# taz.de -- Erster Weltkrieg und die Ukraine: Die alte Grenze prägt bis heute | |
> Der Westen der Ukraine gehörte bis zum Ersten Weltkrieg den Habsburgern. | |
> Von deren Toleranz profitierten die Kultur – und der Nationalismus. | |
Bild: Lemberg heute: eine Mischung aus Tradition und Moderne. | |
LEMBERG taz | Die alte Grenze liegt kurz hinter Brody, etwa 100 Kilometer | |
nordöstlich von Lemberg an der Straße nach Kiew. Der genaue Ort ist schwer | |
zu finden. Ein Tankwart kann schließlich Auskunft geben. Er verweist auf | |
einen alten Schuppen, an dessen Mauer noch der Name einer längst | |
geschlossenen Schenke steht: „An der Grenze“. Bis zu diesem Ort in der | |
heutigen Westukraine reichte einst das Gebiet der k. u. k. Monarchie | |
Österreich-Ungarn. Dahinter begann dass Russische Reich. | |
1772, bei der ersten Teilung Polens, war Galizien an Österreich gefallen. | |
Das zum Grenzort gewordene Brody profitierte zunächst, es lag in einer | |
Freihandelszone und florierte als Handelsstadt. Aber nicht lange. Schon | |
hundert Jahre später war es nur noch ein Provinzkaff mit Garnison, die | |
letzte Stadt vor der russischen Grenze. | |
Auch heute geht es dem Städtchen mit rund 20.000 Einwohnern nicht gerade | |
gut. Der abbröckelnde Putz an den wenigen erhaltenen Häusern aus der | |
Gründerzeit erinnert an den Untergang der k. u. k. Monarchie und die | |
schäbigen Fassaden der Plattenbauten an den Untergang der Sowjetunion. Die | |
Begeisterung für die Habsburger Zeit und auch die Erinnerungen an die | |
jüdische Geschichte hält sich hier in Grenzen. | |
Immerhin wird der alte jüdischen Friedhof, einer der größten Osteuropas, | |
seit einigen Jahren von einem internationalen Team saniert. Ein weiterer | |
jüdischer Friedhof hatte nicht so viel Glück. Heute weiß vor Ort kaum | |
jemand mehr, dass es ihn überhaupt gab, auf dem Gelände nur wenige Meter | |
neben dem Gymnasium wurde in der Sowjetzeit ein Sportplatz gebaut. Heute | |
spielt hier ein Fußballverein. | |
## Beinahe komplett von der Oberfläche verschwunden | |
Der Zweite Weltkrieg hat das jüdische Leben in Brody ausgelöscht – und die | |
anschließende Sowjetzeit auch die Erinnerung daran. Das Städtchen war im | |
Zweiten Weltkrieg nach der Kesselschlacht von Brody im Sommer 1944 beinahe | |
komplett von der Oberfläche verschwunden. | |
Doch des einen Unglück ist des anderen Glück. Weil die Schlacht bei Brody | |
die Entscheidung herbeiführte, konnte das nahe liegende Lemberg den Krieg | |
fast unbeschadet überstehen. Dort prägen noch immer die fantasievoll | |
verzierten Häuser aus der Gründerzeit das Bild der Altstadt und weiterer | |
Stadtteile. In der etwa 750.000 Einwohner zählenden galizischen Metropole | |
hat auch die Kultur der Kaffeehäuser überlebt, nicht einmal die Sowjetzeit | |
konnte ihr etwas anhaben. | |
In Lemberg erinnert man sich besonders gern an die alte und gute k. u. k. | |
Zeit. Geschichte verbindet, besonders wenn es keine lebenden Zeitzeugen | |
mehr gibt. Dann wird Geschichte zum Mythos. Und dafür stellt man gern | |
Denkmäler auf. In Lemberg hat man eine Zeit lang ernsthaft über ein | |
Monument für Franz-Joseph nachgedacht, den 1916 verstorbenen Kaiser von | |
Österreich-Ungarn. Letztlich hat man es bei einem Masoch-Café belassen, | |
schließlich stammt der österreichische Schriftsteller Leopold von | |
Sacher-Masoch von hier. | |
In Czernowitz, rund 250 Kilometer südöstlich von Lemberg, ging man weiter. | |
Hier wurde der Kaiser vor einigen Jahren mit einem kleinen bescheidenen | |
Denkmal geehrt. Auch an den Lyriker Paul Celan erinnert seit 1992 eine | |
Statue. Man hat sogar sein Geburtshaus renoviert. Allerdings das falsche, | |
wie sich später herausgestellt hat. | |
## | |
Die Tatsache, dass Galizien im 19. Jahrhundert auch im Habsburger Reich ein | |
Armenhaus war, wird bei der Erinnerung nicht selten ausgeklammert. Im | |
Vordergrund steht die Bedeutung der k. u. k. Zeit für die Entwicklung der | |
ukrainischen Sprache und Kultur. Durch das Ende des 18. Jahrhunderts | |
erlassene Josephinische Toleranzedikt bekamen die griechisch-katholischen | |
Priester aus der Ukraine Zugang zu den Priesterseminaren in Wien und somit | |
zur besseren Bildung. Lange Zeit galten die Ruthenen, wie die Ukrainer in | |
Österreich genannt wurden, als besonders kaisertreu. Dafür haben sie sogar | |
den Namen „Tiroler des Ostens“ bekommen. | |
Von der toleranten Habsburger Monarchie profitierte auch die ukrainische | |
Literatursprache. Zwar entstand sie auf Basis der Dialekte aus der | |
Zentralukraine. Doch die lag im Russischen Reich. Und Zar Alexander II. | |
hatte alle Publikationen und Theateraufführungen auf Ukrainisch verboten. | |
Die Ukrainer galten hier nicht als eigene Nation, sondern als Kleinrussen, | |
ihre Sprache wurde lediglich als minderwertiger Dialekt des Russischen | |
betrachtet. | |
So wurde Lemberg zum Zufluchtsort für Schriftsteller, Wissenschaftler und | |
Kulturschaffende aus der Zentralukraine. Auch politische Beteiligung war | |
hier für nationale Minderheiten möglich – etwas, was im Russischen Reich | |
absolut unvorstellbar wäre. | |
Dort galten die Ukrainer und deren nationale Idee lange Zeit als die | |
„österreichische Erfindung“, die nur ein Ziel hatte: die Schwächung des | |
Zaren. So war das tiefe Misstrauen im russischen Teil der Ukraine gegenüber | |
Galizien vorprogrammiert, zumal dort die Städte nicht ukrainisch, sondern | |
russisch-jüdisch geprägt waren. | |
## Massiver Widerstand | |
In der kommunistischen Zeit wurden diese Gräben zunächst noch tiefer. Der | |
massive Widerstand gegen die Sowjets und die Zusammenarbeit von einem Teil | |
der ukrainischen Nationalisten mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg | |
wurden als Hochverrat der ganzen Region verteufelt. | |
Die Einwohner Galiziens wurden einst von der sowjetischen und werden heute | |
von der russischen Propaganda als „Banderowzy“ beschimpft – als Anhänger | |
des militanten ukrainischen Nationalismus der 1930er und 1940er Jahre. | |
Stepan Bandera, der damals den radikalen Flügel der Organisation der | |
Ukrainischen Nationalisten (OUN) anführte, wird vor allem in der | |
Westukraine als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine verehrt. | |
Ausgeblendet wird dabei völlig unkritisch die andere Seite der Medaille – | |
insbesondere die Vernichtung der polnischen Bevölkerung durch die | |
ukrainische Aufstandsarmee, dem militärischen Arm der OUN, in Wolhynien und | |
Ostgalizien im Zweiten Weltkrieg, aber auch die Rolle der OUN bei den | |
jüdischen Pogromen und deren zeitweise Kollaboration mit Nazideutschland. | |
Obwohl die Ideologie des ukrainischen Nationalismus der 1930er Jahre nur | |
von einem kleinen Teil der Gesellschaft akzeptiert wird, leben die | |
Feindbilder aus der Sowjetzeit weiter. Besonders die Krim ist dafür ein | |
dankbares Pflaster. Bei der Annexion der Halbinsel stand die Warnung vor | |
den imaginierten „Banderowzy“ im Zentrum der russischen Propaganda. | |
## „Freie Stadt für freie Bürger“ | |
Paradoxerweise hindert diese Hysterie die russischen Touristen nicht daran, | |
das wieder aufgeblühte Flair der Wiener Kaffeehäuser in Lemberg und dessen | |
gastfreundliche Atmosphäre zu genießen. | |
Lemberg präsentiert sich heute gern als eine weltoffene Stadt, die ihre | |
Kraft nicht nur aus der Vergangenheit schöpft, sondern eine elektrisierende | |
Mischung aus Tradition und Moderne bietet. „Freie Stadt für freie Bürger“ | |
stand auf einem Plakat am Rathaus im EU-Blau während der ukrainischen | |
Revolution in diesem Winter. Dadurch werden keine Bilder aus der Zeit vor | |
dem Ersten Weltkrieg wach, eher die von 1848. | |
30 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Juri Durkot | |
## TAGS | |
Lemberg | |
Ukraine | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Österreich-Ungarn | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Arbeiterbewegung | |
Lemberg | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Lwiw | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Franz Ferdinand | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Ukraine | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Akademie der Künste Berlin | |
Ukraine | |
Präsidentschaftswahl | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Martin-Gropius-Bau | |
Verantwortung | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Genozid-“Resolution in Polens Parlament: Ukraines Nationalisten sind wüte… | |
Der Sejm nennt die Massaker in Wolhynien von 1943 einen „Genozid“. In der | |
Ukraine reagieren einige drauf sehr verärgert. | |
Ehemaliges KGB-Gefängnis in Lemberg: Die Tür zur Vergangenheit | |
Iwan Mamtschur ist sich sicher, die KGB-Knastzelle, in der er mehrere | |
Monate saß, wiederzuerkennen. Ein Besuch im Lemberger „Museum | |
Lonzki-Gefängnis“. | |
Essay Proletarischer Internationalismus: Das letzte Gefecht | |
In den Gräben des 1. Weltkriegs starb die Idee der vaterlandslosen | |
Arbeiter. Es folgten Nationalstaaten und die Internationalisierung des | |
Kapitals. | |
Besuch im ukrainischen Lemberg: Ersehnte, gefürchtete Rückkehr | |
Dem Echo der schweren Kämpfe im Osten der Ukraine begegnet man auch in | |
Lemberg. Der Krieg ist im Westen des Landes angekommen. | |
Neuer Roman „Auf der Lichtung“: Die erste Zelle einer besseren Welt | |
Geschichte als Metapher: Aharon Appelfeld erzählt in „Auf der Lichtung“ von | |
einer jüdischen Widerstandsgruppe in den Karpaten. | |
Debatte Erster Weltkrieg und Eliten: Das Fiasko weißer Männer | |
Der Erste Weltkrieg war auch die Antwort einer verunsicherten Elite auf die | |
Moderne. Und ein deutscher Griff nach Weltgeltung. | |
Europa und die Ukraine: Magie und Zeitmaschine | |
Der Bürgermeister von Lwiw redet gern über die Zukunft seiner Stadt. Als | |
gebe es keinen Krieg im Osten. Eindrücke aus der Westukraine. | |
Franz Ferdinand und Europas Politik 1914: Die Tragik des Moments | |
Am 28. Juni 1914 wurde Franz Ferdinand im offenen Wagen durch Sarajevo | |
kutschiert und erschossen. Darauf folgten Julikrise und Erster Weltkrieg. | |
Österreich im Ersten Weltkrieg: Des Herrschers legendäre Schießwut | |
Der eine erschlug auf Ceylon einen Drachen, die anderen malten Bilder | |
gefallener Soldaten. Ausstellungen und Bücher zu Österreichs Rolle im | |
Krieg. | |
Zweimal Erster Weltkrieg: „Deutschland, hasse mit eisigem Blut“ | |
Ein Hamburger Theater-Regisseur knüpft an das Kämpfen und Sterben seines | |
Großvaters an. Bei einer Vortragsreihe drängt es die Wissenschaft, | |
Parallelen zur Jetztzeit zu ziehen. | |
Erster Weltkrieg im Zweiten: Such die Räuberpistole | |
Zuerst Verschwörungstheorie, dann Dokumentation: Das ZDF widmet sich am | |
Montagabend dem Attentat, das den Ersten Weltkrieg auslöste. | |
Umzug in die Ukraine: Adieu, Krim! | |
3.000 Menschen haben mittlerweile die Krim verlassen. Die Familie Sasin | |
gehört dazu. Russland war für sie keine Option. Doch der Neustart ist | |
holprig. | |
Schlagloch Erster Weltkrieg: Zerwühlte Erde, sonst nichts | |
Damals, kurz nach 14/18: Über einen Film, der mehr sagt als die | |
kiloschweren Neuinterpretationen der „Urkatastrophe des Jahrhunderts“. | |
Diskussion über die Lage in der Ukraine: Eine echte Revolution | |
Ukrainische Künstler diskutieren mit EU-Abgeordneten in der Berliner | |
Akademie der Künste. Es geht um die Zukunft, die Krim, und den | |
„Menschenfreund“ Putin. | |
Treffen Kerry-Lawrow zur Ukraine: Reden, das ist doch was | |
Die USA und Russland unternehmen einen neuen Anlauf zu einem diplomatischen | |
Ausweg aus der Ukraine-Krise – und stellen fest, dass die Vorstellungen | |
weit auseinanderliegen. | |
Präsidentschaftswahl Ukraine: Schoko-Hase soll das Land führen | |
Petro Poroschenko hat gute Chancen auf das ukrainische Präsidentenamt. Der | |
Schokoladen-Oligarch fällt vor allem durch seine politische Wendigkeit auf. | |
Kommentar Wahl in der Ukraine: Frühling mit Oligarchen | |
Pjotr Poroschenko wird die Präsidentschaftswahl in der Ukraine wohl | |
gewinnen. Dabei verkörpert er genau das, was man auf dem Maidan verhindern | |
wollte. | |
Militärpsychatrie im Ersten Weltkrieg: „Kriegszitterer“ waren verpönt | |
Elektroschocks und Isolation: Um „Kriegshysteriker“ zurück zur Front zu | |
bringen, wurden in der noch jungen Disziplin drastische Methoden angewandt. | |
Überleben im Ersten Weltkrieg: Opas Notizen vom Krieg | |
Willy Hillenbrand kritzelte als Soldat Belanglosigkeiten in ein Büchlein. | |
Das Büchlein rettete ihm das Leben. Dennoch gehörte er zur Generation | |
Arschkarte. | |
Forscher über Maschinengewehre: „Der Feind ist ein anderer“ | |
Das erste MG im Deutschen Reich wurde zur Chiffre für etwas Serielles, das | |
nichts Besonderes hat. Lenin sah darin ein Modell für die Planwirtschaft. | |
Hans-Richter-Werkschau in Berlin: Der lächelnde Entwerfer | |
Eine Ausstellung in Berlin durchmisst das Schaffen des Künstlers und | |
Kunstermöglichers Hans Richter. Das Motto: Alles dreht sich, alles bewegt | |
sich. | |
Deutsche Verantwortung für den 1. WK: Die Sehnsucht, unschuldig zu sein | |
Der Historiker Christopher Clark spricht Deutschland von der Verantwortung | |
für den Krieg frei. Die Zustimmung ist groß, doch so einfach ist es nicht. | |
Erster Weltkrieg im Theater: Das große Rauschen des Krieges | |
Luk Perceval inszeniert am Thalia in Hamburg „Front“ – frei nach Romanen | |
von Erich Maria Remarque und Henri Barbusse. |