# taz.de -- Marginalisierte Lyrik: Angebot einer Denkweise | |
> Lyrik gedeiht. Derzeit erscheinen viele bemerkenswerte Gedichtbände. Was | |
> muss getan werden, damit sie auch bei den Lesern ankommen? | |
Bild: „Die Nützlichkeit der Lyrik manifestiert sich nicht in der raschen Bef… | |
Unzufrieden mit der Rezeption seines Werkes in der Börsenstadt Frankfurt, | |
beklagte Friedrich Hölderlin 1798 in einem Brief: „Wir leben in dem | |
Dichterklima nicht. Darum gedeiht auch unter zehn solcher Pflanzen kaum | |
eine.“ In mancher Hinsicht hat sich dieses Klima inzwischen deutlich | |
verbessert, dennoch spielt die Lyrik in der Wahrnehmung der Gesellschaft | |
nach wie vor keine wichtige Rolle. | |
Das erstaunt umso mehr, als die Lyrik auf engstem Raum höchsten | |
sprachlichen Genuss bereiten kann und ein sensibles Medium der aufmerksamen | |
Beobachtung ist, das immer wieder dazu aufruft, kritisch über die Gegenwart | |
nachzudenken und ihre Entwicklungen zu hinterfragen. Weint man ihr bloß | |
einige Tränen des Bedauerns nach, übersieht man, dass ihre geringe | |
Bedeutung auch ein Indiz für den Zustand der Gesellschaft darstellt. | |
Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass der Nichtbeachtung der Lyrik | |
ihre überwältigende Fülle gegenübersteht. Mitnichten führt die Lyrik ein | |
Nischendasein, wie man ihr häufig nachsagt, und es sind wohl in der | |
Hauptsache sprachliche Barrieren, die zuweilen aus unserem Bewusstsein | |
rücken, welcher allein quantitative Reichtum europa- und weltweit | |
existiert. | |
Dennoch hat wahrscheinlich jeder Lyriker den Satz, dass man Lyrik nicht | |
brauche, dass man gut ohne sie auskomme, so oder ähnlich formuliert schon | |
einmal gehört. Für sich genommen wäre dies nicht beunruhigend, gibt es doch | |
etliche Wissensbereiche, ohne deren intime Kenntnis man überleben kann – | |
keimte da nicht der Verdacht auf, dass das schwindende Interesse an Lyrik | |
irgendwie mit dem zunehmenden Unvermögen korrespondiert, dem intrinsischen | |
Wert der Dinge auf vielfältigere und subtilere Weise zu begegnen als mit | |
Coolness oder Ironie. | |
Allgemein gesagt: Lyrik ist das Angebot einer nicht primär auf | |
Informiertheit und Effektivität gegründeten Denkweise in einer anderen | |
Sprache als der des täglichen Umgangs. Darin besteht ihr Wert und ihre | |
Stärke, darin besteht leider auch ihre Problematik hinsichtlich der | |
Rezeption. | |
Der amerikanische Dichter Ted Kooser, Poet Laureate von 2004 bis 2006, hat | |
es sympathisch schlicht auf den Punkt gebracht: „Das fehlende Interesse des | |
Landes an Dichtung liegt zum Teil darin begründet, dass die meisten von uns | |
in der Schule gelernt haben, dass die Bedeutung eines Gedichts | |
herauszufinden viel zu viel Arbeit ist.“ Doch nur mit dem Verständnis ist | |
es nicht getan, weil die Nützlichkeit der Lyrik eben keine nach Maßgabe | |
gegenwärtig präferierter und allenthalben propagierter Normen ist. Sie | |
manifestiert sich nicht in der raschen Befriedigung einfacher Bedürfnisse. | |
## Braucht es eine Beigabe? | |
Bei Lesungen zählt nämlich heute oft vor allem der Eventcharakter; das | |
Extravagante, Laute und Skurrile beansprucht die Aufmerksamkeit für sich, | |
drängt Stilles, Ernsthaftes, Differenziertes an die Ränder. Nun soll nicht | |
in Abrede gestellt werden, dass Musik eine Lesung sinnvoll untermalt oder | |
dass berühmte Schauspieler eindrücklich rezitieren, dennoch scheint die | |
Lyrik mehr und mehr einer unterhaltsamen Beigabe zu bedürfen, um noch | |
attraktiv zu sein. | |
Dabei brauchen Gedichte nur jemanden, der willens ist, nicht bloß zu | |
konsumieren, sondern sich konzentriert auf eine Sache einzulassen, sich ihr | |
behutsam anzunähern und selbst ein gelegentliches Stocken nicht als | |
hinderlich, vielmehr als bereichernd zu empfinden. Entspinnt sich auf diese | |
Weise ein Gespräch mit dem Text, wird sogar das einsame Lesezimmer nicht | |
als Isolation empfunden. | |
Es gibt keinen Grund, in Kulturpessimismus zu verfallen. Nachdem sich die | |
Lyrik einige Zeit lang in ihrer Spracherkundung selbst genug war, wird seit | |
ein paar Jahren wieder eine hohe Anzahl bemerkenswerter Gedichtbände | |
veröffentlicht. | |
Carsten Zimmermann zum Beispiel macht philosophische Reflexion lyrisch, | |
José F. A. Oliver katalogisiert die Welt mit unerhörten Wortkombinationen, | |
Lisa Elsässer schafft aus alltäglichen Situationen avancierte | |
Sprachgebilde, Johannes Kühn und Klaus Anders nutzen die Spannweite des | |
traditionellen Tons, Martina Hefter lädt die Worte zu einem Tanz | |
wechselnder Bedeutungen ein. Die Liste quer durch alle Stilrichtungen ließe | |
sich noch verlängern um Ulrich Koch, Jürgen Nendza, Esther Kinsky, Olaf | |
Velte, Thilo Krause, Walle Sayer: sie seien stellvertretend genannt und | |
belegen, dass Qualität keine Scheuklappen trägt. Zudem erweist sich, dass | |
oft gerade die weniger bekannten Stimmen aus echter Dringlichkeit | |
schreiben. | |
## Gerade Entscheidern fehlt die nötige Aufmerksamkeit | |
Warum also gedeiht die Lyrik, ohne dass sie die ihr gebührende Anerkennung | |
bei einer breiteren Leserschaft findet? Warum fallen verdiente Autoren wie | |
Klaus Demus vollkommen aus der Wahrnehmung selbst bei versierten Lesern? | |
Ist dafür vielleicht die verschiedentlich beklagte „Infantilisierung der | |
Gesellschaft“ verantwortlich, welche beispielsweise auch die Essayistin | |
Hannelore Schlaffer in ihrem jüngsten Buch konstatierte? Schlaffer begreift | |
dies als eine Auswirkung der um sich greifenden Geringschätzung all dessen, | |
was nicht unmittelbar zu wirtschaftlichem Nutzen beiträgt, eine | |
Entwicklung, zu der in erster Linie nicht die sogenannten bildungsfernen | |
Schichten, sondern die gesellschaftlich Bevorzugten beitrügen. | |
Tatsächlich lässt sich beobachten, dass es in Kreisen von | |
Entscheidungsträgern zunehmend verpönt zu sein scheint, jenseits von | |
Popularität und Quote das Nachhaltige und Hochwertige mit Aufmerksamkeit | |
und Mitteln zu bedenken. Ausnahmen gibt es freilich; an der Tendenz ändert | |
das nichts. | |
Selbst innerhalb des Literaturbetriebs ist die Lyrik marginalisiert. Die | |
Romanform verdrängt derzeit andere Gattungen aus der Wahrnehmung; der | |
Deutsche Buchpreis und der Schweizer Buchpreis schließen die Lyrik sogar | |
explizit aus. Den großen Verlagen kann man ihr marktorientiertes Denken | |
nicht generell vorwerfen, allenfalls den abnehmenden Mut, die Leser mit | |
neuen Stimmen vertraut zu machen. | |
Aber die limitierten Vorstellungen der eigentlich literaturfördernden | |
Instanzen mögen mithin ein Grund dafür sein, dass die Vielfalt in der Lyrik | |
zögerlich nach außen – das heißt: zu den Lesern hin – getragen wird. War… | |
wagen Juroren so selten einmal unbequeme Entscheidungen, damit nicht immer | |
wieder dieselben Namen im Gespräch sind? Warum orientieren sich die | |
Feuilletons so häufig an Bekanntem? Da ist es konsequent, dass sich vieles | |
ins Internet verlagert, die dortigen Plattformen bieten kostengünstigen | |
Raum, ermöglichen weite Verbreitung, leichten Zugang und schnelle | |
Übersicht. Andererseits laufen sie Gefahr, vornehmlich ein ohnehin bereits | |
spezialisiertes Publikum zu erreichen. | |
## Was tun? | |
Was könnte helfen, die Vielfalt des Gedichts zu erhalten und das | |
„Dichterklima“ zu verbessern? Mir scheint zweierlei unabdingbar: Die | |
mediale Aufmerksamkeit müsste dezentralisiert werden, denn es ist nicht | |
alles „Provinz“, was sich außerhalb Berlins oder Leipzigs befindet, | |
künstlerisches Potenzial kann man überall entdecken, es entfaltet sich an | |
den Peripherien oftmals eigener als in den Schutzzonen der Metropolen. | |
Darüber hinaus sollten Preise und Stipendien der vorhandenen Vielfalt | |
stärker als bisher Rechnung tragen; deren mangelnde Unterstützung setzt | |
nämlich einen Teufelskreis in Gang, der am Ende die Argumentation stützt, | |
es existiere diese Vielfalt gar nicht. Einschränkende Stipendienkriterien | |
wie Alter, Wohnort, Geschlecht, Thema etc. sind natürlich einerseits | |
sinnvoll, schließen andererseits eine Majorität aus und berücksichtigen vor | |
allem nicht immer die realen Lebensverhältnisse der Autoren. | |
Offenheit in dieser Hinsicht gäbe auch jenen Stimmen einen Raum, die weder | |
zugkräftige Namen besitzen noch mit werbewirksamer Gestik auftreten | |
möchten. Dann mag auch mancher Leser seine Scheu vor der Lyrik verlieren, | |
weil er findet, was ihm verständlich und begreiflich ist. Der italienische | |
Dichter Giovanni Raboni behauptete in einem seiner Essays, dass es neben | |
den bekannten Strömungen und Ismen eine „Duplizität der Linien“, „mit e… | |
Wort: ein doppeltes 20. Jahrhundert“ gegeben habe. Diese doppelte Linie der | |
selten gehörten Stimmen setzt sich in unserem Jahrhundert fort; sie | |
freizulegen und zu befördern wäre eine lohnende Aufgabe. Eine Gesellschaft | |
indes, deren kulturelle Landschaft verarmt, verliert eines Tages womöglich | |
auch das Klima, in dem sich humanitäre Gedanken und Ideen verbreiten | |
können. | |
7 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Brôcan | |
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