# taz.de -- Debatte 100 Jahre Erster Weltkrieg: Wettlauf ums Gedenken | |
> Es wäre erst 2014 soweit, aber die Medien können nicht warten: | |
> Anmerkungen zu Sinn, Zeitpunkt und Asymmetrien des Erinnerns an den | |
> Großen Krieg. | |
Bild: Teil der Erinnerungsindustrie: Der Friedhof mit Gebeinen von Soldaten, di… | |
Ein paar Klicks bei Amazon, und es ergibt sich – wenn ich mich nicht | |
verzählt habe – folgendes Bild: Seit Anfang des Jahres sind auf Deutsch 61 | |
Bücher erschienen oder angekündigt worden, die sich ausschließlich dem | |
Ersten Weltkrieg widmen. | |
Jeder nur denkbare Aspekt hat, so scheint es, einen eigenen Band nötig | |
gemacht: der Grabenkrieg und der in U-Booten, der Luftkrieg, die | |
Krankenschwestern, die Propaganda, sogar die Kriegsneurose, sprich: | |
posttraumatische Belastungsstörung. Der Markt, er läuft heiß zum 100. | |
Jahrestag des Beginns des Großen Krieges 1914. | |
Merkwürdig dabei ist: Bis Ende August waren erst 22 Bücher erschienen, im | |
September brachen dann die Dämme mit allein 16 Neuerscheinungen, im Oktober | |
folgten 12, für November sind 6 angekündigt und für Dezember 3. Von all den | |
61 Werken werden nur ganze 2 im Januar 2014 erscheinen, also im | |
eigentlichen Erinnerungsjahr. | |
Das Gedenkfieber der Kommunikationsindustrie ist schon deswegen bizarr, | |
weil es sich allein an unserem Zahlensystem ausrichtet: Wären wir den alten | |
Babyloniern gefolgt, die auf der Basis von 6 und 12 zählten (das Jahr | |
geteilt in 12 (2 x 6) Monate von 30 (6 x 5) Tagen, mit jeweils 24 (2 x 12) | |
Stunden usw.), dann würden wir kein 10. Jubiläum feiern, sondern ein 12. | |
oder 60. | |
Ursprünglich als willkommener Vorwand gedacht, um einem von wiederkehrendem | |
Analphabetismus befallenen Publikum Auffrischungskurse in Geschichte, | |
Literatur, Kunst und Musik verordnen zu können, hat sich das Gedenken zu | |
einem Wettlauf entwickelt, in dem kein Medium rechtzeitig, also zu spät, | |
einlaufen will – was der ganzen Sache Züge des Lächerlichen verleiht: Die | |
meistgelesene italienische Zeitung, La Repubblica, hat ihre Erzählung des | |
Großen Krieges schon im Juli 2013 gestartet und begeht somit den 99. | |
Jahrestag. | |
Aber nicht alle Jubiläen sind gleich. Im nächsten Jahr gesetzt sein dürften | |
der irische Dichter Dylan Thomas (1914–1952) und der Mexikaner Octavio Paz | |
(1914–1998), der Argentinier Julio Cortázar (1914–1984), die Italienerin | |
Anna Maria Ortese (1914–1998), der Deutsche Arno Schmidt (1914–1979) sowie | |
die Französin Marguerite Duras (1914–1996). | |
## Und die Todestage? | |
Auch dem 2.000. Todestag des römischen Kaisers Augustus (63 v. Chr.–14 n. | |
Chr.) räumen wir gute Chancen ein, dem 400. von El Greco (1541–1614), dem | |
200. von Johann Gottlieb Fichte und selbstverständlich dem des Marquis de | |
Sade (1740–1814). | |
Schon etwas problematischer ist die Erinnerung an Napoleons erste – und | |
untreue – Ehefrau Joséphine Beauharnais (1762–1814). Und ob der russische | |
Anarchist Michail Bakunin in die Gedenkzeit passt, bleibt abzuwarten. Denn | |
es gibt da ja auch noch das Kino: Alec Guinness (1914–2000), Tyrone Power | |
(1914–1958), Richard Widmark (1914–2008)! | |
Und es gibt den Sport, vertreten von Baseballchampion Joe DiMaggio | |
(1914–1999), dessen noch dazu als Ehemann von Marilyn Monroe gedacht werden | |
kann. | |
Es bleibt dann wohl den Spezialisten vorbehalten, ein Wort über den | |
Anthropologen Oscar Lewis (1914–1970) zu verlieren, der das Konzept einer | |
„Kultur der Armut“ entwickelte, eines über Philippe Ariès (1914–1984), … | |
die Geschichte des Todes erforschte, und über Jean-Pierre Vernant | |
(1914–2007), der als Erster die antiken Griechen mit dem gleichen Blick | |
betrachtet hat wie heutige Anthropologen die Yanomani-Indianer. Und ganz | |
unwahrscheinlich ist es, dass irgendjemand an Pan Jin-Yu (1914–2010) | |
erinnert, den letzten Menschen, der noch Pazeh beherrschte, die | |
Muttersprache der Ureinwohner von Taiwan. | |
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass man der wunderbaren Etty | |
Hillesum (1914–1943) gedenken möge oder des französischen Mathematikers | |
Jacques Feldbau (1914–1945): Beide waren Juden, beide wurden von den | |
Deutschen umgebracht. Und mit ihnen könnte man dann gleich an Rudolf Jacobs | |
erinnern (1914–1944), einen deutschen Soldaten, der desertierte, sich den | |
italienischen Partisanen anschloss und im Gefecht umkam. | |
Und wenn wir schon beim Krieg sind: Wie wäre es mit Irina Sebrowa | |
(1914–2000), der sowjetischen Kampffliegerin aus der reinen Frauenstaffel | |
„Nachthexen“, und mit dem deutschen Fliegerass Erich Schmidt (1914–1941), | |
der 47 feindliche Flugzeuge abschoss? Um nun auf den Ersten Weltkrieg | |
zurückzukommen: Im ersten Kriegsjahr fielen an der Marne die Schriftsteller | |
Charles Péguy (1873–1914) und Alain-Fournier (1886–1914), der nur einen | |
einzigen, großartigen Roman schrieb: „Der große Meaulnes“. | |
## Der unbekannte Soldat | |
Was wir keinesfalls vergessen dürfen: Der Große Krieg ist die Geburtsstunde | |
eines der stärksten Symbole jedweden Nationalismus. Zu Ehren der Gefallenen | |
errichteten die am Krieg beteiligten Länder ein „Denkmal des unbekannten | |
Soldaten“. England in der Abtei von Westminster (1919), Frankreich unter | |
dem Triumphbogen in Paris (1920), Italien im Vittoriano in Rom (1921), die | |
USA in Arlington, Virginia (1921), das Deutsche Reich Unter den Linden | |
(1931) in Berlin. | |
Welch fundamentale Bedeutung die „Unbekanntheit“ dieser aufgebahrten | |
Kadaver für den modernen Nationalismus hat, lässt sich bei dem | |
US-Politikwissenschaftler Benedict Anderson nachlesen: Seine Anonymität ist | |
Garantie der Kollektivität, durch sie kann sich die Nation in Gänze in dem | |
Gefallenen wiedererkennen. Wobei wir anmerken müssen: Heute könnte der arme | |
Soldat kaum unbekannt bleiben, eine DNA-Analyse würde ihn identifizieren. | |
Wieder einmal sehen wir, dass eine Institution, die Jahrtausende überdauern | |
sollte, in weniger als 100 Jahren im Mülleimer der Geschichte landet. | |
Von den enormen und unsere Gegenwart prägenden Konsequenzen, die der Große | |
Krieg hatte, wird in den nächsten Monaten viel geredet werden. Wenn wir | |
beim Thema des Gedenkens bleiben, stechen zwei Dinge heraus: Da ist | |
zunächst die vollkommene Asymmetrie der Erinnerung, mit den Deutschen auf | |
der einen, den Franzosen, Italienern und Engländern auf der anderen Seite. | |
Für die Deutschen war im 20. Jahrhundert der Zweite Weltkrieg der | |
zerstörerischste – er war ihr „Großer Krieg“, mit mehr als 7 Millionen | |
Toten, während 1914–18 „nur“ gut 2 Millionen starben. | |
## Asymmetrie des Erinnerns | |
Für die anderen Länder gilt das Gegenteil, gerade wenn man berücksichtigt, | |
dass im Zweiten Weltkrieg sehr viel mehr Zivilisten umkamen, während im | |
Ersten die Toten fast alle dem Militär angehörten: So starben 1,4 Millionen | |
Franzosen im Ersten Weltkrieg und 610.000 im Zweiten; 654.000 Italiener im | |
Ersten und 415.000 im Zweiten; 750.000 Engländer im Ersten und 512.000 im | |
Zweiten. Auch die Zahl der Opfer also trennt die europäischen | |
Erinnerungskulturen. | |
Ein anderer bemerkenswerter Asspekt ist die Filmografie der Kriege. Wenn | |
man sich die Hollywood-Produktion anschaut, dann gibt es eine unglaubliche | |
Menge von Streifen über den Bürgerkrieg (1861–1865) und ebenso viel über | |
den Zweiten Weltkrieg, aber fast nicht über den Ersten – als hätte er gar | |
nicht stattgefunden, als hätte er keine Spuren hinterlassen im kollektiven | |
Gedächtnis. Und tatsächlich ist auch der Buchausstoß in den USA zum | |
Weltkriegsjubliäum deutlich geringer als der europäische. | |
Und während wir darauf warten, was uns die Erinnerungsindustrie 2014 noch | |
alles bescheren wird, sei es gestattet, kurz in diesem Jahr zu verharren | |
und noch einen Wunsch auszusprechen: dass man nämlich in angemessener Form | |
an einen Intellektuellen erinnern möge, der wie kaum ein anderer sich gegen | |
die Knechtschaft des Menschengeschlechts erhoben und dazu beigetragen hat, | |
dass unsere Gesellschaften ziviler geworden sind. Ohne Denis Diderot, der | |
1713 geboren wurde, ohne all die Kämpfe, die er ausgetragen hat, gäbe es | |
auch keine Zeitung wie diese, in der wir über das Erbe des Großen Krieges | |
reflektieren können. | |
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
31 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Marco D'Eramo | |
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