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# taz.de -- 100. Geburtstag von Albert Camus: Nackt in der Welt
> Er war ein Hedonist der Simplizität und Nacktsein hatte für ihn große
> Bedeutung. Am 7. November wäre der Philosoph Albert Camus 100 geworden.
Bild: Der Nobelpreisträger im November 1957.
Albert Camus war einer der hellsichtigen Freigeister seines Jahrhunderts,
und so lehnte er auch solche Nudisten, die ihre Kleiderlosigkeit wie ein
obligatorisches Kostüm tragen, als verquere „Protestanten des Körpers“ ab.
Aber in aller Selbstverständlichkeit sich am Strand auszuziehen, um Sonne
und Meer auf der Haut zu spüren, hatte für ihn eine Bedeutung, „die man gar
nicht hoch genug einschätzen kann“.
Nach zwei Jahrtausenden der „Reduzierung des Körpers und der
Verkomplizierung von Kleidern“, notierte er frohlockend, kehre in seiner
Epoche der europäische Mensch erstmals wieder zur griechischen
Natürlichkeit zurück. Immer wieder schilderte Camus – manchmal mit
hymnischem Ton – die „Hochzeitsfeste“ (so der Titel eines seiner frühen
Texte) der Begegnungen von Haut, Sonnenstrahlen und Meeresnässe. Selbst
noch im strengen Roman „Die Pest“ ließ er, weil es „zu idiotisch ist, im…
nur in der Pest zu leben“, inmitten der Düsterkeit des allgemeinen Sterbens
zwei der Hauptfiguren kleiderlos in das Meer steigen.
Der selbstbewusst nackte Mensch ist in Camus’ frühem Werk geradezu ein
Musterbeispiel jenes rebellischen Stolzes, der die Triebfeder seiner
gesamten Philosophie bleiben wird und der für ihn das absurd-subversive
Gegenstück zur schalen Eitelkeit der „seriösen“ Menschen ist.
Da der Nackte gleichermaßen arm und reich ist – arm in seiner
Kleiderlosigkeit, reich dank der Empfindungsintensitität, die sich ihm
erschließt –, überlagern sich in ihm überdies für Camus die beiden polaren
Grundmotive, die seine Kindheit geprägt hatten: die Mittellosigkeit, die
für den Sohn einer analphabetischen Putzfrau selbstverständlicher Alltag
gewesen war, und das tief in seinem Naturell verankerte Gefühl, gleichwohl
ein „König des Lebens“ zu sein. In dem autobiographischen Roman „Der ers…
Mensch“ gibt Camus eine sehr schöne Erzählung seiner algerischen Kindheit.
## Er befreite sein Weltbild
Camus war ein Hedonist der Simplizität. Als habe er dem anderen großen
Geburtstagskind des Jahres 2013, dem 100 Jahre älteren Richard Wagner, eins
auswischen wollen, konstatierte er: „Arm sind solche, die Mythen brauchen.“
Als Philosoph machte er sich früh daran, von seinem Weltbild alles
abzustreifen, was vielleicht verführerisch funkelt, aber letztlich das
Spüren von Wirklichkeit verhindert.
In dem 1942 erschienenen Essay „Der Mythos von Sisyphos“ – einem der gro�…
Texte des Existenzialismus – transponierte Camus das Glückserlebnis seiner
Jugend, sich frei von Kleidern und mit auf Glück gestimmter Sensitivität
der jedes Menschenmaß übersteigenden Gewalt von Sonne und Meer hinzugeben,
ins Philosophische.
Der nietzscheanische Grundimpuls des Buches: man soll sich von den
„Vorurteilen seines menschlichen Milieus“ freimachen. Endlich nackt der
Welt gegenübertreten. Unbedeckt vom Ewigkeitsplüsch, mit dem die Religionen
den sterblichen Menschen bedecken, sich seinem Schicksal stellen. Nicht
mehr glauben, dass die Welt einen Sinn hat, der wie ein Kostüm auf den
Menschen zugeschnitten ist. Demjenigen, der die Sinnlosigkeit der Welt
anerkenne, so verkündet blasphematorisch-überschwenglich Camus, erschließe
sich „der Wein des Absurden und das Brot der Indifferenz, die seine Größe
nähren“.
Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1957 war, wie man heute
bereitwillig konzediert, ein faszinierender Schriftsteller, ein
authentischer Philosoph und ein besonnener Zeitgenosse. Er hat, wie Michael
Walz es formulierte, „in einer schwierigen Epoche es besser gemacht als die
meisten seiner Zeitgenossen“.
In den ersten Jahrzehnten nach seinem in der Tat absurden Unfalltod (1960)
– obgleich er die Bahnfahrkarte schon gekauft hatte, begleitete er einen
Freund in dessen neu erworbenem Facel-Vega – hätten nur wenige das so
gesagt. Camus schien abgeschlagen in der Nachkriegszeit festzustecken,
während Sartre, der andere große Existenzialist, über jedes Verfallsdatum
erhaben wirkte. Aber seit dem Fall der Mauer ist der Stern des „Philosophen
für Abiturklassen“ (so einst abschätzig die Sartre-Anhänger über Camus)
erneut am Aufsteigen. Ein skeptisch gewordener Zeitgeist schätzt, dass
Camus, so man es in dem Roman die „Pest“ lesen kann, keine Illusionen
brauchte, um sich gegen Unrecht zu engagieren.
## Der Kadaver in mir
Noch in Algier hatte der so körperfrohe Camus die Bekanntschaft einer
zehrenden Krankheit machen müssen: der Tuberkulose. Aber der „Kadaver in
ihm“ hielt ihn nicht einmal vom Rauchen ab, auf zahlreichen Fotos erscheint
er mit einer Gauloise im Mundwinkel, und erst recht nicht davon, die
„Kadaver um ihn“ – die Opfer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts – nicht
akzeptieren zu wollen. Nach seinem Umzug nach Frankreich schloss er sich
schnell der Résistance an. Kaltblütig-existenzialistisch erklärte er den
Nationalsozialisten: „Der Himmel ist gegenüber euren gräulichen Siegen
indifferent, und er wird indifferent sein gegenüber unserem gerechten
Sieg.“
In der Nachkriegszeit verschloss er seine Augen nicht vor der Realität des
Stalinismus. Anders als Sartre, der laut Camus allzu bequem „seinen Stuhl
in den Wind des Fortschritts“ stellte, verweigerte er sich einer
geschichtsphilosophischen Legitimierung der „Verbrechen der Vernunft“.
Seine libertäre Politikauffassung, die sich auf die konkrete „Revolte“
statt auf die abstrakte Revolution stützt – so 1951 in dem Essay „Der
Mensch in der Revolte“ – ist auch heute für Emanzipationsbewegungen, die
statt auf abstrakte „historische Subjekte“ auf erlebte „Empörung“ setz…
hochinteressant.
## Der „situierte“ Mensch
Die Bewunderung für Camus schmälert es nicht, dass es auch ihm nicht
gelang, ganz ohne Straucheln sämtliche Hürden seiner Epoche zu nehmen.
Unbefleckte Zeitgenossenschaft ist für den „situierten“ Menschen unmöglic…
Camus’ Achillesferse war seine biographische Implikation in die
französische Kolonialgeschichte. Ausgerechnet anlässlich der
Nobelpreisverleihung 1957 kam es zum Eklat: Bei einer öffentlichen
Diskussion erklärte der gerade Geehrte, wenn er zwischen seiner Mutter, die
weiterhin in Algier lebte, und der Gerechtigkeit zu wählen habe, bevorzuge
er erstere. Die Bemerkung war und ist persönlich nachvollziehbar. Aber
viele algerische Nationalisten deuteten sie so, als sei in der Zuspitzung
des algerischen Befreiungskrieg der Humanist Camus im Kolonisten Camus
ertrunken.
Einige von Camus’ Texten können sogar im weitesten Sinne der
Kolonialliteratur zugeordnet werden. Heutigen Lesern fällt auf, dass im
Roman „Der Fremde“ das Mordopfer immer nur „der Araber“ genannt wird. Es
wäre zumindest eine Überlegung wert, ob nicht eine der Wurzeln von Camus’
Existenzphilosophie – seine Auffassung, dass die absurde Welt den Menschen
verneint, dieser aber unbeirrt in ihr seine Anliegen verfolgen soll – in
der Erfahrung des Kolonialisten liegt, der Tag für Tag gegen eine latent
feindliche Umgebung seine französische Citoyen-Republik in Gang zu halten
hatte.
Es war unter der algerischen Sonne seiner afrikanischen Jugend, dass Camus
den Hedonismus der Nacktheit entdeckt hatte. Bei den Badefesten, die er mit
seinen französischen Altersgenossen gefeiert hat, fiel gelegentlich auch
einmal sein Blick auf die weißen Würfel der Kasbah im Hintergrund des
Strandes. Das Weiß der Araberstadt, so schildert er in dem Text „Sommer in
Algier“, bildet einen ästhetischen Kontrast zu den gebräunten Körpern. Es
kümmert ihn nicht, dass hinter diesen Kontrastflächen für sich sonnende
Menschen leben, die sich verschleiern. Stattdessen fantasiert er, dass die
jugendlichen Algerienfranzosen mit ihrer der Sonne, den Wellen und der
Erotik hingegebenen Körperlichkeit „vielleicht unbewusst dabei sind, das
Gesicht einer Kultur zu modellieren, in der die Größe des Menschen endlich
ihr wahres Gesicht findet“.
Der „große“ Mensch, für den hier auf arabischem Territorium ein
griechisches Arkadien geschaffen wird, ist kein bösartiger Übermensch. Doch
er gehört einer Gesellschaft an, die 2 Jahre nach Camus’ Tod anlässlich der
Bildung des algerischen Staates und der neuen Diktatur hastig die Koffer
packen musste.
7 Nov 2013
## AUTOREN
Christof Forderer
## TAGS
Albert Camus
Philosophie
Nobelpreis für Literatur
Algerien
Roman
Schwerpunkt Frankreich
Prostitution
Algerien
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