| # taz.de -- Alice Munros neuer Kurzgeschichtenband: Seht her, solche Dinge gesc… | |
| > Der neue Band der Nobelpreisträgerin Alice Munro heißt „Liebes Leben“. | |
| > Darin beschwört sie die Notwendigkeit der Literatur, um das Dasein zu | |
| > begreifen. | |
| Bild: Alice Munros letztes Buch? „Liebes Leben“ erscheint auf Deutsch pünk… | |
| Was macht ein Leben aus? Alice Munro, die große Kurzgeschichtenerzählerin, | |
| die in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält, versucht es in | |
| ihrem neuen Buch zu fassen. „Dear Life“ heißt dieser Brief an das Leben in | |
| der englischen Originalausgabe. Es sind 14 Erzählungen, die jetzt, | |
| pünktlich zur Nobelpreisverleihung am 10. Dezember, mit dem Titel „Liebes | |
| Leben“ auf Deutsch erscheinen. | |
| In der ersten Geschichte des Bandes sendet Greta, Dichterin, Ehefrau und | |
| Mutter, einen Brief an einen Mann, den sie kaum kennt: „Diesen Brief | |
| schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken … Und hoffen, er | |
| wird Japan erreichen.“ Der Brief wird ihrem Leben eine Wende geben, und das | |
| nicht nur, weil den Mann ihre Botschaft erreicht. Gretas Zeilen sind der | |
| Beginn eines vorsichtigen Aufbruchs in ein anderes Leben, das Sichöffnen | |
| für unzählige wahrscheinliche und unwahrscheinliche Möglichkeiten in der | |
| Zukunft. | |
| Dass es die zufälligen Begegnungen und plötzlichen Wendungen sind, die ein | |
| Leben zu dem machen, was es ist, erzählt Munro mit Figuren, die zunächst | |
| ganz unspektakulär in Erscheinung treten. Sie führen bürgerliche Leben, | |
| haben ein kleines Talent für irgendetwas oder auch nicht, sind weder | |
| besonders glücklich noch offenkundig unzufrieden. Doch wir Leser fühlen | |
| ihre Unvollständigkeit, wir begreifen, wie sehr sie sich nach etwas sehnen, | |
| von dem sie oft nicht einmal selbst etwas wissen. | |
| Von Dramen und Lebensbrüchen wird hier ganz leise erzählt. Ein Kind | |
| ertrinkt in einem See, ein Mann lässt eine Frau am Hochzeitstag sitzen, | |
| eine Familie teilt ein Geheimnis, das nie gelüftet wird. Munro berichtet | |
| von diesen Ereignissen fast nüchtern, als wollte sie sagen: Seht her, so | |
| ist das Leben eben, solche Dinge geschehen. Ihr Ton ist nie pathetisch, | |
| ihre Sprache nimmt ihre Kraft aus der Schlichtheit. Allerdings kann Munro | |
| auch sehr komisch sein: „Sie sagte, sie habe nie Zeit für Gott gehabt, denn | |
| sie habe mit ihrem Vater alle Hände voll zu tun.“ | |
| ## Viel sagen mit wenigen Worten | |
| Munros große Kunst ist es, uns nicht nur mit ihren Figuren fühlen zu | |
| lassen, sondern uns auch in ihre Denksysteme einzuweihen. Wir begreifen, | |
| aus welcher eigenen inneren Logik heraus sie handeln, selbst wenn ihre | |
| Entscheidungen fatale Folgen haben. | |
| Die Fähigkeit, Komplexität der Gedanken- und Gefühlswelten, die einem | |
| einzelnen Menschen innewohnen, in einer kurzen Geschichte zu komprimieren, | |
| verleiht Munros Geschichten ihre Wucht. Es ist, als würde sie uns auf | |
| wenigen Seiten alles Wissenswerte über ein ganzes Land oder ein ganzes | |
| Zeitalter mitteilen. Man weiß, dass es nicht geht. | |
| Und doch schafft es Munro, in einer kurzen Episode einen Menschen und seine | |
| Lebensumstände zu beschreiben und uns glauben zu machen, wir wüssten, wie | |
| es sich anfühlt, dieser Mann oder diese Frau zu sein. Wir teilen ihre | |
| Liebesabenteuer und Krisen, ihr Scheitern und ihr Können, und wir verstehen | |
| diese Lebensangelegenheiten sowohl intellektuell als auch emotional. | |
| ## Immer eine Verbindung zur Welt | |
| Alle Erzählungen spielen in Munros Heimat Kanada. Geboren 1931, wuchs sie | |
| auf einer Farm in der Nähe von Wingham in der Provinz Ontario auf. Schnell | |
| zog sie als junge Frau fort von dort, um zu heiraten und Kinder zu | |
| bekommen. Doch die Gegend um Wingham herum, der Huron County, bleibt das | |
| Land ihrer Geschichten. „Dann trat Stille ein, die Luft wie Eis. | |
| Zerbrechlich aussehende Birken mit schwarzen Flecken auf der weißen Rinde | |
| und irgendeine Sorte niedriger, wuscheliger Nadelhölzer, zusammengerollt | |
| wie schlafende Bären“, heißt es in der Erzählung „Amundsen“. | |
| Es sind oft weite Landschaften mit Provinzkäffern, in denen Munro die | |
| Erzählungen ihrer Bücher ansiedelt, doch ist da immer auch irgendwo ein | |
| Bahnhof, ein Zug oder ein Bus, der in die nächste Stadt geht, eine | |
| Verbindung zu einem anderen Teil der Welt. | |
| In den Städten besuchen die Menschen Literatenpartys („Es herrschte eine | |
| Aura von Anmaßung oder Nervosität, ganz egal, wer man war“), Hauskonzerte, | |
| Krankenhäuser. | |
| Bücher tauchen in jeder Munro-Geschichte auf, egal, ob sie in der Stadt | |
| oder auf dem Land spielt. Es gibt immer mindestens einen, der liest oder | |
| schreibt, selbst auf den entlegensten Gehöften. Oder jemanden, der sich | |
| über Leo Tolstoi unterhalten will oder A. A. Milne zitiert. | |
| Das ist es, was diese Kurzgeschichten eint: Jede von ihnen beschwört die | |
| permanente Gegenwart von Literatur, die Notwendigkeit des Erzählens, um das | |
| Dasein zu begreifen. | |
| ## Geschichten aus der Perspektive der Frauen | |
| ## | |
| Und dann sind da noch die Frauen. Sie sind oft die Protagonistinnen in | |
| Munros Büchern, aus ihrer Perspektive erzählt sie. Immer hat sich Munro für | |
| das Innenleben von Frauen und die äußeren Bedingungen, in denen sie leben, | |
| interessiert, ohne dabei „Frauenliteratur“ zu verfassen. | |
| Viele Leserinnen und Kritikerinnen lieben Alice Munros Geschichten, viele | |
| männliche Buchkenner und Literaturkritiker haben sich nie mit ihrem Werk | |
| befasst, obwohl Munro seit Langem als herausragende Autorin gilt und | |
| vielfach ausgezeichnet wurde, etwa mit dem Commonwealth Writers Prize, | |
| zweimal mit dem kanadischen Giller Prize for Fiction sowie dem | |
| International Man Booker Prize. Mit dem Literaturnobelpreis 2013 erhält | |
| Munros Werk plötzlich die Aufmerksamkeit, die es verdient. Rezensenten | |
| entdecken ihre außergewöhnlichen Geschichten. | |
| Zum ersten Mal in der Geschichte des Nobelpreises wird ein literarisches | |
| Werk ausgezeichnet, das fast „nur“ aus Kurzgeschichten besteht. Die | |
| Shortstory ist Munros Form, sie hat sie perfektioniert. | |
| ## Keine Zeit, um Romane zu schreiben | |
| Ihre schlichte Begründung, weshalb sie nicht mehr längere Stücke verfasst | |
| hat, lautet: keine Zeit. Als sie in den 1960er Jahren mit dem Schreiben | |
| begann, waren ihre Töchter noch klein. Eingezwängt zwischen Schulaufgaben | |
| und Schuldgefühlen hat Munro ihr Schriftstellerinnendasein gepflegt. | |
| In ihren Erzählungen kommen immer wieder Mütter vor, die überfordert sind, | |
| ihre Babys mit Betäubungsmitteln ruhigstellen oder ihre Kinder verlassen. | |
| Nicht selten geht es um Frauen, die ihr Selbst gegen eine totale | |
| Vereinnahmung als Hausfrau und Mutter zu verteidigen suchen. Aber so direkt | |
| hat Munro es nie ausgedrückt, ihre Erzählungen sind nicht explizit | |
| feministisch. | |
| In ihrem neuen Buch ist das anders. An einer Stelle heißt es: „… dann | |
| musste sie erklären, dass das Wort Feminismus damals noch gar nicht in | |
| Gebrauch war. Also behalf sie sich damit, zu sagen, irgendeinen ernsthaften | |
| Gedanken zu haben – geschweige denn Ehrgeiz – oder vielleicht sogar ein | |
| richtiges Buch zu lesen, konnte dich verdächtig machen, und mit der | |
| Lungenentzündung deines Kindes in Verbindung gebracht werden“. | |
| Als „schreibende Hausfrau“ wurde Alice Munro nach der Bekanntgabe des | |
| Nobelpreises von einem schreibenden TV-Moderator in einer Sendung | |
| vorgestellt. Munro hat sich selbst auch schon so bezeichnet, möglicherweise | |
| mit einem Schuss mehr Ironie. | |
| ## Erste und letzte Dinge | |
| 82 Jahre ist sie jetzt alt, an der Nobelpreisfeier wird sie nicht | |
| teilnehmen, und sie sagt, „Liebes Leben“ sei ihr letztes Buch. „Finale“ | |
| steht vor den letzten vier Geschichten des Bandes. „Sie bilden eine | |
| gesonderte Einheit, die vom Gefühl her autobiografisch ist“, schreibt | |
| Munro, und: „Ich glaube, sie sind die ersten und letzten – und die | |
| persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.“ | |
| Was macht ein Leben aus? Lesen Sie selbst. | |
| 8 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jenny Friedrich-Freksa | |
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