# taz.de -- Aleida Assmann über Erinnerungskultur: Kollidierende Gedächtnisse | |
> Zeitzeugen sterben, die Deutungshoheit der 68er schwindet. Wie erinnern | |
> wir uns, welche Wirkungen hat das? Aleida Assmann interveniert. | |
Bild: Erinnerung ist ein dynamischer Prozess. Die monologische Gedächtniskonst… | |
Wie erinnern wir uns heute an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust? Es | |
gibt kaum noch Zeitzeugen, die berichten können, und je weiter diese | |
Ereignisse zurückliegen, umso schwieriger ist die Erinnerung lebendig zu | |
halten und abstraktes Wissen an die Jüngeren zu vermitteln. Dieser Umstand | |
gepaart mit der Eurokrise und dem immer unverblümteren Rassismus in Politik | |
und Gesellschaft erzeugt unter Intellektuellen ein wachsendes Unbehagen: | |
Wie soll es weitergehen mit unserem Geschichtsbewusstsein? | |
In ihrem neuen Buch analysiert Aleida Assmann den aktuellen Diskurs über | |
die Erinnerungskultur: nüchtern, streitbar und konstruktiv. Sie hält es für | |
ein „verbreitetes und hartnäckiges Missverständnis“, dass Erinnern eine | |
rückwärtsgewandte Haltung sei, die an der Vergangenheit klebe und die | |
Zukunft verstelle. Erinnerung, so sagt sie, sei ein dynamischer Prozess und | |
nehme stets neue Formen an. | |
Die Literaturprofessorin beschreibt die veränderte bundesrepublikanische | |
Haltung zum Holocaust – nach 1945 hätten die Deutschen sich zunächst selbst | |
als Opfer des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen, spätestens ab 1985 wäre | |
jedoch das Leid der jüdischen Opfer in den Mittelpunkt gerückt. Die | |
68er-Generation brach das Schweigen der Eltern und zog unter die | |
Vergangenheit einen „moralischen Trennungsstrich“; selbst ideologisiert, | |
hätten sie ihren Eltern in einer Art reenactment vorgelebt, wie diese sich | |
in der Nazi-Zeit hätten verhalten sollen. | |
Assmann nimmt die in letzter Zeit so häufig in die Kritik geratene zweite | |
Generation jedoch in Schutz, schuf sie ihrer Ansicht nach doch die | |
Voraussetzungen für die dritte Generation, sich nun ohne Abspaltungen mit | |
der eigenen Familiengeschichte und Herkunftswelt zu befassen. Die Autorin | |
übersieht dabei, dass in den meisten Familien über die Rolle der eigenen | |
Verwandten im Zweiten Weltkrieg bis heute weiter geschwiegen wird. | |
Assmann macht deutlich, warum sie Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ | |
als [1][Erinnerungsmaterial für untauglich] hält. Sie differenziert, | |
welchen Inhalt und Rahmen die Erinnerung braucht, um sinnvoll zu sein. | |
Dabei widerspricht sie dem Soziologen Harald Welzer, der das Erinnern auf | |
offizielle Akte von Funktionären und Politikern reduziere. Für sie sind | |
solche Rituale zwar auch notwendig, vor allem aber vertraut sie der | |
Vitalität zivilgesellschaftlicher Initiativen wie z. B. lokalen | |
Geschichtsprojekten ([2][Stolpersteine] usw.), die auch die jüngere | |
Generation einbeziehen und einen aktiven Bezug zur Vergangenheit | |
herstellen. In ihrem Bild von einer beweglichen Erinnerung finden auch | |
Migranten ihren Platz. | |
Anders als die meisten Historiker zieht Assmann keine Grenze zwischen | |
methodisch aufgearbeiteter Geschichte und persönlichem Gedächtnis, vielmehr | |
betrachtet sie sie zu Recht als komplementär. Sie konstatiert eine weitere | |
„eklatante Spaltung“, für deren Aufhebung sie plädiert: das asymmetrische | |
Gedenken an die beiden Kernereignisse des 20. Jahrhunderts, Holocaust und | |
Stalinismus. | |
## Konkurrierende nationale Legenden | |
Sie räumt ein, dass Unbehagen dort berechtigt sei, wo beabsichtigt ist, | |
eines der beiden Ereignisse zu relativieren oder zu trivialisieren. Ihr | |
geht es keineswegs um Nivellierung, sondern darum, die Opferkonkurrenz | |
zwischen West- und Osteuropa zu beenden und zu einem gemeinsamen, | |
verbindenden europäischen Gedenken zu gelangen: „Die europäische | |
Integration [kann] nicht wirklich fortschreiten …, solange sich die | |
monologischen Gedächtniskonstruktionen der Mitgliedsstaaten weiter | |
verfestigen und miteinander kollidieren.“ | |
Sie schlägt deshalb ein „dialogisches Erinnern“ vor, worunter sie eine | |
„wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug | |
auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte“ versteht. | |
Assmann nennt ihren Beitrag eine Intervention. Man muss ihr für diese | |
Intervention danken, denn sie kommt zur rechten Zeit und mit den richtigen | |
Botschaften. Die gesellschaftlichen Spaltungs- und | |
Ent-Solidarisierungsprozesse in Deutschland und Europa verlangen dringend | |
nach einem integrativen Ansatz, der die Pluralität der Perspektiven | |
anerkennt und die Vergangenheit aktiv mit der Gegenwart verbindet. Nur so | |
kann die Erinnerung auch der Zukunft dienen. | |
11 Oct 2013 | |
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## AUTOREN | |
Alexandra Senfft | |
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