| # taz.de -- Ernst Jüngers Hauptwerk überarbeitet: Die Katastrophe begreifen | |
| > Der Germanist Helmuth Kiesel hat „In Stahlgewittern“ in einer | |
| > historisch-kritischen Ausgabe erschlossen und so lesbar gemacht. | |
| Bild: Was als Tagebuch eines Stoßtruppführers im Ersten Weltkrieg begann, gil… | |
| Philologie steht nicht gerade im Ruf, eine besonders erotische Wissenschaft | |
| zu sein. Man denkt an alte Männer, die sich über noch ältere Texte beugen, | |
| um Kommata oder andere Erbsen zu zählen. Dass Philologie aber auch mit | |
| Leidenschaft zu tun hat, dass sie Resultate hervorbringt, die praktisch und | |
| erkenntnisreich sind und geradezu schön genannt werden müssen, beweist der | |
| Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel – und das ausgerechnet mit der | |
| historisch-kritischen Ausgabe von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“. | |
| Man muss Kiesel gar nicht unbedingt erlebt haben, wie er voller | |
| Begeisterung die unterschiedlichen Fassungen, Nuancen, Varianten und | |
| Tendenzen der verschiedenen Ausgaben der „Stahlgewitter“ in | |
| powerpoint-gestütztem Vortrag erläutert. Es reicht aus, dieses üppige, nun | |
| auf mindestens doppelten Umfang (plus ebenso dickem Materialienband) | |
| angeschwollene Opus durchzublättern, um zu erkennen, dass hier etwas | |
| Einmaliges vorliegt: Ein über Jahrzehnte beweglich gebliebener Text hat | |
| hier eine feste Form gefunden, die aber gerade die Veränderungen sichtbar | |
| macht und auch Gestrichenes und Leerstellen zu inszenieren vermag. In | |
| philologischer Kleinarbeit ist ein neues, aufregendes, grafisch | |
| anspruchsvolles Leseabenteuer entstanden, das zu genießen man kein | |
| Philologe sein muss. | |
| „In Stahlgewittern“ gehört zweifellos zu den grundlegenden Büchern des 20. | |
| Jahrhunderts, wenn man den Ersten Weltkrieg als dessen „Urkatastrophe“ | |
| betrachtet und die Ausdeutung dieser Katastrophe als eine immer noch | |
| uneingelöste Herausforderung sieht. Es spielt keine Rolle, wie man Jüngers | |
| Bericht „Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“ – so der Untertitel d… | |
| Erstausgabe aus dem Jahr 1920 – einschätzt, ob als Kriegsverherrlichung | |
| eines durchaus begeisterten Soldaten, dem auch das Töten Lust bereitete, | |
| oder bloß als dezidierte Beschreibung, die in ihrer blutigen, das | |
| Kriegshandwerk keineswegs beschönigenden Genauigkeit eher abschreckend | |
| wirkt (so las zum Beispiel Erich Maria Remarque die „Stahlgewitter“). | |
| Wer den Ersten Weltkrieg begreifen will, kommt an diesem Buch, dessen Titel | |
| geradezu sprichwörtlich geworden ist, und an Kiesels monumentaler Ausgabe | |
| nicht vorbei. Auch im kommenden Jahr, in dem der Beginn dieses Krieges sich | |
| zum hundertsten Mal jährt, wird es eine wichtige Diskussionsgrundlage sein. | |
| ## Es gibt nur Annäherungen | |
| Die Uneinigkeit in der Bewertung der „Stahlgewitter“ hatte immer auch damit | |
| zu tun, dass es von 1920 bis zur großen Jünger-Werkausgabe aus dem Jahr | |
| 1978 mindestens sieben, erheblich differierende Fassungen gibt. Die erste | |
| Aufgabe des Philologen besteht darin, diese zugrundezulegenden Fassungen | |
| erst einmal zu definieren und diejenigen auszuscheiden, die unerheblich, | |
| weil mit der vorigen nahezu identisch sind. Zudem gibt es auch noch | |
| sogenannte Korrekturbücher Jüngers, Einzelexemplare, in denen er seine | |
| Änderungen notierte, die nicht immer mit dem identisch sind, was dann in | |
| Druck gegangen ist. Ein gründlicher Philologe hat also viel zu tun. | |
| Jünger pflegte an seinen Texten grundsätzlich auch nach der Publikation | |
| weiterzuarbeiten, sie waren für ihn nie abgeschlossen, niemals fertig und | |
| immer verbesserbar. Die fortgesetzten Korrekturen an seinem Werk | |
| verteidigte er mit dem Hinweis, er sehe gar nicht ein, warum er der | |
| „Museumswärter seiner selbst“ sein solle. Schließlich sei doch die | |
| Publikation nur ein willkürlicher Punkt im Prozess des Schreibens, dem | |
| immer schon zahlreiche Varianten und Überarbeitungsstufen vorausgehen. | |
| Warum also sich mit diesem Zustand begnügen? Für Jünger gab es keine | |
| Vollendung, sondern nur „Annäherungen“ – eines seiner Lieblingsworte. �… | |
| gibt nur Fassungen– der Stein der Weisen bleibt unsichtbar.“ | |
| ## Ein eigenes Bild der Überarbeitungen machen | |
| Das ist gerade für einen konservativen Autor, dem eine Vorliebe für | |
| marmorne Formulierungen nachgesagt wird, ein erstaunliches Bekenntnis, das | |
| geeignet sein könnte, Vorurteile zu überprüfen. Gleichwohl hat seine | |
| Überarbeitungspraxis Jünger viel Kritik eingetragen, wurde ihm doch | |
| unterstellt, inhaltliche Korrekturen vorzunehmen, sich gewissermaßen selbst | |
| zu verfälschen und dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. So sah es | |
| beispielsweise der Schriftstellerkollege Siegfried Lenz, der 1965, aus | |
| Anlass der ersten Werkausgabe, vermutete, Jünger spüre, „wie weit er sich | |
| von sich selbst entfernt hat“. | |
| Und Anfang der 60er Jahre kam es zum Bruch mit seinem damaligen Sekretär | |
| Armin Mohler, der ihm vorwarf, die Härte des Kriegers von einst zugunsten | |
| des anarchischen Waldgängers zum Verschwinden bringen zu wollen. Jünger | |
| behauptete dagegen, auf das Zeitlose zu zielen, auf den Kern, das wahre | |
| Wesen der Dinge, das sich eben nur zögerlich und in zeitlichem Abstand | |
| enthüllt. Deshalb ja auch „Annäherungen“ und niemals die Ankunft am Ziel. | |
| Bei den „Stahlgewittern“ sind die vorgenommen Änderungen jedoch extrem und | |
| keineswegs nur auf stilistischer Ebene. Mit Kiesels historisch-kritischer | |
| Ausgabe kann man sich nun leicht ein eigenes Bild der Überarbeitungen | |
| machen, weil sie tatsächlich zum sichtbaren Bild werden. Alle Versionen | |
| werden in- und übereinander abgebildet. Mit unterschiedlichen Farben | |
| gedruckt, lässt sich mit einem Blick erkennen, welche Passagen wann | |
| hinzugefügt und wann wieder gestrichen worden sind. | |
| Auf der linken Buchseite ist die Erstausgabe von 1920 zu finden, rechts die | |
| Fassung letzter Hand von 1978. Farbig abgesetzt ist jeweils das Ergänzte | |
| und Gestrichene. Es gibt nur wenige Passagen, die auf beiden Seiten | |
| identisch wären. Ein umfangreiches Variantenverzeichnis im begleitenden | |
| Kommentarband erfasst zudem alle kleineren Änderungen, die zugunsten der | |
| Lesbarkeit nicht direkt im Text sichtbar gemacht werden können. | |
| ## Das Blutsmäßige getilgt | |
| War die Erstausgabe als literarisierte Version der in den Schützengräben | |
| geschriebenen Kriegstagebücher noch ein direkter, das Abenteuer und das | |
| Heldentum unterstreichender Erlebnisbericht, erhielt das Buch 1924, in | |
| Jüngers nationalrevolutionärer, rechtsextremer Phase, erhebliche | |
| nationalistische Töne. Die verschwanden aber in der 14. Auflage 1934 | |
| wieder, weil Jünger nicht mit den Nazis verwechselt werden wollte, für die | |
| er keinerlei Sympathien besaß. | |
| Inzwischen galt sein Interesse, wie Kiesel in der Einleitung schriebt, „der | |
| technischen Zivilisation oder ’Werkstättenlandschaft‘ und der Herstellung | |
| einer planetarischen Ordnung, die den unterschiedlichen Bedürfnissen, | |
| Ansprüchen und Möglichkeiten der Völker gerecht werden sollte“. Damit hatte | |
| er sich vom Nationalchauvinismus der Nazis (und von seinem eigenen | |
| Nationalismus der 20er Jahre) meilenweit entfernt; alles, was „völkisch“ | |
| oder „blutsmäßig“ klang, wurde deshalb aus dem Text entfernt. | |
| Kiesels Verfahren ist revolutionär und ohne Vorbild. Aufgehoben sind darin | |
| kleine Spitzfindigkeiten wie Jüngers lebenslanger Kampf mit dem Flexions-e, | |
| eine dem 19. Jahrhundert angehörende stilistische Eigenart, den Dativ | |
| gravitätisch zu betonen. Mit Sätzen wie diesem – „Es ist im Kriege immer | |
| mein Ideal gewesen, den Gegner unter Ausschaltung jedes Hassgefühls nur im | |
| Kampfe als solchen zu betrachten, und ihn als Mann seinem Mute entsprechend | |
| zu werten“ – hat er stilistisch schwer gerungen, aus dem Mute den Mut | |
| gemacht, um schließlich aber doch wieder zum Mute zurückzukehren. | |
| Wichtiger jedoch sind andere Beobachtungen. So weist Kiesel darauf hin, | |
| dass das Wort „Trauer“ zum ersten Mal 1961 in den Text geraten ist. | |
| Verantwortlich dafür war aber Jüngers damalige Lektorin Liselotte Lohrer, | |
| seine spätere zweite Ehefrau, in deren Handschrift die Ergänzung im | |
| Korrekturbuch eingefügt wurde. Eine Passage, in der Jünger einen von ihm | |
| getöteten britischen Soldaten betrachtet, endet nun so: „Der Staat, der uns | |
| die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir | |
| müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab.“ | |
| Für Kiesel ist die Stelle auch deshalb bemerkenswert, weil sie vorausweist | |
| auf Alexander Mitscherlichs 1967 erschienenen Bestseller „Die Unfähigkeit | |
| zu trauern“. Der philologische Spürsinn und die Brauchbarkeit dieser | |
| wunderschön gestalteten Ausgabe sind gar nicht hoch genug zu veranschlagen. | |
| Im Materialienband ist auch die widerspruchsvolle Rezeptionsgeschichte | |
| nachzulesen. Der knallige Umschlag mit comic-haft bunten | |
| Granatexplosionswölkchen entspricht übrigens der Erstausgabe von 1920. So | |
| viel zu Modernität, Zeitgebundenheit und „Annäherung“. | |
| 12 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Magenau | |
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