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# taz.de -- Debatte Erster Weltkrieg und Eliten: Das Fiasko weißer Männer
> Der Erste Weltkrieg war auch die Antwort einer verunsicherten Elite auf
> die Moderne. Und ein deutscher Griff nach Weltgeltung.
Bild: Gerechte Verteidigung: Anfangs waren die meisten begeistert.
Am 31. Juli 1914 trat Wilhelm II. auf den Balkon des Berliner
Stadtschlosses und rief: „Neider überall zwingen uns zu gerechter
Verteidigung“. Deutschland fühlte sich angegriffen und zog in den Krieg.
Das war in Wien, Sankt Petersburg und Paris nicht anders. Doch in Berlin,
wo sich die Elite sowieso von Feinden umzingelt fühlte, war das Gefühl,
endlich mit Recht losschlagen zu dürfen, besonders beglückend.
Der Beginn des Ersten Weltkrieges war eines der verwickeltsten historischen
Ereignisse. Er brach aus, weil alle Beteiligten sich attackiert fühlten und
weil alle Regierungen ihren Untertanen mehr oder weniger plausibel machen
konnten, dass man sich gegen bösartige Angreifer schützen musste.
Für Angriffskriege waren die Öffentlichkeiten schon 1914 nicht zu
begeistern. Wer Aggressor, wer Opfer war, scheint bis zur
Ununterscheidbarkeit verwoben und bis heute kaum entzifferbar.
Offensichtlich hatte jeder der zwei, drei Dutzend entscheidenden Akteure
zwischen Belgrad, Berlin und London es irgendwann im Juli 1914 in der Hand,
die Katastrophe abzuwenden. Das haben die Historiker Christopher Clarke und
Herfried Münkler, wie einige vor ihnen, anschaulich vor Augen geführt.
Die übliche Formel für diese Deutung stammt von dem britischen
Premierminister Lloyd George. Demnach sind die europäischen Staaten in
diesen Krieg „hineingeschlittert“ und halb absichtslos, halb blindlings,
ins Verderben gestolpert. Die intellektuellere Fassung dieses Narrativs ist
die Spieltheorie. Derzufolge kam es zum Krieg, weil Militärs, Kaiser, Zaren
und Präsidenten in Europa im selben Moment meinten, den Einsatz erhöhen zu
können.
## Missglücktes Erwartungsmanagement
In der Marokko- und der Balkankrise hatte Europa eigentlich dichter am Rand
eines großen Krieges gestanden als im Juli 1914. Doch das diplomatische
Sicherheitsnetz hielt. Weil viele annahmen, dass auch die Serbienkrise
friedlich enden würde, spielten sie riskanter, eskalierten, drohten, ließen
mobilmachen. Das Netz riss: ein Fall von missglücktem Erwartungsmanagement.
Auch der Zufall spielte, wie Münkler betont, eine Rolle. So missverstand
Berlin britisch-russische Marineverhandlungen, was den Krieg beschleunigte.
Unsere Vorstellung von 1914 ist schärfer geworden. Der Erste Weltkrieg ist
nicht mehr nur dunkle Vorgeschichte der Katastrophe 1939. Das Bild der
deutschen Gesellschaft als eine von obskuren Feudalherren, Pickelhauben,
willigen Untertanen bevölkerten fernen Welt ist ausgebleicht – das einer
stürmischen Moderne, die „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Marx)
und die unserer Gesellschaft gar nicht unähnlich scheint, ist nach vorne
gerückt.
Der Krieg war auch ein Versuch, die Komplexität der zivilen Moderne auf ein
einfaches atavistisches „Wir gegen die“ zu reduzieren. Wahrscheinlich ist
der Krieg nur auf der Folie verunsicherter weißer Männlichkeit des Fin de
Siècle zu verstehen, die insgeheim auf dem Schlachtfeld auf
Selbstvergewisserung hoffte.
## Verletzte männliche Herrschaft
Die rein männlichen Eliten von Paris bis Petersburg wähnten die für
naturgegeben erachtete patriarchale Dominanz bedrängt, von innen und außen.
Frauenrechtlerinnen oder Psychoanalyse, die ungemütliche Zweifel am
Herrschaftsbereich männlicher Ratio schürten, mochten viele für modischen
Firlefanz halten.
Doch die proletarischen Massen, die den öffentlichen Raum bevölkerten,
wurden schon eher als sexuelle und politische Bedrohung empfunden. Und es
gab sogar – horribile dictu – farbige Männer, die sichtbar und keine
Sklaven waren. Schon die halben Demokratien waren für viele mächtige weiße
Männer eine Zumutung.
Die weißen Elite des frühen Jahrhunderts reagierte auf diese Bedrohung so
wie jede subkutan verunsicherte Macht – mit more of the same. Das
Maskuline, Pflicht und Härte, wurden überhöht. Christopher Clark entwirft
in „Die Schlafwandler“ knappe Skizzen der Männer, die 1914 das Sagen
hatten, von Conrad von Hötzendorf bis Helmuth von Moltke. Man wollte
standhaft, willensstark, entschlossen wirken – bloß nicht nachgiebig,
weich, weiblich zu erscheinen. Dieser Habitus war neu – Bismarck und
Zeitgenossen hatten noch weniger dazu geneigt, Kompromissfähigkeit für
einen Mangel an Männlichkeit zu halten. Überflüssig zu sagen, dass
übersteigerte Machoideale ungünstig sind, wenn es gilt, einen Weltkrieg
abzuwenden.
Vielleicht aber ist dieses Bild von 1914 zu sehr nach uns selbst
modelliert. Zufall, Erwartungsmangement, Moderne, Spieltheorie,
verunsichertes Patriarchat – diese Narrative spiegeln, wie wir uns selbst
beschreiben. Von den Begriffen deutscher Imperialismus und
Klassengesellschaft muss man erst mal den Staub blasen. Aber man braucht
sie.
## Deutsche Wut und Bubigesicht
Der Erste Weltkrieg hatte viele Autoren. Und Offensivpläne lagen nicht nur
in den Schubladen deutscher Generäle. Aber: Es waren deutsche Truppen, die
das neutrale Belgien überrannten, dort Hunderte Zivilisten massakrierten
und vier Wochen später 50 Kilometer vor Paris lagen. Trotzdem glaubten die
Deutschen eisern, dass sie den gerechten Verteidigungskrieg führten, den
Wilhelm II. am 31. Juli proklamiert hatte.
Hätte es diesen Krieg ohne den deutschen Imperialismus als wesentliches
Schwungrad gegeben? Die Antwort lautet, gegen Clark und Münkler: Nein. Die
deutschen Kriegsziele wurden zwar nie klar definiert. Was dem Reichskanzler
1914 vorschwebte, war nicht, was der chauvinistische Alldeutsche Verband
wollte. Der Reigen reicht von monströsen Expansionsplänen bis an Schwarze
Meer bis zu einem Kolonialreich in Afrika, von Geländegewinnen in
Frankreich bis zu einem von Deutschland wirtschaftlich beherrschten
Mitteleuropa (klingt vertraut). Trotzdem folgte die Kriegszieldebatte eher
innenpolitischen Opportunitäten als außenpolitischen Grundsätzen. Aber klar
war: Deutschland wollte Beute machen und Frankreich als koloniale Weltmacht
beerben.
Manches von diesen Eroberungsträumen kam wieder, als hysterische,
rassistische Vision der Nazis. Es klingt altmodisch: Aber man versteht 1914
besser, wenn man die Kontinuitäten des deutschen Imperialismus kennt, der
1945 in Asche fiel.
31 Jul 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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Schwerpunkt Erster Weltkrieg
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