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# taz.de -- Schlachtfelder des 1. Weltkriegs vertont: Klage aus Klang
> Ypern und Diksmuide waren Schauplätze des 1. Weltkriegs. Die
> Einstürzenden Neubauten und die Tindersticks haben Gedenken in Sounds
> gefasst.
Bild: Das Cover des aktuellen Albums der Einstürzenden Neubauten.
Wie kann man Erinnerung erneuern? Wie lässt sich Gedenken neu denken?
Vielleicht, indem man ihm andere Instrumente an die Hand gibt. Eine Art
Snare zum Beispiel, die die Maschinengewehrsalven nachbildet.
Tomtom-Schläge, kleinen Explosionen gleich. Klirrende Gitarrensaiten, die
klingen wie die fiesen Nachwehen eines Kriegs, der den Menschen
existenziell verunsichert, traumatisiert und obdachlos gemacht hat. Aber
auch: ein über mehrere Takte gehaltener Geigenton, der das Trauern
ermöglicht, mit der Kirchturmglocke im Hintergrund.
Will man gerade in diesem von Gedenken überladenen Jahr 2014 zu einer
wirklichen Auseinandersetzung mit Geschichte anregen, hilft es, den ewigen
Marmorplatten mit den Namen von Toten und Gefallenen und den Inschriften
etwas Neues, etwas anderes zur Seite zu stellen.
Zwei belgische Städte – Diksmuide und Ypres (das Museum „In Flandern
Fields“) – haben musikalische Denkmäler in Auftrag gegeben. Sie haben die
Berliner Noise-Legende Einstürzende Neubauten und die britische
Edel-Indie-Band Tindersticks beauftragt, den Geschehnissen in Belgien
während des Ersten Weltkriegs jeweils Musik zu widmen. Beide Städte lagen
damals an der Westfront, in der Umgebung beider Orte gab es hunderttausende
Tote.
Die Einstürzenden Neubauten um Sänger Blixa Bargeld haben für „Lament“ �…
der Titel steht für Klagen, Beklagen oder für das Klagelied –
wissenschaftlich akribisch Material zusammengetragen, sich von zwei
Historikern beraten lassen, um einen Soundtrack zu schaffen, der allen
Facetten dieses entsetzlichen Kriegs gerecht wird. Zwei Tage vor dem
hundertsten Gedenktag der deutschen Invasion in Diksmuide feierte „Lament“
jüngst auch Livepremiere in der flämischen Stadt.
## Die „Stacheldrahtharfe“
Das Auftaktstück, „Kriegsmaschinerie“, klingt zersetzend, ächzend, ätzen…
Hypernervös und nebulös. Ganz, wie man es erwarten würde von dieser seit
knapp 35 Jahren existierenden Band, die mit ihrem Noise- und
Industrialsound und den selbst gebauten Instrumenten Musikgeschichte
geschrieben hat (auf „Lament“ kommt nun etwa eine „Stacheldrahtharfe“ z…
Einsatz).
Danach lebt das Album durchgängig von Brüchen. Gleich im zweiten Stück
zeigen Bargeld und seine Mitmusiker, dass zu einem Kriegssoundtrack nicht
nur Disharmonisches gehört, sondern auch Hymnen und Märsche, die
Beschwörung des nationalen Geistes durch allzu Rhythmisches. („Heil dir im
Siegerkranz! / Kartoffeln mit Heringsschwanz / Heil Kaiser dir!“, singt
Bargeld zur Melodie der britischen Hymne „God Save the Queen“).
Ein großes Stück Konzeptkunst ist „1. Weltkrieg (Percussion Version)“: Die
Neubauten spielen den Krieg im Schnelldurchlauf nach, 392 Viervierteltakte
stellen 1.567 Tage Krieg dar, beginnend mit dem 28. Juli 1914. Dafür
entwarf die Band eine Art Riesenxylofon mit Plastikrohren als Querstreben,
die jeweils die Länder symbolisieren – je nach Kriegseintritt kommen Rohre
dazu, auf denen getrommelt wird. „Austria, Serbia, Germany, Russia, The
British Empire …“, verlesen Sprecherinnen und Sprecher die Namen der am
Krieg beteiligten Länder. Bei den jüngsten Konzerten war dieses Stück der
Höhepunkt. „Statistische Musik“ nennt Bargeld diesen Song. Der Krieg in 90
bpm.
„Lament“ funktioniert so ähnlich wie die Montagewerke, die in den
Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ihren Ursprung haben und bereits in
der Literatur über den Ersten Weltkrieg eine wesentliche Rolle gespielt
haben. Bargeld selbst hat übrigens ein „Problem mit dem Begriff Avantgarde,
weil das ein militärischer Ausdruck ist“ – er sähe sich lieber als
Partisan.
## „Sag mir, wo die Blumen sind“
Partisanenlieder finden sich weniger auf „Lament“, dafür aber – erst nach
dem Ersten Weltkrieg entstandene – Friedenslieder („Sag mir, wo die Blumen
sind“), vertonte Gedichte des flämischen Lyrikers Paul van den Broeck oder
ein Stück namens „Der Beginn des Weltkrieges 1914 (dargestellt unter
Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators)“ von Joseph Plaut, einem
Kabarettisten der zwanziger Jahre. So kommt „Lament“ mal dadaistisch, mal
expressionistisch, mal neusachlich daher.
Klagelieder im klassischen Sinne haben aber eher die Tindersticks mit
„Ypres“ aufgenommen. „Ypres“, so die französische Schreibweise der
einstigen belgischen Frontstadt, steht in besonderer Weise für den ersten
vollends industrialisierten Krieg, für den Stellungskrieg, auch für den
Einsatz von Giftgas. Im April 1915 setzte die deutsche Armee hier erstmals
Chlorgas ein. Gut zwei Jahre später erfolgte an gleicher Stelle der erste
Angriff mit sogenanntem Senfgas, das im Krieg unter den Soldaten nach dem
Ort der Giftgasattacke auch „Yperit“ genannt wurde.
Tindersticks-Sänger Stuart Staples besuchte das Museum „In Flandern Fields“
in Ypres, er besuchte auch den deutschen Soldatenfriedhof Vladslo mit
seinen 26.000 Gräbern, er unternahm Wanderungen über die ehemaligen
Schlachtfelder der Region. „Benjamin Brittens ’War Requiem‘ ist der einzi…
Einfluss, der mir einfiele“, sagte Staples zur Referenz des Albums.
Die Band aus Nottingham, 1991 gegründet und nach zwischenzeitlicher
Auflösung seit 2008 wieder aktiv, kannte man für sphärischen, oft
minimalistischen Pop, zuletzt liefen sie mit „The Something Rain“ (2012) zu
großer Form auf. Staples’ sonorer Gesang war prägend, ein melancholischer
Storyteller auf der Höhe seines Schaffens.
## „Blutrünstig und fucked up“
Auf „Ypres“ schweigt seine Stimme während der fünf Stücke. Während die
Neubauten dem Grauen mit Montagetechnik begegnen, nähern sich die
Tindersticks der Geschichte dieses Ortes emphatisch. Staples hat die Songs
gemeinsam mit Bassist Dan McKinna komponiert, sie sind in einer Londoner
Kirche mit Unterstützung eines Orchesters aufgenommen worden.
In „Whispering Guns“ – einem knapp 13-minütigen Song, bestehend aus drei
Teilen – halten die Streicher quälend lange ihre Töne, während Totenglocken
in regelmäßigen Abständen ertönen. Die Stimmungen auf „Ypres“, das von
Cello und Glocken dominiert wird, schwanken zwischen bedrohlich und
bedächtig. Staples sagt: „Der Erste Weltkrieg ist derart blutrünstig und
fucked up, man kann nur überwältigt von ihm sein.“ „Ypres“ ist so eine …
persönlicher musikalischer Essay von der Front geworden.
20 Nov 2014
## AUTOREN
Jens Uthoff
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Schwerpunkt Erster Weltkrieg
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