# taz.de -- Literaturnobelpreis für Alice Munro: Eine, die früh das Warten le… | |
> Der direkte Weg war der Schriftstellerin oft versagt. Nun hat Alice Munro | |
> mit 82 Jahren den Nobelpreis für Literatur bekommen. Zu Recht. | |
Bild: Schreibt oft über das Aushalten des Unglücks: Alice Munro, lachend. | |
Alice Munro haben wir, vier Schwestern, erst spät für uns entdeckt; dann | |
aber gern untereinander verschenkt und über die Bücher geredet. Es war für | |
uns eine von Trennungen bedrohte Zeit. Vielleicht wuchsen uns die Bände mit | |
den Kurzgeschichten der kanadischen Autorin deshalb so ans Herz, weil sie | |
so oft vom Aushalten des Unglücks erzählen. | |
Nie ist ihr Ton dabei pathetisch oder sentimental, sondern von einer | |
Lakonie, einem Unterlaufen des Großen und Schweren geprägt. Gerade das | |
macht ihre Geschichten so trostreich und so hilfreich. | |
Da gibt es in „Zu viel Glück“ (2011 von Heidi Zerning ins Deutsche | |
übersetzt, bei Fischer erschienen) die Geschichte einer älteren Frau, Nita, | |
an Krebs erkrankt, die sich schon ganz von allen Freunden zurückgezogen | |
hat, als glaube sie selbst, mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben und auf | |
den Tod zu warten. | |
Bis ein Einbrecher bei ihr aufkreuzt, den sie unglaublich geschickt in | |
Gespräche verwickelt, die ihn nicht nur von bedrohlichen Plänen ihr | |
gegenüber abbringen, sondern sie selbst auch zurück in ein Leben, dessen | |
Tage ihr nun doch so viel mehr wert scheinen als noch kurz zuvor. Und nicht | |
nur für ihre Zukunft verändert sich damit etwas, sondern auch ihr Leben bis | |
dahin erscheint dem Leser der Geschichte „Freie Radikale“ und auch ihr in | |
einem unerwarteten Licht. | |
Meine Lieblingsgeschichte erzählt von einem älter werdenden Paar, das sich | |
fast lautlos, ohne Widerstand, darein ergeben hat, der Depression der | |
Ehefrau nichts mehr entgegensetzen zu können. Aber dann kommt der Tag, an | |
dem er im Wald beim Holzfällen vom Wintereinbruch überrascht wird und von | |
einer Verletzung. | |
## Der entscheidende Augenblick | |
Seine Frau ist die Letzte, von der er sich Rettung erwartet hätte, so in | |
Unselbstständigkeit zurückgefallen, wie sie war. Aber genau sie taucht im | |
entscheidenden Augenblick auf. Als ob eine alte Liebe, die keiner mehr am | |
Leben glaubte, doch dann noch einmal zu sich findet, als es | |
lebensentscheidend ist. Aber Alice Munro hängt die Dinge immer ein bisschen | |
tiefer, buchstabiert nicht die Emotionen aus. Eher die Farbe des Schnees im | |
nassen Wald. | |
Dass Alice Munro den Literaturnobelpreis als alte Frau, mit 82 Jahren, | |
erhält, scheint zur Geschichte einer Schriftstellerin zu passen, die das | |
Warten früh gelernt haben muss. Sie musste ihr Studium der Journalistik in | |
Ontario Anfang der 50er Jahre aus Geldmangel abbrechen, und es dauerte | |
lange, bis eine erste Sammlung von Erzählungen publiziert wurde. Der | |
direkte Weg war ihr oft versagt. | |
Wie das Zurückgesetzt werden schmerzt, wie Enttäuschungen Bitterkeit, aber | |
auch eigentümliche Strategien der Geduld und der Tarnung auslösen, das | |
erfährt man im zweiten Teil der autobiografischen Erzählungen „Wozu wollen | |
Sie das wissen – Elf Geschichten aus meiner Familie“ (2008 auf Deutsch bei | |
Fischer erschienen). | |
## Angst war etwas Alltägliches | |
Sie erzählt da in „Von der Hände Arbeit leben“ über ihren Vater, seinen | |
Traum einer Silberfuchsfarm und das elende Scheitern dieses Unternehmens, | |
das ihn sein weiteres Leben lang als Fabrikarbeiter, der Schulden | |
abbezahlen musste, bedrückte. Und auch von den Demütigungen eines | |
Sommerjobs als Schülerin, als Aushilfe bei einer wirtschaftlich besser | |
gestellten Familie. | |
Wie genau sie die feinen Grenzziehungen protokollierte, die ihr die | |
Nichtzugehörigkeit klarmachten, das erschütterte sie selbst als Erzählerin | |
von „Aushilfe“ viele Jahre später, und sie hadert mit ihrem früheren Ich. | |
In der Welt, aus der sie kam, war zum Beispiel „Angst etwas Alltägliches, | |
zumindest für Frauen und Mädchen. Man konnte Angst vor Schlangen haben, vor | |
Gewittern, tiefem Wasser, großen Höhen, dem Bullen und dem einsamen Weg | |
durchs Moor, ohne das irgendjemand schlechter von einem dachte. In Mrs | |
Mountjoys Welt jedoch war Angst etwas Beschämendes, das stets überwunden | |
werden musste.“ | |
Und man nimmt beim Lesen den Eindruck mit, dass Alice Munros Arbeit als | |
spätere Schriftstellerin, nämlich den Aufwand und die Arbeit zu | |
registrieren, die zur Überwindung dieser Scham vonnöten sind, eigentlich | |
schon damals begann. Unter ihren vielen Bänden mit Kurzgeschichten (die in | |
den letzten Jahren zahlreiche bedeutende Literaturpreise im | |
englischsprachigen Raum erhielten) gibt es nur einen Roman. Fehlt ihr der | |
Atem für eine längere Erzählung, könnte man sich fragen. | |
## Genaue und detaillierte Stimme | |
Andererseits haben viele der Geschichten etwas lang Gereiftes – als hätten | |
sie schon irgendwo gelegen und auf ihr Formwerden gewartet und in dieser | |
Zeit auch womöglich Überflüssiges verloren. Munros Erzählstimme kann sehr | |
genau und detailliert sein, wenn es darum geht, ein Milieu zu entwerfen, | |
eine Tür zu öffnen und den Leser ins Bild zu setzen. Dann aber bleibt | |
vieles von dem, was einen beim Lesen bewegt, unausgesprochen. Munro | |
vertraut dem Lesenden bald, sich hineingefunden zu haben in das, was ihre | |
Figuren beschäftigt. | |
Vielleicht ist es auch das, was nach ihren Geschichten so süchtig machen | |
kann: dass die eigene Vorstellungskraft so viel zu tun bekommt. | |
10 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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