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# taz.de -- Erster Weltkrieg und die EU: Zeit, sich zu erinnern
> Dass Krieg in Europa für alle Beteiligten unvorteilhaft ist, war schon
> 1914 bekannt. Doch damals wie heute gilt: Es gibt keinen Ort ewigen
> Friedens.
Bild: Eine Art Kollateralnutzen der Eurokrise: In den vergangenen Jahren ist ei…
In Mitteleuropa herrscht fast ein halbes Jahrhundert Frieden. Das ist in
dieser von Kriegen zerfurchten Region eine unfassbar lange Zeit. Die
Wirtschaft floriert, die Massendemokratie macht zwischen Lissabon und Sankt
Petersburg Fortschritte, wenn auch nicht im gleichen Takt. Die
Gesellschaften sind miteinander verflochten wie noch nie. Die Kinder der
britischen Oberschicht studieren in Jena. Arbeiter jobben zu Zehntausenden
in den Fabriken der Nachbarländer. Eisenbahn, Telefon, Kino ermöglichen nie
dagewesenen Austausch. Krieg? Eigentlich unvorstellbar.
Der erfahrene britische Diplomat Arthur Nicolson stellt jedenfalls
zufrieden fest, dass es außenpolitisch schon lange nicht mehr „so ruhiges
Gewässer gab“. Die Vorstellung, dass ein Massaker mit Millionen Toten
bevorstehen könnte, hält die Mehrheit zwischen Amsterdam und Wien, Moskau
und Paris für absurd – Gerede von geltungssüchtigen Generälen oder die
übliche Angstpropaganda der Arbeiterbewegung. So ist es im Juni 1914, als
die Schüsse in Sarajevo fallen – und der Erste Weltkrieg beginnt.
Die Theorie, warum in Europa ein Krieg unwahrscheinlich war, entwickelte
damals der britischer Publizist Norman Angell. In der vernetzten Moderne
mit internationaler Arbeitsteilung und der „ungeheuer gewachsenen
Schnelligkeit der Informationsverarbeitung gerade im Aktiengeschäft“ sei
Krieg unnützig. Anders als in der Antike und im Mittelalter sei Eroberung
einfach keine lohnende Sache mehr.
Die Metropolen seien finanziell so eng verkettet, dass Krieg in Europa
„kaufmännisch gesehen Selbstmord“ sei. Und ganz bildhaft: Ein deutscher
General, der die Bank von England ausplündern würde, müsste bald bemerken,
dass „sich damit auch sein eigenes Guthaben bei der Deutschen Bank in
blauen Dunst aufgelöst hat“.
## Zwang zur Zusammenarbeit
Diese Idee klingt vertraut. Als das Bankhaus Lehman Brothers im Jahr 2008
Pleite ging, zeigte sich, dass die internationale Finanzindustrie global so
verwoben ist, dass, fällt ein großer Kreditnehmer und -geber aus, das ganze
System zu implodieren droht. Das zwingt die Staaten zur Kooperation.
Angells Resümee, das er 1909 in dem Bestseller „Die falsche Rechnung“ zog,
war klar: Krieg in Zentraleuropa ist für alle Beteiligten „ein höchst
unvorteilhaftes Geschäft“. Die Gesellschaften hatten 1914 etwas Modernes.
Wenn wir zurückschauen, erblicken wir einen halbblinden Spiegel: Das Bild
ist etwas unscharf, aber man erkennt Vertrautes. Diese Spiegelung erinnert
daran, dass es keinen Ort ewigen Friedens gibt. Auch Mitteleuropa 2014 ist
keiner, mag uns ein Krieg zwischen Lissabon und Warschau, Palermo und
Helsinki auch noch so absurd erscheinen.
Die beiden Weltkriege galten lange, neben dem handfesten Kalten Krieg, als
einleuchtende Begründung für die europäische Einigung. Die EU war
gewissermaßen das politische Pendant zu Angells Idee, dass ökonomische
Verflechtung friedenstiftende Wirkung haben muss. Für eng miteinander
verflochtene Staaten ist Krieg keine Möglichkeit mehr, Konkurrenzen
auszutragen. Das war eine Grundidee für die EU. Und auch ein Motiv, warum
es immer mehr EU geben soll.
2014 ist die Erinnerung an die Schrecken des 20. Jahrhunderts verblichen.
Der letzte Politiker, der die Weltkriege für eine Schlüsselbegründung für
die EU hielt, war Helmut Kohl. Ypern und Stalingrad, Verdun und Auschwitz
verschwinden unwiderruflich aus den nationalen Kollektivgedächtnissen.
Nichts wird verdrängt. Die Gedenkstunden häufen sich. Aber das
Selbstverständnis der Nationen wird 2014, nicht nur in Deutschland, viel
weniger von der Geschichte geprägt. Das hat hat zwei Effekte: Es macht
freier – und gefährdeter.
Freier, weil es etwas Erpresserisches hatte, die EU mit den Kriegen zu
begründen. Das war eine diskursive Falle: Demokratische Politik aber
braucht machbare Alternativen.Wer will schon Krieg?
Und es macht gefährdeter. Dass das 20. Jahrhundert im Plusquamperfekt
verschwindet, geht nicht zufällig mit einer neuen Rolle Deutschlands
einher. John Kornblum, Ex-US-Botschafter in Berlin, brachte das so auf den
Punkt: „Für Washington existiert die EU nicht mehr.“ Will sagen: Wer etwas
von der EU will, ruft gleich in Berlin an, der neuen heimlichen Hauptstadt
Europas. Die Zeit der Zurückhaltung, auf die Helmut Kohl setzte, ist
vorbei. Deutschland ist so einflussreich wie seit 1945 nicht.
## Deutschland wird mächtiger
Seit der Eurokrise 2008 hat sich Machtbalance in der EU drastisch
verschoben. Paris hat weniger, Berlin mehr Einfluss. Es ist seltsam, dass
dies hierzulande wenig wahrgenommen wird – erst recht nicht als Problem. In
Deutschland hält man sich lieber für das potenzielle Opfer südeuropäischer
Misswirtschaften, die man selbstlos mit Krediten vor dem
selbstverschuldeten Bankrott gerettet hat. Für die Klage jenseits den
Rheins, dass der durch Lohndumping erkaufte Exportüberschuss Deutschlands
eine aggressive Krisenabwälzung ist, ist man taub. Für Angela Merkel ist
Deutschland Wachstumsmotor der EU, ohne den die Karre längst im Graben
gelandet wäre.
Mit historische Analogien muss man vorsichtig sein. Sie sind oft
gleichzeitig beeindruckend und ungenau. Aber es ist auffällig, dass
Deutschland in Europa eine ähnliche Rolle wie vor 1914 spielt. Deutschland
dominiert Europa wirtschaftlich. Es ist in die Rolle des Halbhegemon
gerutscht – größer als alle anderen, zu klein, um alles zu beherrschen. Und
wie damals gibt es eine verzerrte deutsche Selbstwahrnehmung. Man hält sich
eher für das Opfer, ohne zu registrieren wie die „hemdsärmelig
durchgepaukte Krisenpolitik“ (Jürgen Habermas) im Süden wahrgenommen wird.
Geschichte verläuft nicht in Schleifen. Ob sich das Drama des
Halbhegemonialen wiederholt, das hängt nicht zuletzt von der EU ab. Zum
Beispiel davon, ob die EU-Staaten nach dem Erfolg der Rechtspopulisten bei
der Europawahl in Schockstarre verfallen oder die Vernetzung der EU weiter
forcieren. Es gibt, trotz allem, ein paar hoffnungsvolle Zeichen.
Die Staatsschulden in Athen oder die Jugendarbeitslosigkeit in Sizilien
hält man in Berlin, anders als vor 20 Jahren, nicht mehr für
Auslandsnachrichten. Man beginnt zu begreifen, dass der Wahlerfolg des
Front National in Frankreich alarmierend ist, mehr noch als Erfolge der
AfD. Le Pen und die griechischen Neonazis sind auch ein Echo auf die
deutsch geprägte Krisenbewältigung.
## Rückfall ins Nationale
Kurzum: Mit der Eurokrise ist zaghaft eine europäische Öffentlichkeit und
Innenpolitik entstanden. Die wiederum ist, als eine Art Kollateralnutzen,
die fundamentale Voraussetzung für die Demokratisierung der EU. Das wäre
die dialektische List der Eurokrise, die zusammenzwingt, was
zusammengehört. Für die EU schält sich somit eine klare Alternative heraus.
Entweder die EU-Staaten fallen irgendwann in nationale Regression zurück.
Oder das Elitenprojekt EU wandelt sich weiter tastend in Richtung
Demokratie. Und in eine Art Bundesstaat mit mehr Kompetenzen.
Denn die EU braucht, um die nationale Konkurrenz auszutarieren, eine
Wirtschaftsregierung, die z.B. höhere Löhne in Deutschland anstreben müsste
und eher eingefrorene in Frankreich und Italien. Das mag nicht im aktuellen
nationalen Interesse liegen, aber im europäischen. Unvorstellbar?
Vielleicht noch. Helmut Kohl wusste, dass Deutschland sich in Europa
manchmal besser kleiner macht als es ist, dass es klug sein kann, auf
nationale Souveränität, Einfluss und Geld zu verzichten. Im eigenen
Interesse. Es ist Zeit, sich daran zu erinnern.
27 Jun 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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