| # taz.de -- Zweimal Erster Weltkrieg: „Deutschland, hasse mit eisigem Blut“ | |
| > Ein Hamburger Theater-Regisseur knüpft an das Kämpfen und Sterben seines | |
| > Großvaters an. Bei einer Vortragsreihe drängt es die Wissenschaft, | |
| > Parallelen zur Jetztzeit zu ziehen. | |
| Bild: „Paradebeispiel für Eskalationsspiralen“: Sturmangriff österreichis… | |
| HAMBURG taz | Am Anfang sind Kinderstimmen. „Oh Deutschland, jetzt hasse | |
| mit eisigem Blut“, quaken sie seltsam unberührt, fast vergnügt die Zeilen | |
| eines deutschen Propaganda-Gedichts. Unbehaglich lange, eindeutig zu lange | |
| starrt später die Fratze von Otto Dix’ „Verwundetem“ die Zuschauer an. D… | |
| aufgerissenen Augen, der unmenschliche Blick der überlebensgroßen | |
| Soldaten-Zombies auf der Leinwand hinter den drei grau uniformierten | |
| Schauspielern hält einen fest, lässt schaudern. Atmosphärisch bisweilen auf | |
| das Äußerste verdichtet ist das Theaterstück „Weltenbrand“, das wohl | |
| beklemmendste Stück Erinnerungsarbeit zum Ersten Weltkrieg, das Hamburg im | |
| Gedenkjahr 2014 zu bieten hat. Der Zivilisationsbruch jener mörderischen | |
| Jahre, er wird körperlich spürbar. | |
| Der Nabel des Erinnerns an die europäische „Urkatastrophe“ ist die | |
| Hansestadt insgesamt wohl nicht. Aber „Weltenbrand“ und andere Projekte | |
| zeigen, dass sich auch hier Menschen intensiv mit den Ereignissen jener | |
| Zeit, ihren Schrecken und Lehren befassen. | |
| Anfragen aus Japan und von der BBC | |
| Oliver Hermann ist einer von ihnen. Zusammen mit mehreren Kollegen hat der | |
| Schauspieler die szenische Collage „Weltenbrand“ in Eigenregie konzipiert. | |
| Ab Mai führt er sie auf dem Ohlsdorfer Friedhof auf. Mit der von Stiftungen | |
| und der Landeszentrale für Politische Bildung geförderten Produktion geht | |
| es auch auf Tournee bis nach Berlin und Brüssel. Das Projekt wird viel | |
| beachtet. Die britische BBC und das japanische Fernsehen haben schon | |
| angefragt. „Es ist zwingend notwendig, dass wir das Thema und den Krieg auf | |
| die Bühne bringen“, findet Hermann. „100 Jahre sind nichts.“ | |
| Dass die Geister der Vergangenheit zwangsläufig auf ewig ruhen, glaubt | |
| Hermann nicht – nicht zuletzt angesichts der Eskalation in der Ukraine, die | |
| vielen Menschen in Europa derzeit vor Augen führt, wie schnell sich an | |
| Grenzverläufen und nationalistischen Stimmungen potenziell verheerende | |
| Gewalt entzündet. Der Konflikt dort zeige, „wie hochsensibel so ein | |
| Konstrukt, ein Kontinent ist.“ | |
| Hermanns Interesse ist nicht zuletzt ein biografisches. Schon vor vielen | |
| Jahren fiel ihm die Feldpost seines Urgroßvaters in die Hände. Paul | |
| Ueberschär kämpfte als Infanterist und Kanonier im Ersten Weltkrieg, bevor | |
| ihn ein Granatsplitter tötete. Seither trug Hermann die Idee für | |
| „Weltenbrand“ mit sich herum. Das Stück ist auch ein Versuch, die | |
| Erlebnisse seines Vorfahren nachvollziehbar zu machen. Mit gespielten | |
| Szenen, Rezitationen expressionistischer Gedichte und mit Klangeffekten. | |
| Paradebeispiel für Eskalationsspiralen | |
| Ulrike Jureits Blick auf den Weltkrieg ist naturgemäß ein anderer. Im Kern | |
| aber unterscheidet sich die Herangehensweise der Hamburger Historikerin gar | |
| nicht so sehr von der Hermanns. „Kann man aus der Konfliktdynamik im Sommer | |
| 1914 irgendwelche Strategien ableiten, was auf keinen Fall passieren | |
| darf?“, fragt die Expertin mit Blick auf jene Ereignisse, die den Konflikt | |
| zu einem Paradebeispiel für das Studium von Eskalationsspiralen gemacht | |
| haben. Es ist eine Leitfrage der von ihr konzipierten, hochkarätigen | |
| Veranstaltungsreihe „Krieg und Krise“ am Hamburger Institut für | |
| Sozialforschung am Mittelweg, die sich in mehreren Vorträgen dem Weltkrieg | |
| widmet. | |
| Dabei geht es nicht so sehr um das anonyme große Sterben im | |
| „Maschinenkrieg“ der Westfront, das die Erinnerung in Deutschland und | |
| Frankreich bis heute dominiert. Bewusst rückt Jureit auch andere Themen in | |
| den Fokus, die den Konflikt langfristig prägend machten, hierzulande jedoch | |
| in der breiteren Öffentlichkeit kaum diskutiert werden. | |
| Die Referenten widmen sich etwa der Frage, wie ein mit allen Mitteln | |
| geführter Krieg auf das Verhältnis von Staat und Bürger zurückschlug, wie | |
| sich die Demokratien und der Sozialstaat langfristig veränderten. Denn | |
| damals ging es auch um einen Krieg zwischen verschiedenen Systemen und um | |
| die Frage, welches sich angesichts der immensen menschlichen und | |
| wirtschaftlichen Belastung als zukunftsfähiger erweisen sollte. „Welche | |
| Rolle hat das eigentlich für den Kriegsverlauf gespielt?“, fragt Jureit. | |
| Die Reihe will vor allem die Augen dafür öffnen, dass der Weltkrieg weit | |
| mehr war als ein endloser Stellungskrieg in Frankreich und Belgien. Er | |
| tobte auch im Osten des Kontinents, auf dem Balkan, im Kaukasus und im | |
| Nahen und Mittleren Osten. Gerade dort habe dieser Krieg und sein Erbe | |
| tiefe Spuren hinterlassen, betont Jureit. Es werde oft vergessen, dass er | |
| die Weltpolitik im 20. Jahrhundert auch außerhalb Westeuropas gravierend | |
| beeinflusst habe. | |
| Parallelen zum Ukraine-Konflikt? | |
| Zugleich drängt sich die Aktualität der Ereignisse unübersehbar auch am | |
| Hamburger Institut für Sozialforschung in den Vordergrund. Schon bei dem | |
| Eröffnungsvortrag des bekannten deutschen Politikwissenschaftlers Herfried | |
| Münkler sei es in der Diskussion sofort um den Ukraine-Konflikt und | |
| eventuelle Parallelen gegangen, berichtet die Forscherin. „Das treibt die | |
| Leute um.“ | |
| Ob man aus der Geschichte Konkretes lernen kann, ist allerdings eine andere | |
| Frage. Jureit bleibt da skeptisch. „Es gibt niemals eine eindeutige | |
| Botschaft. Das ist auch beim Ersten Weltkrieg so.“ | |
| Definitive Antworten hat auch Hermann nicht gefunden. Das intensive | |
| Eintauchen in den Geist der damalige Zeit brachte ihn dem Ziel, die große | |
| europäische Gewaltexplosion von 1914 zu begreifen, letztlich kaum näher. | |
| „Trotz allem stehe ich noch immer fassungslos da“, sagt der Schauspieler. | |
| 6 May 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Sebastian Bronst | |
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