| # taz.de -- Essay Proletarischer Internationalismus: Das letzte Gefecht | |
| > In den Gräben des 1. Weltkriegs starb die Idee der vaterlandslosen | |
| > Arbeiter. Es folgten Nationalstaaten und die Internationalisierung des | |
| > Kapitals. | |
| Bild: Die rote Fahne als Symbol der Arbeiterbewegung hält heute kaum noch jema… | |
| Der Erste Weltkrieg hat zahlreiche Opfer gefordert, doch eines bleibt beim | |
| Gedenken außen vor: der proletarische Internationalismus, der im | |
| Grabenkrieg zu Tode kam und seitdem nicht auferstanden ist – mit | |
| Konsequenzen für die globale Linke, die gravierender nicht sein könnten. | |
| Für einen jungen Menschen heute ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, | |
| dass einst Dutzende Millionen von Menschen die Hoffnung hegten, sich | |
| gemeinsam von der Unterdrückung zu befreien. Der Internationalismus war die | |
| Säule, auf der diese Hoffnung ruhte und die von den Kanonen zerschossen | |
| wurde. | |
| Hinweggefegt wurde der großartig lapidare Satz von Marx: „Die Arbeiter | |
| haben kein Vaterland.“ Man denke, dass noch 1912, zwei Jahre vor Ausbruch | |
| des Krieges, der Internationale Sozialistenkongress in Basel erklärt hatte: | |
| „Die Proletarier halten es für ein Verbrechen, zugunsten des | |
| kapitalistischen Gewinns, dynastischen Wetteifers und des Aufblühens | |
| diplomatischer Verträge aufeinander zu schießen.“ | |
| Der Internationalismus war kein Accessoire, kein optional der | |
| Arbeiterbewegung, sondern der Kern des Ganzen, gerade weil sein Gegenteil, | |
| der Nationalismus, sich im bürgerlichen Staat verkörperte. Ihn hatte sich | |
| die Klasse auf die Fahnen geschrieben, gegen die die Arbeiter kämpften. Der | |
| Internationalismus war gleichzeitig die Bedingung, dass sich die | |
| Proletarier aller Länder überhaupt vereinigen konnten und der Effekt dieser | |
| Verbindung: Eine horizontale Union der Klasse gegen die vertikale | |
| Hierarchie von Nation gegen Nation. | |
| Doch die Verlautbarungen aus Basel verdeckten letztlich nur schamhaft eine | |
| ganz andere Realität, spiegelten Positionen, die schon passé waren. Manche, | |
| wie der französische Sozialist Jean Jaurès, glaubten noch an sie – doch | |
| Jaurès wurde bereits am 31. Juli 1914 von einem Nationalisten ermordet. | |
| Man benannte viele Boulevards nach ihm, vor allem in den banlieues rouges, | |
| den roten Vorstädten, doch die Partei, die er angeführt hatte, stimmte | |
| nicht nur für die Kriegskredite (wie die englische Labour-Party und die | |
| deutschen Sozialdemokraten), sondern beteiligte sich schon einen Monat nach | |
| dem Mord an einer Regierung unter dem Namen union sacrée (solche „heiligen | |
| Unionen“ gibt es heute wieder in Europa, um Sparmaßnahmen und | |
| Austeritätspolitik durchzusetzen). | |
| ## Verrat der Sozialdemokraten | |
| Die sozialistischen Parteien stimmten für die Kriegskredite und sie sagten | |
| ihren Anhängern, es sei ihre Pflicht, auf die Proletarier des feindlichen | |
| Staates zu schießen; von nun an würden die Proletarier nicht nur ein | |
| Vaterland haben, sie waren zu Patrioten geworden. Gewiss verbrüderten sich | |
| trotz alledem viele Soldaten in den Gräben mit ihren neuen Feinden, sie | |
| desertierten und sabotierten. Doch so bewegend diese Aktionen sind, sie | |
| waren doch die Ausnahme. | |
| Und gewiss blieben manche Protagonisten der Arbeiterbewegung ihrer | |
| Ablehnung des Krieges treu. In den USA sprachen die syndikalistischen | |
| Wobblies (die Mitglieder der Gewerkschaft Industrial Workers of the World, | |
| IWW) von einem „Krieg der Bosse“ und organisierten lange und wirkungsvolle | |
| Streiks in der Rüstungsindustrie, weswegen sie eingesperrt wurden oder ins | |
| Exil gehen mussten. | |
| In Deutschland schloss man den widerständigen Flügel um Rosa Luxemburg und | |
| Karl Liebknecht schließlich aus der SPD aus. Dass Luxemburg und Liebknecht | |
| 1919 mit dem Einverständnis der sozialdemokratischen Führer Friedrich Ebert | |
| und Gustav Noske von Freikorps ermordet wurden, sagt alles über die | |
| Entwicklung, die die europäischen Sozialisten während des Krieges genommen | |
| hatte. | |
| Eine Abschweifung verdient Lenin. In seiner Broschüre „Sozialismus und | |
| Krieg“ stehen Sätze, die man als präventive Zurückweisung der Thesen von | |
| Christopher Clarks Weltkriegsbuch „Die Schlafwandler“ lesen kann: „Stellen | |
| wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 100 Sklaven, läge im | |
| Krieg mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die | |
| ’gerechtere‘ Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, daß die Anwendung der | |
| Begriffe ’Verteidigungs‘krieg oder ’Vaterlandsverteidigung‘ auf einen | |
| solchen Fall historisch verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, | |
| begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk.“ | |
| ## Lenin und die Nation | |
| In Wirklichkeit aber wertet Lenin die Idee der Nation auf, indem er das | |
| Konzept „Nationaler Befreiungskrieg“ einführt, in welchem es durchaus | |
| statthaft sei, dass sich die Klassen zu einer nationalen Front verbänden. | |
| Kurioserweise liefert Lenin damit auch ganz aktuell die Legitimation für | |
| einen Befreiungskrieg der Ukraine, wenn er schreibt: „Der Zarismus führt | |
| den Krieg, um Galizien zu erobern und die Freiheit der Ukrainer endgültig | |
| zu erwürgen.“ | |
| Nachdem die Nation also von der Arbeiterbewegung zur Tür hinausgejagt | |
| wurde, kommt sie mit Lenin durchs Fenster wieder hinein. Und wo Lenin noch | |
| zweideutig ist, ist Stalin 1913 ganz klar, in seiner Schrift „Marxismus und | |
| nationale Frage“, wo er sich schmierige Begriffe wie „Nationalcharakter“ | |
| und „psychische Wesensart“ einer Nation zu eigen macht. | |
| Aus der Implosion des proletarischen Internationalismus erstanden – wie wir | |
| nur zu gut wissen – auch neue Bewegungen, die sich sozialistisch und | |
| nationalistisch verstanden; und aus mächtigen sozialistischen Funktionären | |
| wie Benito Mussolini wurden chauvinistische Führer. Doch das Ende des | |
| Ersten Weltkriegs markiert auch den Zusammenbruch eines dem der Arbeiter | |
| entgegengesetzten Internationalismus: des imperialen. | |
| Von den drei multiethnischen, multinationalen und polyglotten Imperien | |
| lösten sich zwei auf (Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich), das Russische | |
| Reich wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Die Idee eines | |
| kosmopolitischen Imperiums selbst wurde schwächer. Stattdessen überführte | |
| man die Reiche in mehr oder weniger künstliche Nationalstaaten in | |
| Mitteleuropa und auf dem Balkan (Jugoslawien, Tschechoslowakei), später als | |
| Folge des Sykes-Picot-Abkommens (1916) auch im Nahen Osten (Libanon, | |
| Syrien, Irak, Jordanien). | |
| ## Nationalstaatliche Antworten | |
| In gewissem Sinne kann man das „kurze Jahrhundert“ 1914–1991, wie es der | |
| britische Historiker Eric Hobsbawm genannt hat, als Jahrhundert dieser | |
| nationalstaatlichen Antworten auf die Krise der kosmopolitischen Imperien | |
| verstehen. Nicht zufällig hat der Zusammenbruch der Sowjetunion seinen | |
| Widerhall gefunden in der Krise der nach 1918 in Europa geschaffenen | |
| Staaten und der Auflösung der Sykes-Picot-Ordnung im Nahen Osten, der wir | |
| gerade beiwohnen. | |
| Die neuen, nach 1991 sich entwickelnden Gebilde neigen dazu, die alten | |
| imperialen Achsen wiederherzustellen – nicht als politische, sondern als | |
| ökonomische Räume. Schon heute sind aus ökonomischer Sicht Kroatien, | |
| Slowenien, Österreich, Ungarn, Tschechien, die Slowakei ein einziger Raum | |
| (die Ukraine-Krise kann vor diesem Hintergrund interpretiert werden). Im | |
| Nahen Osten hat die Türkei eine – gescheiterte – neoosmanische Politik | |
| verfolgt, während der Zerfall Syriens, des Libanon und des Irak | |
| voranschreitet. | |
| Auf die Ironie der Geschichte aber kann man sich verlassen: Wenn der Erste | |
| Weltkrieg das Ende der in Opposition stehenden Internationalismen, des | |
| proletarischen und des imperialen, markierte, so fällt die Krise der nach | |
| dem Krieg entstandenen staatlichen Ordnung (UdSSR eingeschlossen) mit dem | |
| Sieg des Internationalismus des Kapitals zusammen, der landläufig | |
| „Globalisierung“ genannt wird: Es triumphierte der Extremliberalismus der | |
| Manchester-Schule, die 1843 die Zeitschrift The Economist gründete, um ihre | |
| Ideen zu verbreiten, und die schon damals nichts von Protektionismus hielt | |
| (und somit vom Kolonialismus) – eine Denkschule, die sich den ewigen | |
| Frieden im Sinne Kants vom freien Markt erhoffte. | |
| Während also dem proletarischen Internationalismus das Totengebet gesungen | |
| worden ist, erfreut sich der kapitalistische bester Gesundheit und herrscht | |
| uneingeschränkt. Einmal ist es nicht die Linke, die die von der Bourgeoisie | |
| fallen gelassenen Fahnen aufhebt, sondern eben ihr Widerpart. | |
| (Aus dem Italienischen von Ambros Waibel) | |
| 16 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco D'Eramo | |
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