| # taz.de -- Roman „Ach, dieses Paradies“: Meister der hingeatmeten Übergä… | |
| > Kurz vor seinem Tod schrieb John Cheever noch „Ach, dieses Paradies“. Im | |
| > Roman zeigt er einmal mehr das Substanzielle im Alltäglichen. | |
| Bild: „Zwanglos“, „gleitend“, „hingeatmet“: „Ach, dieses Paradies… | |
| John Cheevers schmaler Roman „Ach, dieses Paradies“ erzählt eine fast | |
| alltägliche Geschichte so, als würde er Puzzleteile zusammensetzen, die nie | |
| ganz genau ineinander passen und doch überraschenderweise genau | |
| zusammengehören. Wenn man am Ende das fertige Puzzle betrachtet, kann man | |
| zwar ein Bild erkennen, aber doch mit feinen Rissen. | |
| John Cheever wird derzeit wiederentdeckt. Vielleicht gerade, weil es diese | |
| träumerisch sicheren Übergänge in seiner Prosa gibt, die von den heute | |
| bewunderten amerikanischen Erzählern meist zu perfekt abgeschliffen oder | |
| übermalt sind. Peter Handke nennt diese Cheever’schen Übergänge „zwanglo… | |
| „gleitend“, „hingeatmet“; ein Teil der epischen Wirkung gehe von ihnen … | |
| Cheever, der 1982 im Alter von 70 Jahren starb, gehört zu den großen | |
| amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, ein „Writer’s writer“, einer, | |
| dem von anderen Schriftstellern Bewunderung entgegenschlägt für seine | |
| Fähigkeit, in alltäglichen Begebenheiten etwas Substantielles zu entdecken. | |
| Als „Tschechow der Vorstädte“ wurde der preisgekrönte Autor nicht zu | |
| Unrecht tituliert. John Cheevers Privatleben verlief turbulent – mit mehr | |
| Abstürzen als Höhenflügen. Seine Alkoholprobleme, eine gescheiterte Ehe und | |
| seine Bisexualität spielen als Themen immer wieder in seine Bücher hinein. | |
| ## Tschechow der Vorstädte | |
| Nun liegt das in seinem Todesjahr 1982 veröffentlichte Alterswerk „Ach, | |
| dieses Paradies“ vor. Es ist ein etwas befremdliches Buch, das zunächst | |
| zusammengeschustert erscheint, so, als hätte Cheever seine ureigenen Themen | |
| mit der Naturschutzproblematik verbunden, um Aktualität zu suggerieren. | |
| Aber der erste Eindruck täuscht. Bei Cheever geht es immer ums Ganze. | |
| Erzählen sei Offenbarung, schrieb er einmal. | |
| „Dies ist eine Geschichte, die sich vortrefflich als Bettlektüre für eine | |
| Regennacht in einem alten Haus eignet.“ So beginnt dieser Roman, der auf | |
| gewisse Weise eine Schauergeschichte ist, eine Erzählung auch über Moral | |
| und die Liebe und über das Älterwerden. Lemuel Sears heißt die Figur, der | |
| wir zuerst begegnen – er führt uns ins Zentrum des Buches, auch wenn er | |
| selbst aus diesem immer wieder hinausgleitet. | |
| Sears ist ein alter, wohlhabender Mann, aber „noch nicht gebrechlich“. Der | |
| New Yorker besucht seine Tochter, die in einem kleinen Städtchen in | |
| Connecticut lebt. Er hat seine Schlittschuhe dabei und läuft damit wie seit | |
| je auf dem gefrorenen Teich Beasley’s Pond – Gemälde alter Meister kommen | |
| ihm dabei in den Sinn. „Als Sears zwei, drei Wochen später mit seinen | |
| Schlittschuhen wiederkam, musste er feststellen, dass das Eis geschmolzen | |
| war und der Beasley’s Pond als Müllkippe diente. Das war ein schwerer | |
| Schlag.“ | |
| ## Auf der Suche | |
| Sears beauftragt einen Anwalt, die Zerstörung des Ortes zu untersuchen. Als | |
| dieser ermordet wird, schaltet er einen Umweltaktivisten namens Horace | |
| Chisholm ein. Es offenbart sich, dass windige Geschäftsleute den Ort zur | |
| Mülldeponie umgewandelt haben – Mafia-Interessen und korrupte Politik in | |
| unheiliger Allianz. Eine Vorortsiedlung gerät ins Blickfeld, zwei | |
| Nachbarsfamilien – die eine involviert in die Machenschaften um die | |
| Deponie, die andere interessiert an der Rettung des Teiches. Betsy, die | |
| Hausfrau, greift sogar zu drastischen Mitteln, um die kommunale Politik | |
| aufzurütteln. | |
| Zwischenzeitlich hat Sears die Bekanntschaft einer launischen Frau gemacht, | |
| die er begehrt und die ihm doch deutlich zu verstehen gibt, dass er einer | |
| anderen Zeit angehört, dass sie ihn gar nicht braucht. Diese Renée bleibt | |
| so rätselhaft wie die meisten Figuren in diesem Buch: Cheever zeichnet sie | |
| kurz hin, gibt ihnen aber doch keine rechte Gestalt. Man blickt wie durch | |
| ein Milchglas auf die Charaktere – man erkennt vieles, durchschaut es aber | |
| nicht. | |
| Dazu gehört auch jener irritierende Moment, als Sears sich plötzlich mit | |
| einem Fahrstuhlführer in einer pikanten Situation wiederfindet. „Der | |
| Fremde, dessen Namen er nicht kannte, nahm Sears mit nach unten in eine | |
| kleine Kammer hinter der Eingangshalle, wo er ihn und sich selbst | |
| entkleidete. Als nächstes begab sich Sears natürlich zu einem Psychiater.“ | |
| Was hier passiert – ein Mann, der ein Leben lang jungen Frauen nachjagte, | |
| lässt sich nun auf ein Techtelmechtel mit dem Liftboy ein –, ist | |
| ungewöhnlich. Cheever erzählt es mit großer Selbstverständlichkeit. Wie | |
| etwa auch die Szene, als Betsy und ihr Mann beim Halt am | |
| Highway-Straßenrand ihr Baby vergessen. Ausgerechnet der Umweltaktivist | |
| Horace, ein vom Leben Verwundeter, findet es wieder und bringt es den | |
| Eltern zurück. Wundersam erscheint das in seinem Realismus, und das | |
| Realistische erscheint höchst wunderlich. | |
| Das verlorene Paradies wird am Ende in einer Gerichtsverhandlung | |
| zurückerobert, aber der Sieg ist wohl nur vorübergehend. Der Kampf um | |
| Beasley’s Pond ist nämlich eigentlich ein aussichtsloser Kampf um die | |
| eigene Erinnerung und gegen die eigene Verlorenheit: Die Bilder der | |
| Vergangenheit sollen nicht von einer kaputten Gegenwart gelöscht werden. | |
| Aber selbst die Bilder sind nicht unschuldig, sie sind nicht ohne Risse, | |
| auf ihnen liegt bereits zentimeterdick eine Staubschicht. „Ach, dieses | |
| Paradies“ – man findet es nicht einmal in sich selbst. | |
| 17 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Rüdenauer | |
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