# taz.de -- Umstrittene Literaturnobelpreisträgerin: Der Quell ihrer Brillanz | |
> Nach den Missbrauchsenthüllungen ihrer Tochter fragt sich: Muss man die | |
> Werke der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro neu lesen? | |
Bild: Erst im Tod konnte sich Alice Munro aus der toxischen Verschlingung mit i… | |
Es ist beinahe schon eine Binsenweisheit, dass das Werk vom Autor zu | |
trennen ist. Rückschlüsse von der Biografie auf den Autor trivialisierten | |
die Literatur, predigte einst Michel Foucault, sie seien deshalb | |
irrelevant. Doch im Leben lassen sich solche theoretischen Grenzziehungen | |
meist nur schwer aufrechterhalten. | |
So taucht verlässlich jedes Mal, wenn ein Skandal um einen Künstler an die | |
Öffentlichkeit gelangt, die Frage auf, ob man sich das Werk noch zu Gemüte | |
führen darf. Darf man noch Filme von Woody Allen oder Kevin Spacey sehen? | |
Darf man noch Bücher von Junot Díaz lesen, darf man noch Michael Jackson | |
hören, oder, in jüngerer Zeit, P. Diddy und Jay-Z? | |
Seit dem vergangenen Sommer beschäftigt diese Frage auch die kanadische | |
Nation, [1][wenn von Alice Munro gesprochen wird], [2][der | |
Literatur-Nobelpreisträgerin,] deren Kopf eine Briefmarke ziert und die vom | |
zurückgetretenen Premierminister Trudeau als nationale Ikone bezeichnet | |
wurde. Literaturprofessoren ringen damit, wie mit ihrem unzweifelhaft | |
herausragenden Werk umzugehen ist. Buchhandlungen wissen nicht, ob und | |
wohin sie Alice Munros Bücher in die Regale stellen sollen. Und Kollegen | |
sorgen sich darum, welches Licht die Affäre um Munro auf die gesamte | |
kanadische Literatur wirft. | |
## Ohne das Familiendrama nicht zu verstehen | |
Ausgelöst wurde die nationale Schockwelle durch einen Aufsatz von Munros | |
Tochter Andrea Robin Skinner im Toronto Star, in dem sie offenlegte, wie | |
sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde und wie ihre Mutter sie | |
nicht nur nicht beschützt, sondern bei der jahrzehntelangen Vertuschung der | |
Vorgänge mitgewirkt hat. Nun haben sowohl die New York Times als auch der | |
New Yorker in investigativen Stücken von epischer Länge das Familiendrama, | |
das sich über 50 Jahre hinzog, im Detail ausrecherchiert. | |
Einig waren sich die Autoren dabei vor allem in einem: Man kann, ja man | |
sollte sogar unbedingt weiterhin Alice Munro lesen. Gleichzeitig bestehe | |
ein unbedingter Zusammenhang von Autorin und Werk. Das Werk der Alice Munro | |
ist nicht nur ohne das Familiendrama nicht zu verstehen. In vielerlei | |
Hinsicht ist das Werk Teil des Familiendramas. | |
Im Oktober 1993 erschien im New Yorker eine Kurzgeschichte von Alice Munro | |
mit dem Titel „Vandals“. Die Hauptfigur Bea, eine geschiedene Frau | |
mittleren Alters, die klare autobiografische Züge trägt, verfällt einem | |
Mann namens Ladner, einem charismatischen Armeeveteranen. Die beiden ziehen | |
auf ein entlegenes Landgut, zu dem ansonsten nur zwei vernachlässigte | |
Kinder aus der Nachbarschaft Zugang haben. Nach und nach erfährt Bea, dass | |
Ladner eines der Kinder, Liza, seit Jahren sexuell missbraucht. Bea fühlt | |
sich tief in den Schmerz des Kindes ein, doch sie ist unfähig, Ladner zu | |
konfrontieren oder ihn zu verlassen. Am Ende zerstört Liza in einem Akt des | |
Zorns und der Rache das Haus des Paares. | |
Kurz zuvor, im Jahr 1992, hatte Andrea Robin Skinner, die mittlerweile 25 | |
Jahre alt war und an schweren psychosomatischen Symptomen wie Migräne, | |
Schlaflosigkeit und Bulimie litt, endlich den Mut gefasst, mit ihrer Mutter | |
darüber zu reden, was in ihrer eigenen Familie vor sich gegangen war. Seit | |
sie neun Jahre alt war, wurde Andrea Skinner von Alice Munros zweitem Mann, | |
einem Weltkriegsveteranen namens Gerald Fremlin, sexuell missbraucht. Zu | |
mehreren Gelegenheiten hatte Fremlin das Mädchen ganz unumwunden | |
vergewaltigt. | |
Andrea Skinner hatte den Missbrauch bislang aus den gleichen Gründen für | |
sich behalten, aus denen die meisten Missbrauchsbetroffenen stillhatten. | |
Sie trug Scham- und Schuldgefühle mit sich, und sie hatte Angst davor, die | |
Familie zu zerstören. Als ihre Mutter ihr von einem Roman erzählte, in dem | |
eine junge Frau nach ihrem sexuellen Missbrauch Selbstmord begeht, schöpfte | |
Andrea Skinner Hoffnung, auf Mitgefühl zu stoßen. | |
Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Alice Munro verließ zwar | |
vorübergehend Fremlin. Andrea Skinner besuchte ihre Mutter, war von deren | |
Reaktion jedoch enttäuscht. Es sei ihrer Mutter nur um sie selbst gegangen | |
und um ihr Gefühl, betrogen worden zu sein, schrieb sie in ihrem Aufsatz im | |
Toronto Star. Fremlin hatte in der Zwischenzeit die Anschuldigungen | |
abgetippt und mit ausführlichen Randkommentaren versehen. Der Unterton war, | |
dass Andrea, wie Nabokovs Romanfigur Lolita, die Schuld trage, weil sie ihn | |
„verführt“ habe. | |
Nach kurzer Zeit zog Alice Munro zu Fremlin zurück. Der Kontakt zwischen | |
ihr und ihrer Tochter brach bis zu Munros Tod ab. Welches Mitgefühl auch | |
immer Munro für ihre Tochter verspürt haben mag, sie konnte es nur in ihrer | |
Kunst ausdrücken. Im wahren Leben war sie bereit, für ihren zweiten Mann | |
die Beziehung zu ihrer Tochter aufs Spiel zu setzen. | |
## Literarische Klarheit | |
„Vandals“ ist nicht das einzige Werk, in dem Munro eine Klarheit beweist, | |
die sie so im wirklichen Leben nie an den Tag legen konnte. „Labor Day | |
Dinner“ aus dem Jahr 1981 handelt von einer weiteren geschiedenen Frau, | |
Roberta, die mit einem neuen Lebensgefährten zusammenlebt. Roberta lädt zu | |
einem Feiertag ihre Töchter ein, die schockiert davon sind, wie sich ihre | |
Mutter in der Beziehung zu dem neuen Mann verändert hat. „Er möchte sie und | |
uns alle versklaven und sie vollführt einen ständigen Drahteilakt, um ihn | |
nicht zu erzürnen.“ | |
In der Geschichte „Dulse“ besucht die weibliche Hauptfigur eine | |
Therapeutin, um ihre Beziehung zu einem Mann namens Duncan zu diskutieren. | |
Sie weiß, wie groß die Kompromisse sind, die sie eingeht, um mit diesem | |
Mann zusammenzuleben und gesteht zugleich, dass sie nur glücklich sein | |
kann, wenn sie ihn zufriedenstellt. | |
Man kann diese Geschichten, wie jedes Kunstwerk, als unabhängige Stücke | |
Literatur lesen. Jahrzehntelang wurden sie auch so behandelt, solange Alice | |
Munro in der Öffentlichkeit den Schein eines intakten Privatlebens | |
aufrechterhielt. Nach den Enthüllungen ihrer Tochter ist es freilich schwer | |
geworden, sie vom Leben losgelöst zu sehen. | |
Munro wollte diese Trennung unter allen Umständen aufrechterhalten. Als im | |
Jahr 2005 der Literaturwissenschaftler Robert Thacker eine Biografie über | |
sie schrieb, baten alle drei Töchter der Schriftstellerin ihn inständig, | |
den Missbrauch durch den Mann, mit dem Munro noch immer zusammenlebte, doch | |
bitte mit aufzunehmen. Als er sich mit dem Kommentar weigerte, das sei | |
„nicht die Art von Buch“, das er schreiben wolle, reagierte Andrea Skinner | |
mit einer zornigen Mail, in der sie Unverständnis dafür zeigte, wie er | |
„einen solchen zentralen Aspekt von Munros Leben aussparen“ könne. Munro | |
selbst sagte dazu: „Das wäre dann das Einzige, worüber die Leute reden. Ich | |
habe lange dafür gearbeitet, die zu sein, die ich bin.“ | |
## Kanadische Neigung zur Verdrängung | |
So drang der Missbrauch erst 19 Jahre später ins Bewusstsein der breiten | |
Öffentlichkeit. Dabei war die Information für jeden, der es wissen wollte, | |
bereits seit 2004 zugänglich. Nachdem sie wieder einmal einen | |
Zeitschriftenartikel über das „charmante Paar“ Munro/Fremlin gelesen hatte, | |
ging Andrea Skinner mit den kommentierten Briefen Fremlins zur Polizei. Er | |
gestand den Missbrauch und wurde verurteilt. Andrea Skinner wollte nicht, | |
dass er ins Gefängnis geht, stattdessen zahlte er eine beträchtliche Summe | |
an eine Einrichtung, die Opfer sexuellen Missbrauchs betreut. | |
Doch wie der Munro-Biograf wollte niemand etwas davon wissen, nachdem sich | |
Andrea Skinner nach langer Therapie dazu entschlossen hatte, über ihren | |
Missbrauch zu sprechen. Erst nach Alice Munros Tod 2024 nahm sich der | |
Toronto Star des Themas an und übernahm einen Essay von Andrea Skinner, der | |
vorher auf der Website des Therapiezentrums Gatehouse erschienen war. | |
Der Journalist und Autor Stephen Marche führt das Schweigen auf eine | |
spezifisch kanadische Neigung zurück, Ärger zu vermeiden und Dinge | |
herunterzuspielen. Dazu gehört etwa die Epidemie des Massenmords an | |
indigenen Frauen, die bis vor Kurzem gesellschaftlich [3][kaum thematisiert | |
und skandalisiert] wurde. | |
Was Alice Munro betrifft, so beschleicht Marche der dringende Verdacht, | |
dass die selbstquälerische Unterdrückung des Unaussprechlichen nicht | |
zuletzt ein Quell für ihre Produktivität und ihre Brillanz war. Für ihn | |
sind Kunst und Leben in diesem Fall untrennbar. | |
Für Andrea Robin Skinner, die sich nie mit ihrer Mutter versöhnte, bleibt | |
zumindest ein kleiner Trost. In ihren letzten Lebensmonaten, schon von | |
schwerer Demenz gezeichnet, sagte Alice Munro, dass sie unter keinen | |
Umständen „neben diesem Pädophilen beerdigt“ werden wolle. Erst im Tod | |
konnte sie sich aus der toxischen Verschlingung mit ihrem Partner lösen. | |
Ihre schlimmste Befürchtung wurde dennoch nicht wahr. Die Menschen wenden | |
sich nicht von Alice Munros Werk ab. Es wird begierig neu gelesen. Wenn | |
auch nun mit einem deutlich veränderten Blick. | |
10 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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