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# taz.de -- Neuer Roman „Auf der Lichtung“: Die erste Zelle einer besseren …
> Geschichte als Metapher: Aharon Appelfeld erzählt in „Auf der Lichtung“
> von einer jüdischen Widerstandsgruppe in den Karpaten.
Bild: Irgendwo dort spielt der Roman: die Hohe Tatra in den Karpaten.
Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld stammt aus einer
untergegangenen Welt. Geboren 1932 im multikulturellen Czernowitz (heute
zur West-Ukraine gehörig), wuchs er zunächst dreisprachig auf, bis seine
Kindheit im Jahr 1940 ein jähes und frühes Ende fand.
Die Mutter wurde ermordet, der Junge, der damals noch Erwin hieß, mit dem
Vater in ein Lager verschleppt, aus dem er fliehen und sich bis Kriegsende
durchschlagen konnte – zum Schluss als Küchenjunge bei der Roten Armee.
Zwanzig Jahre nach ihrer Trennung fanden Sohn und Vater sich wieder.
In seinem umfangreichen Oeuvre hat Appelfeld Themen aus seiner
osteuropäischen Vergangenheit und der Zeit der Judenvernichtung immer
wieder umkreist. Sein neuester Roman „Auf der Lichtung“ spielt im letzten
Kriegsjahr und ist geschrieben aus der Perspektive eines Jugendlichen, nur
wenige Jahre älter, als der junge Aharon Appelfeld es am Ende des Krieges
war.
Was, wenn der Autor selbst drei Jahre älter gewesen wäre und in einer
jüdischen Widerstandsgruppe hätte kämpfen können? Die Geschichte eines
solchen „Was wäre, wenn“ erzählt „Auf der Lichtung“. Und darum eignet
diesem Roman wohl auch etwas so Träumerisches, Schwebendes, gar nicht
wirklich Realistisches. Die Realität wird hier mit den Mitteln der
Literatur transzendiert.
## Abhängigkeit von der ersten Jugendliebe
„Mein Name ist Edmund“, hebt der Roman an, doch weniger vom
tagebuchschreibenden Ich-Erzähler selbst wird er handeln als von der
Gruppe, in der er aufgehoben ist und die ihn trägt. Der ehemalige
Gymnasiast Edmund hat trotz seiner jungen Jahre schon ein eigenes Päckchen
an Schuld zu tragen. Nicht nur die Tatsache, dass er flüchten konnte,
während seine Eltern beim „Abtransport“ zurückblieben, quält ihn, sondern
auch sein Verhalten zuvor, als die Mutter schwer krank war, der Vater allen
wertvollen Besitz für Medizin versetzen musste, Edmund jedoch in so
wahnhafter Abhängigkeit von seiner ersten Jugendliebe gefangen war, dass er
nicht einmal die Qualen seiner Mutter wahrnahm.
Jetzt aber ist er Teil einer jüdischen Widerstandgruppe, die ihren
Stützpunkt in den Bergen der Karpaten hat. Knapp unter fünfzig Menschen
zählt die Gruppe zu Beginn, darunter nur zwei Frauen und zwei Kinder. Der
charismatische Anführer Kamil führt seine Männer mit großer Umsicht, fällt
jedoch manchmal in so schwere Depressionen, dass sein Stellvertreter für
ihn einspringen und die Aktionen der Truppe anführen muss.
Zu Beginn ist die Gruppe ausschließlich damit beschäftigt, ihr Überleben zu
sichern. Die Kämpfer überfallen einsam gelegene Bauernhäuser, um an
Essbares zu kommen, und liefern sich Scharmützel mit faschistischen
Patrouillen, die nach Partisanen suchen. Bevor ihr Versteck im Sumpfland
entdeckt werden kann, zieht die Gruppe weiter und schlägt ein neues Lager
hoch in den Bergen auf. Als Kamil befindet, dass sie sicher genug seien,
beginnt die Gruppe Anschläge auf Züge zu verüben, mit denen Juden in die
östlicher gelegenen Todeslager transportiert werden.
Es gelingt ihnen, zahlreiche Gefangene zu befreien. Der Zuwachs an
Schwerkranken und Halbverhungerten bringt für das Lager jedoch neue
logistische Probleme mit sich. Ein Arzt muss entführt und gefangengehalten
werden; die Lebensmittelvorräte gehen schnell zur Neige. Schließlich wird
das Lager in den Bergen entdeckt.
Doch während all diese großen Dramen und sehr praktischen Schwierigkeiten
zwar durchaus thematisiert werden, stehen sie keineswegs im Mittelpunkt von
Edmunds Erzählung. Die wichtigen kleinen Dinge des Alltags wiederum – wie
baut man eine Erdhöhle, wie kalt ist es morgens in den Bergen, wie wäscht
man sich –, spielen schon gar keine Rolle. Die Erzählung kreist vielmehr
ums Immaterielle, um menschliche Werte und die Persönlichkeiten der
einzelnen Individuen, die den einzigartigen Geist dieser Widerstandsgruppe
ausmachen.
## Nostalgische Rückschau
Das ist ganz im Sinne der abendlichen Gespräche in der Gruppe, bei der
„einer der Kämpfer sagte, man dürfe die Menschen nicht zusammenfassen. Es
sei besser, immer nur an einen einzigen zu denken.“ So sind es auch die
einzelnen, die die Gruppe ausmachen. Isidor der Vorbeter, Felix der
Stoiker, Zila die Köchin. Geprägt wird die Gruppe von der Persönlichkeit
des Anführers Kamil, eines unbeirrbaren Menschenfreundes, der seine hohen
moralisch-philosophischen Maßstäbe mit Phasen der psychischen Erkrankung
bezahlt.
Es ist eine bessere, humanere Welt im kleinen Maßstab, die von den
Widerständlern in den Karpaten vorgelebt wird. Eine Welt, die in der
Erzählung Appelfelds aber in so vieler Hinsicht von den realen
(Über-)Lebensbedingungen unbeeinträchtigt scheint, dass ihre Perspektive
weniger historisch bedingt erscheint als utopisch. Fast könnte man meinen,
dass sich in einer gleichsam nostalgischen Rückschau eine politische
Perspektive öffnet: seht her, eine wehrhafte zionistische Zelle inmitten
der Verheerungen des Holocaust.
Mag sein, dass der Entwurf dieser kleinen Utopie auch deshalb so tröstlich
erscheint, weil der Roman ja im vollen Bewusstsein ihrer Erfüllung im
Großen geschrieben wurde. Man muss nicht sehr weit zwischen den Zeilen
lesen, um in „Auf der Lichtung“ auch eine Metapher auf den Staat Israel zu
sehen.
19 Aug 2014
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
zionismus
Israel
Israel
Holocaustüberlebende
Literatur
Lemberg
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