bestimmt an nichts Erotisches | |
dachte. Während der dann erneut unvermeidliche Zusammenbruch sich | |
entfaltete und seinen Lauf nahm, war mit B. wiederum tagelang nicht zu | |
reden. Und wenn das vorbei war, schien sie vergessen zu haben oder redete | |
sie auf eine seltsame und mir immer unheimlichere Weise herunter, dass sich | |
etwas Derartiges je ereignet hatte. | |
Fast drei Jahre später, nach einem langen Telefongespräch, nahm ich mir an | |
einem kalten und verzweifelt poetischen Märzabend (wir waren nach einer | |
langen Folge von immer unerträglicheren Zusammenbrüchen in einem lichten | |
Moment gemeinsamer Vernünftigkeit übereingekommen, dass sie eine Weile zu | |
ihren Eltern fahren sollte) das letzte Mal vor, aufs Ganze zu gehen: Sie | |
auch durch ihre Schübe zu tragen, sie zu ertragen, sie zu lieben und zu | |
verehren, sogar wenn sie mich beschimpfte und beschuldigte. Ich dachte in | |
einer schlaflosen Nacht ein paar Tage vor ihrer Ankunft so sehnsüchtig an | |
sie wie nie zuvor, unendlich erleichtert darüber, dass ich sie mir doch | |
nicht aus dem Kopf schlagen und aus dem Herzen würde reißen müssen. Am | |
ersten Abend nach ihrer Rückkehr, wir hatten in einem schönen und teuren | |
Lokal auf dem Hauptmarkt im Freien gegessen, ging eine sehr hübsche Frau am | |
Arm ihres Freundes an unserem Tisch vorbei. Die plötzlich wieder ganz von | |
eisiger Gespensterluft eingeschlossene B. sagte, aus heiterem Himmel in | |
jenen Ton verfallend, als werde sie mir gleich ins Gesicht schlagen, sie | |
verstehe mich einfach nicht. Wie könne ich eine Frau wie die schöne | |
Passantin unattraktiv finden, nur weil sie nicht blond sei? Ich konnte es | |
minutenlang nicht fassen. Denn es ging wieder los, ungebremst, unbelehrt, | |
zwanghaft, immer wieder der alte Dreck, vorgebracht mit immer wieder neuer | |
Kraft und Schonungslosigkeit, mit denselben Formeln, in denselben | |
Entfaltungsphasen des Wahns. Ausgehend vom Eröffnungszug einer abrupt und | |
absurd in den Raum gestellten Behauptung, stürzten wir uns in die | |
Beteuerungsphase ("Baby, das stimmt doch alles gar nicht; ich fand diese | |
Frau schon attraktiv; beziehungsweise bestimmt nicht deshalb unattraktiv, | |
weil sie nicht blond war"; und so weiter, in die vollkommene Konfusion | |
hinein, in der ich mich schon wieder um Kopf und Kragen redete). Dann | |
leitete B. die Phase der Beweisaufnahme ein. Die Dokumente, Erinnerungen, | |
Mikroskopierungen aus dem unerschöpflichen Archiv ihres Misstrauens | |
erschienen wieder ("Aha, aha") und der Höllensturz (so bezeichnet es die | |
Versuchsperson K. noch im Rückblick resigniert und beschämt) ging weiter | |
hinab in die Verzweiflung, die Zigaretten, das Beschimpfen und das Trinken | |
hinein, bis zum Zusammenbruch, zum Weinen, zum Todtraurig-ins-Bett-Gehen. | |
Eifersucht eines gewissen Extremitätsgrads, scheint mir, indem ich über | |
Ereignisse, Zustände, Verstrickungen und Verzweiflungen wie die hier | |
geschilderten in meiner wiedergewonnenen Freiheit und Einsamkeit nachdenke, | |
löst die Lebensumstände zunächst eines (und dann sehr schnell zweier) | |
Menschen aus dem Kontext, den wir konventionell als "die Welt" bezeichnen | |
und der in dieser Gefühls- und Maßstabsverwirrung eigentümlich dynamisiert | |
und gleichsam verflüssigt wird. Solche Eifersucht, man kann es nicht | |
undramatischer sagen: löst die Welt auf - und zwar durch eine | |
metastasenartige Zellteilungsexplosion des Zweifels, einer Funktion des | |
Seelenlebens, die in ökologisch ausbalancierter Dosierung für erfolgreiche | |
Orientierung in allen Zusammenhängen unabdingbar ist und übrigens die | |
Grundlage aller modernen Philosophie seit René Descartes darstellt. Freud | |
hat die Entstehung des Zweifels in der Geschichte der Seelen mit den | |
Zumutungen und Kränkungen der Geschwisterrivalität erklärt. | |
Zweifel, schreibt Freud, ist eigentlich immer "ein Zweifel an der Liebe, | |
die ja das subjektiv Sicherste sein sollte, der auf alles übrige | |
diffundiert und sich vorzugsweise auf das indifferenteste Kleinste | |
verschoben hat. Wer an seiner Liebe zweifelt, darf, muss doch auch an allem | |
anderen, Geringeren zweifeln?" Zweifel ist die erste und elementarste | |
Manifestation der Denkfähigkeit. Sein Anlass ist der Verlust von | |
Elternliebe oder der Kummer, sie mit Geschwistern teilen zu müssen. "Unter | |
der Anregung dieser Gefühle und Sorgen kommt das Kind nun zur Beschäftigung | |
mit dem ersten, großartigen Problem des Lebens und stellt sich die Frage, | |
woher die Kinder kommen, die wohl zuerst lautet, woher dieses einzelne | |
störende Kind gekommen ist Die Frage selbst ist, wie alles Forschen, ein | |
Produkt der Lebensnot, als ob dem Denken die Aufgabe gestellt würde, das | |
Wiedereintreffen so gefürchteter Ereignisse zu verhüten." | |
annst du mir, Baby, nicht einfach mal ganz ehrlich sagen, wieso blonde | |
Frauen auf dich eine derartige Anziehungskraft haben? Wenn es, Baby, nicht | |
irgendwie rassistisch wäre, könnte ich mir fast vorstellen, dass das mit | |
deinen germanischen Vorfahren zu tun hat | |
B., bitte. Fangen wir nicht wieder davon an, okay? | |
Was hast du, Baby, zu verbergen? | |
Nichts, wirklich. Überhaupt nichts. Es ist nur einfach gar nicht wahr, dass | |
blonde Frauen auf mich eine besondere Anziehungskraft ausüben. | |
Warum stehst du dann auf A.? | |
Ich stehe nicht auf A. Bitte, bitte hör auf damit. Ich komme allmählich in | |
eine totale Panik hinein, wenn du damit wieder anfängst. Wir haben schon so | |
unendlich oft über A. gesprochen. Du weißt doch, wo das endet. | |
Warum weichst du, Baby, mir aus? Ich weiß, dass du auf A. stehst. Neulich | |
hast du gesagt, du fändest sie attraktiv. | |
Erstens ist das nicht dasselbe wie "auf jemanden stehen", und zweitens hast | |
du mich einen ganzen Abend so lange darüber verhört, dass ich völlig wirr | |
war. | |
Warum verwirrt A. dich? Weil sie blond ist? | |
Baby, es geht schon wieder los. Baby, bitte. Ich stehe nur auf dich. Andere | |
Frauen mögen attraktiv sein, aber ich liebe nur dich, und du bist für mich | |
die schönste Frau, die ich kenne. | |
Du gibst also zu, dass du A. attraktiv findest. Allmählich kommt es mir | |
sehr seltsam vor, wie oft du von ihr sprichst. Du bist regelrecht besessen | |
von dieser Schlampe. Wenn du glaubst, dass ich heute Abend mit dir auf | |
deinen Scheißempfang gehe, bist du verrückt. Geh ruhig alleine. Viel Spaß | |
dabei, blonde Frauen anzuglotzen. | |
Baby, bitte | |
Und so weiter. Die seltsam fehlgeleitete Denktätigkeit B.s zeigte an den | |
Nachmittagen, Morgen, Abenden ihres monomanischen Kreisens eine wirklich | |
monströse Legierung aus Scharfsicht und Stupidität. Eine Art böse | |
fundamentalontologische Genialität war über dieses an ihren guten Tagen | |
harmlose, gutmütige, von philosophischen Interessen ganz unangekränkelte | |
Mädchen gekommen, eine Durchtriebenheit, eine bedingungslos übelwollende | |
Wucherung von Geist, die mir wie ein Seelenkrebs oder manchmal sogar | |
wirklich als eine Art Besessenheit vorkam. Und zugleich hatte ich in diesen | |
Endlosschleifen das unabweisbare Gefühl, dass ich jetzt in einem Film | |
mitspielte, dessen Drehbuch ich nicht kannte und von dem ich mit Sicherheit | |
nur wusste: dass nicht ich hier der wirkliche Held war. Mir war die | |
Darstellung einer Figur zugemutet und aufgebürdet, die ich nicht kannte, | |
die mir widerlich war und die vor allem - sehr kränkenderweise: nicht ich | |
war. Es ist überraschend schwierig, sich ein klares Bild zu machen von der | |
Figur, die man im Seelenleben eines anderen Menschen vorstellt. Wenn ich | |
versuchen wollte, die Konturen des Schattens nachzuzeichnen, zu dem ich in | |
unseren bösen Tagen und Nächten geworden war, käme eine Art promiske | |
Vaterfigur heraus, ein untreuer Beschützer, den man nicht verlassen, aber | |
auf dessen Liebe man doch nicht zählen kann, weil er auf Schritt und Tritt | |
zur Zeugung von Rivalinnen ansetzt ("wenn ich meinen Vater nicht in Schach | |
halte, wird ein Heer von Geschwistern ihn von mir trennen"). Wovon man ihn | |
durch endlose Beweisführungen, Einschüchterungen, Verhöre, Grübeleien, | |
Materialsammlungen, Zweifel und Verwicklungen abhalten muss ("als ob dem | |
Denken die Aufgabe gestellt würde, das Wiedereintreffen so gefürchteter | |
Ereignisse zu verhüten"). B.s verzweifeltes Grübeln, Verdächtigen, | |
Argumentieren war - so lege ich mir das Unbegreifliche, nachdem ich mich | |
davon losgerissen habe, jetzt manchmal zurecht - der Versuch, eine ihr | |
irgendwie bevorstehende innere Katastrophe durch einen metastasenartig | |
wuchernden Denkakt einzuholen, darzustellen und eine Weile lang | |
aufzuhalten. Der Geist, den B. am Rand des Abgrunds zeigte, war ein | |
verzweifeltes Manöver, in jenes Bodenlose nicht abzustürzen. | |
Welche Bücher einem zu welchem Zeitpunkt in die Hände fallen, scheint mir | |
nicht zuletzt parapsychologisch bedingt. Jeder, der regelmäßig in | |
Buchhandlungen stöbert, Zeitungen liest, mit anderen Lesern redet, kennt | |
das zugleich erheiternde und unheimliche Phänomen, dass eine Mischung aus | |
Zufall, Begegnungen mit Menschen, zu ominösen Zeitpunkten veröffentlichten | |
Rezensionen und jenem schwer bestimmbaren X-Faktor einem in konkreten | |
Lebenssituationen Bücher zuspielt, die - manchmal Jahrhunderte zuvor -wie | |
eigens für diesen Moment im eigenen Leben geschrieben worden zu sein | |
scheinen. In dieser Weise habe ich neulich begonnen, mich in Ludwig | |
Wittgensteins Aufzeichnungen "Über Gewissheit" festzulesen, die er vor | |
seinem Tod zu Beginn der Fünfzigerjahre in verschiedene Hefte eingetragen | |
hat, bevor sie posthum herausgegeben wurden und jetzt als "Bibliothek | |
Suhrkamp"-Bändchen in den Bibliotheken und Buchhandlungen stehen, als seien | |
sie eine wohldurchdachte philosophische Monografie. | |
Dabei hat mich schon beim ersten Blick in diese durchnummerierten | |
Gedankensplitter fasziniert, dass sie die Partitur einer über Wochen und | |
Monate fortgesetzten Denkperformance sind - und dass sie den Erwägungen B.s | |
über meine Untreue vollkommen gleichsehen - wenn man den, freilich | |
entscheidenden, Umstand weglässt, dass Wittgenstein die kritische (und wie | |
sich bald zeigt: vernichtende) logische Untersuchung des Unbezweifelbaren, | |
anders als B., nie völlig abgleiten lässt in das Bodenlose des Grübelns und | |
dann schon bald des wirklichen Wahnsinns. Sondern dass er die Höllenhunde | |
des Zweifels nie ganz von der Leine des Verstands und des Wachbewusstseins | |
losbindet - wenn er ihnen auch, so viel muss gesagt sein, sehr viel | |
Spielraum gibt und sie fast skandalös weit ins Unterholz des Irrsinns (das | |
mir inzwischen ebenfalls bekannt ist) vordringen und sich zeitweilig darin | |
verlieren lässt. Das Ergebnis dieser philosophischen Untersuchung (sagt | |
K.), das mir an einem noch oder schon wieder ziemlich verzweifelten Abend | |
der Trennungszeit in einem spätnachmittäglich halbdunklen Café der Münchner | |
Amalienstraße klar geworden ist, indem ich Wittgensteins "Über Gewissheit" | |
sinken ließ und in das sich sammelnde schwarzblaue Dunkel des | |
Dezemberspätnachmittags hinaussah, besteht im Grunde darin, dass | |
tatsächlich keine Gewissheit darüber zu erlangen ist, ob nicht in | |
Wirklichkeit kleine grüne Männchen die Welt regieren, ob meine Füße, wenn | |
sie unter dem Tisch stehen, nicht in Wirklichkeit schon verschwunden sind, | |
ob ich B. nicht in Gedanken laufend betrüge, dass dies meine Hand ist. Es | |
gibt kein logisches Argument gegen den Zweifel. | |
Auf dem Grund allen sinnvollen Denkens liegt keine logische Ableitung, | |
Überlegung, Beweisführung, sondern paradoxerweise vielmehr eine Handlung. | |
Ein Akt des Weltvertrauens. Ein Sprung über den Abgrund des Zweifelns auf | |
das rettende Ufer des Glaubens. "Warum überzeuge ich mich nicht davon, dass | |
ich noch zwei Füße habe, wenn ich mich von dem Sessel erheben will? Es gibt | |
kein Warum. Ich tue es einfach. So handle ich", las ich (so K.) und dachte, | |
während im Café die Lichter angingen, an B., die, wenn es um meine Liebe | |
und Treue ging, geistig eben einfach anders gehandelt hat. "Die | |
Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen", | |
erklärte mir Wittgenstein und dann, schon völlig wie für mich und B. | |
hingeschrieben, in mich nun wirklich erschütternder Tragik: "Du musst | |
bedenken, dass das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich | |
meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es | |
steht da - wie unser Leben." Wie das Leben, dachte ich, das ich jetzt | |
verlassen musste, weil es mich zu einer Person verändert hätte, die ich | |
nicht mehr wiedererkennen würde oder kennenlernen wollte. | |
ch habe in meinem eigenen Leben und Seelenleben nur ein einziges schwaches | |
Analogon zu dem weltauflösenden Zweifel B.s an mir: Es ist der eigentlich | |
nur durch einen Akt des Lebens und des nicht begründbaren Vergessens zu | |
beseitigende Zweifel daran, dass ich zu Hause wirklich alles ausgemacht | |
habe, bevor ich wegging, und ob dort nicht doch längst alles in Flammen | |
steht, während ich hier in Lanzarote vergeblich versuche, meinen Urlaub zu | |
genießen. Es ist nicht unendlich sicher, sooft ich auch zurückgegangen sein | |
mag, um nachzusehen, ob die Knöpfe am Herd auch wirklich alle senkrecht | |
stehen. "Ich werde eine Multiplikation zur Sicherheit vielleicht zweimal | |
rechnen, sie vielleicht von einem anderen nachrechnen lassen. Aber werde | |
ich sie zwanzigmal nachrechnen oder sie von zwanzig Leuten nachrechnen | |
lassen? Und ist das eine gewisse Fahrlässigkeit? Wäre die Sicherheit bei | |
zwanzigfacher Nachprüfung wirklich größer?" Es gibt keine logische Waffe | |
gegen den Zweifel, ob ich nicht in genau dem Moment, als ich mir sagte: | |
"Ja, sie stehen alle senkrecht", nicht momentan umnachtet war oder einer | |
Bewusstseinsstörung unterlag. Und ich erinnere mich daran, dass ich in | |
meiner Zeit als junger Ehemann, als diese Unsicherheiten ein Jahr lang | |
besonders quälend waren, mit meinem Psychoanalytiker herausfand, dass | |
dieser Zweifel am Ausmachen des Herds nichts ist als der verschobene | |
Kinderzweifel, ob meine Mutter mich nicht im nächsten Moment verstoßen und | |
fallen lassen würde, was (so K. in der ihm eigenen Resignation) so absurd | |
klingt wie alle psychoanalytischen Untersuchungsergebnisse, die man nicht | |
am eigenen Leib erarbeitet hat. | |
Nicht nur die Mathematik der Fraktale operiert demnach an der Grenze zum | |
Unendlichen, sondern auch die moderne Logik. Und vollends die Physik der | |
Neuzeit entsteht aus der epochalen Verwirrung darüber, dass die von Newton | |
entdeckten Gesetze im atomaren und subatomaren Bereich, der zu Beginn des | |
Jahrhunderts in den Bereich der Beobachtbarkeit eintrat, zu absurden | |
Ergebnissen führen. Max Planck hat damals entdeckt, dass Energie von | |
Körpern nur in bestimmten Quanten abgegeben und aufgenommen wird (wäre es | |
anders, wäre die abgegebene Energie mikroskopischer Wellenlängen unendlich; | |
es träte eine "Ultraviolettkatastrophe" ein). In der Quantenmechanik meines | |
Unglücks mit B. ist diese Katastrophe nie eingetreten. Wir blieben bis zum | |
Schluss immer weiter zusammen. Aber ich musste in vielen gestörten Tagen | |
und Nächten lernen, dass die Frau, die ich liebte, nicht anders konnte, als | |
ein für meine Verdammung ausreichendes Quantum an Untreue aus den | |
Begebenheiten unserer gemeinsamen Welt herauszuschneiden und in sich | |
aufzunehmen. Die Begebenheiten der Welt verändern sich durch Beobachtung. | |
Sie nehmen kranke Unendlichkeit an, wenn man lange genug hinsieht. | |
Die Küste von England ist in Wirklichkeit unendlich lang. Nur unser | |
spezifisches Quantum an Genau-sein-Können und Genau-wissen-Wollen | |
verhindert die Ultraviolettkatastrophe eines nicht mehr zu beendenden | |
Grübelns über ihre Länge. | |
Und auch das Quantum an Betrogensein, das B. brauchte, um in der ihr von | |
Kindheit an bestimmten Hölle zu bleiben, war unabhängig davon, was ich in | |
der Welt (es gab "die Welt" für uns beide nicht mehr) tat, unterließ und | |
was in unser beider Leben mit anderen Menschen der Fall war. | |
8 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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