# taz.de -- Neue Camus-Biografien: Zeitlebens zwischen den Stühlen | |
> Philosoph, Dandy und stets Außenseiter. Zwei neue Biografien sind zum | |
> 100. Geburtstag des französischen Schriftstellers Albert Camus | |
> erschienen. | |
Bild: Albert Camus 1956. | |
Mit offenen Mündern sah ein Millionenpublikum in den vergangenen Wochen | |
einem krebskranken Chemielehrer dabei zu, wie er zum kaltblütigen Mörder | |
und absoluten Bösen wurde, das nichts und niemand aufhalten kann, außer er | |
selbst. In ganz ähnliche Sprachlosigkeit hat das Publikum 1942 Albert | |
Camus’ „Der Fremde“ versetzt; bis heute einer der meistverkauften | |
französischen Romane. Und dieser Walter White aus der amerikanischen | |
TV-Serie „Breaking Bad“ erinnert in vielem an den lakonischen Mörder | |
Meursault. | |
Wenn Walter White kurz vor seinem gewaltsamen Tod mit „I liked it“ | |
eingesteht, dass der Grund seines Handelns nicht die Sorge um die Familie | |
war, sondern ganz allein er selbst, trifft er im Kern auf Camus’ | |
„Philosophie des Absurden“: Dem Leben lässt sich kein übergeordneter Sinn | |
verleihen, Freiheit erfährt der Mensch immer nur da, wo er das Zufällige | |
des Daseins akzeptiert. Es gibt keine Idee, die die Existenz des Bösen in | |
der Welt erklären, gar rechfertigen könnte. | |
Anlässlich seines 100. Geburtstags am 7. November zeigen zwei neue | |
Biografien noch einmal die Entwicklung des philosophischen und politischen | |
Denkens Camus’, das um zwei Großthemen kreist: den Konflikt zwischen | |
individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Ansprüchen und die | |
Mobilisierung und Legitimierung der Gewalt im 20. Jahrhundert. | |
Welt, Schmerz, Erde, Mutter, Menschen, Wüste, Ehre, Elend, Sommer und Meer | |
sind die zehn Lieblingswörter von Camus. Iris Radisch, Literaturchefin der | |
Zeit, hat sie als Kapiteltitel ihrer Biografie „Camus. Das Ideal der | |
Einfachheit“ gewählt. Elegant bündelt sie damit die Dramen, Skizzen, | |
Romane, Essays, Reden, politische und journalistische Texte und Tagebücher, | |
die Camus in seinem kurzen Leben hinterlassen hat. Diese Fülle an Material | |
setzt sie gekonnt in die Klammern seiner durch stets wechselnde Orte, | |
Frauen und Tätigkeiten „atemlosen Existenz“. | |
Dass der 1913 in Algerien geborene, 1960 bei einem Autounfall gestorbene | |
Nobelpreisträger trotz Weltruhm und Dandytum immer ein „Außenseiter“ blie… | |
ist der große Bogen beider Biografien. Der Sohn aus dem französischen | |
Arbeitermilieu Algeriens, dessen Vater im Ersten Weltkrieg starb, dessen | |
Mutter nicht lesen konnte und auch sonst kaum Worte verlor, der seit seiner | |
Kindheit an Tuberkulose litt und die Hölle des Nationalsozialismus in | |
Frankreich erlebte, wurde von den französischen Intellektuellen wegen | |
seiner Kritik am Marxismus als Verräter betrachtet, als Philosoph nicht | |
ernst genommen und von den algerischen Unabhängigkeitskämpfern wegen seiner | |
Verurteilung jeglicher Gewalt als Kolonialist verachtet. | |
## Den Algerier entdecken | |
Warum Camus immer „zwischen den Stühlen saß“, liegt für Radisch in den z… | |
„Polen“ seines Lebens begründet: der einfachen algerischen Herkunft und dem | |
Leben eines weltberühmten Theoriestars im intellektuellen Paris der 40er | |
und 50er Jahre. Radisch geht so weit, selbst die „Tonlosigkeit“ der | |
Sprache, für die „Der Fremde“ als revolutionäre Erneuerung der europäisc… | |
Literatur gefeiert wird, biografisch zu erklären. So stammten Schweigen, | |
Kälte und Einfachheit seines Stils schlicht von seiner analphabetischen | |
Mutter. | |
Martin Meyer setzt in „Albert Camus. Die Freiheit leben“ stärker auf die | |
Darstellung der philosophischen und künstlerischen Quellen wie der | |
hegelianischen Geschichtsphilosophie und der nietzscheanischen und | |
surrealistischen Revolte wider die Vernunft, um den Kampf zu illustrieren, | |
den Camus von seiner akademischen Abschlussarbeit über christliche | |
Metaphysik und Neuplatonismus bis zum Essay „Der Mensch in der Revolte“ | |
lebenslang führte: gegen die „Ideologisierung der Politik“. | |
„Es ist Zeit, den algerischen Camus zu entdecken“, postuliert Radisch. Und | |
in der Tat ist es angesichts der Entwicklung, die die Revolten in | |
Nordafrika nehmen, lohnenswert, Camus’ Plädoyer, jeglichen Messianismus | |
abzulegen und die politischen Kämpfe mit „Maß“ anzugehen, noch mal | |
gründlicher anzugucken. Camus ist im heutigen Algerien übrigens ein blinder | |
Fleck. Und seine „Algerische Chronik“ bislang nicht mal ins Deutsche | |
übersetzt. Immerhin aber lassen sich Teile von Camus’ Haltung zur | |
politischen Befreiung Algeriens und seine auch darin begründete Nähe zum | |
Anarchismus in dem jetzt erscheinenden, von Lou Marin herausgegebenen Band | |
„Libertäre Schriften“ nachlesen. | |
11 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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