| # taz.de -- Schlagloch Erster Weltkrieg: Zerwühlte Erde, sonst nichts | |
| > Damals, kurz nach 14/18: Über einen Film, der mehr sagt als die | |
| > kiloschweren Neuinterpretationen der „Urkatastrophe des Jahrhunderts“. | |
| Bild: Was bitte soll am 1. Weltkrieg ausgezeichnet gewesen sein? | |
| Auch wenn der Overkill der Sonderbeilagen sich lange vor dem 1. August | |
| erschöpft hat – hier noch ein Beitrag zum Jubiläum über einen Film, der | |
| mehr berührt als all die Fotos über Gräben, Bajonette und Stacheldraht: Der | |
| Film heisst [1][„En dirigeable sur les champs de bataille“]. | |
| Es ist ein stiller Film, kein Poilu und kein General kommen in ihm vor, er | |
| kommt ganz ohne Leichen und Worte aus. Er ist sehr leicht, fast heiter. Und | |
| unendlich traurig. Er zeigt eine lange Fahrt mit dem Luftschiff über die | |
| Westfront, von Dünkirchen bis nach Verdun, 1919 gefilmt, als das Töten ein | |
| Ende hatte. | |
| Rostende Panzer auf dem Chemin des Dames; Schlammwüsten, wo gelebt und | |
| geerntet wurde; Granatenkrater, mit Wasser gefüllt, kilometerlang die | |
| Zickzackschnitte der Gräben, das tote Holz der Wälder – und die Städte. | |
| Menschen schauen zu dem Zeppelin hoch, winken, und der Pilot winkt zurück. | |
| Unten liegt das vier Jahre beschossene Ypern, die Wände der Kathedrale | |
| durchlöchert, von den Häusern nicht einmal mehr Grundmauern, nur noch | |
| Kellerlöcher. Auf den Straßen haben Händler ihre Stände aufgestellt, Läden | |
| gibt es nicht mehr. Nicht weit davon Passchendaele, das Sanctuarium der | |
| Engländer, das Dorf, in dem die letzte Offensive der Reichswehr im Jahre | |
| 1918 verblutete: zerwühlte Erde, sonst nichts. | |
| ## Ein Film der Stunde null | |
| Irgendwo da unten, bei Passchendaele, wurde im August 1916 das Regiment | |
| aufgerieben, zu dem mein Großvater gehörte, er hat es überlebt, mit | |
| Splittern in Arm und Bein und Schulter. Aber nicht deshalb hat mich dieser | |
| Film so berührt, sondern weil er eine Momentaufnahme der Stunde null zeigt, | |
| die in den historischen Periodisierungen zur interessierten Abstraktion | |
| gefriert. | |
| Nicht Gewalt ist zu sehen, nur ihre Spuren, aber fast körperlich spürte ich | |
| für einen Moment: den Frieden. Er leuchtet kurz auf in diesem verhaltenen, | |
| leicht traurigen Lächeln, mit dem der Pilot sich zum Kameramann umdreht, in | |
| dieser knappen Geste, mit der er aus der offenen Gondel den Menschen auf | |
| den staubigen Plätzen zuwinkt, die inmitten der Fassaden ohne Häuser in der | |
| Sommersonne stehen, reden und nach oben schauen, von wo keine Granaten mehr | |
| kommen: Ich stelle mir vor, auch sie lächeln, mit einem Ausdruck, für den | |
| Freude ein zu kleines Wort wäre und Erlösung ein zu großes. Frieden, das | |
| ist nicht vor dem Krieg, sondern wenn der Kampf zu Ende ist. | |
| Der Kameramann heißt Lucien Le Saint, auf die Reise geschickt vom Bankier | |
| Albert Kahn, dem 1860 geborenen Sohn eines jüdischen Viehhändlers aus dem | |
| Elsass, der in Paris eine Banklehre begann und abends Philosophie und Jura | |
| studierte (Henri Bergson war sein Mentor). | |
| Mit 32 wird Kahn Teilhaber eines großen Bankhauses und sehr schnell einer | |
| der reichsten Männer Frankreichs. Er nutzt sein Vermögen, um zehn | |
| Kameramänner und eine Kamerafrau erst durch Europa und dann um die Welt zu | |
| schicken. Sie machen die ersten Farbfotos im neuen Autochromverfahren, das | |
| die Brüder Lumière 1907 auf den Markt gebracht haben; Kahn will ein „Archiv | |
| des Planeten“ schaffen, eine fotografische Enzyklopädie vom Alltag aller | |
| Völker dieser Welt. 72.000 Farbfotos lagern in seinen Archiven, sie zeigen | |
| eine Welt, wie sie vor dem Krieg war; sie zeigen spielende Kinder in den | |
| Ruinen von Reims. | |
| ## Die Macht der Bilder | |
| Kahn glaubt, dass die Völker und ihre Eliten friedlich werden, wenn sie | |
| mehr über einander wissen; er glaubt an die Macht der Bilder. Von ihm | |
| selbst gibt es nur wenige. Eines, 1914 aufgenommen, zeigt ihn auf dem | |
| Balkon vor seinem Büro: ein kleiner, etwas gedrungener Mann mit Glatze, im | |
| Anzug mit Weste und einem Spitzbart, schaut die Straße entlang, die Stirn | |
| in Falten, als fixiere er eine Bedrohung in der Ferne. | |
| Kahn ist nicht nur kamera-, auch publizitätsscheu, tritt nicht öffentlich | |
| auf, legt aber ein luxuriöses Stipendienprogramm auf, das junge Begabte ein | |
| Jahr um die Welt schickt: Sie sollen reisen, wohin sie wollen, hinsehen, | |
| hinhören, Kontakte knüpfen. In seinem Park in Boulogne-Billancourt empfängt | |
| er seit 1916 jeden Sonntag aufgeklärte Gäste aus Politik, Kultur, | |
| Wissenschaft und Industrie: Albert Einstein kommt, H. G. Wells, Husserl, | |
| Marie Curie, Thomas Mann, Rabindranath Tagore, Wilson, Briand, Stresemann; | |
| in seinem japanischen Pavillon reden sie, spazieren, schauen Filme an. | |
| Vielleicht auch den von Lucien Le Saint. In der Weltwirtschaftskrise | |
| verliert Albert Kahn sein Vermögen, 1940 stirbt er verarmt im besetzten | |
| Paris. | |
| Das alles klingt so märchenhaft, dass der Autor Michael Kleeberg es in | |
| seinem Roman „Ein Garten im Norden“ nach Deutschland transponiert hat: Ein | |
| Traum von einem Jahrhundert, in dem der Krieg nicht ausbricht, weil die | |
| Mächtigen und die Musischen sich auf Einladung eines Bankiers treffen, in | |
| einem kleinen Park, dort, wo jetzt das Holocaust-Mahnmal liegt. | |
| Als Kulturstaatsminister Naumann diese Legende eines anderen Jahrhunderts | |
| vor gut zehn Jahren deutschen Privatbankern im Schloss Niederschönhausen | |
| vortrug, nicht ohne programmatisches Pathos, lächelten die Banker. Es war | |
| ein anderes Lächeln als das des Luftschiffpiloten. Der hieß Jacques Trolley | |
| de Prévaux, kam aus dem Hochadel, wurde später Admiral und 1944 in Lyon | |
| zusammen mit seiner Frau von der SS erschossen; ihr Widerstandsnetz hatte | |
| den Alliierten entscheidende Informationen über die Befestigungen am | |
| Atlantik zugespielt. | |
| ## Das kommende Schloss | |
| Das Jubiläumsjahr der „Urkatastrophe“ wird in England und Frankreich als | |
| großes patriotisches Fest gefeiert – die britische Regierung lässt es sich | |
| 60 Millionen Euro kosten. Unsere wusste nicht so recht, was und wie „wir“ | |
| da feiern könnten, und veranschlagte nur viereinhalb. | |
| Aber da es nun schon einmal so märchenhaft zugeht in dieser Kolumne, stelle | |
| ich mir vor, sie würde auf hundertzwanzig aufstocken – und in Berlin einen | |
| Garten wie den von Monsieur Kahn aufblühen lassen, mitsamt den Stipendien | |
| und intimen Gesprächen, in denen die Eliten sich zwanglos zur Verhinderung | |
| der kommenden Urkatastrophen verabreden. Vielleicht könnte man ja sogar das | |
| neue preußische Schloss entsprechend umplanen. | |
| 15 Apr 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=SdFwEfoIM3E | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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