# taz.de -- Zum Tod der Autorin Alice Munro: Das Schreiben hat sie sich erkämp… | |
> In ihren Kurzgeschichten leuchtete Alice Munro die Lücken in Beziehungen | |
> aus. Nun ist die Literaturnobelpreisträgerin im Alter von 92 Jahren | |
> gestorben. | |
Bild: Die Erfahrung des Mangels prägte viele ihrer Geschichten. Alice Munro (1… | |
„Sie redeten wie Karikaturen, es war unerträglich.“ Das ist ein Gedanke von | |
Meriel, einer jungen, nicht besonders glücklichen Ehefrau, die gerade zu | |
ahnen beginnt, dass sie sich heute auf einen Seitensprung einlassen wird. | |
Aber was sie dabei sagt, wie sie sich bewegt, nichts davon scheint ihr | |
angemessen. | |
Sich selbst zu beobachten und von sich enttäuscht zu sein, das sich real | |
entwickelnde Abenteuer mit Fantasien zu überblenden, an die die | |
Wirklichkeit nicht herankommt: In dieses Kopfkino der nervösen jungen Frau | |
steigen wir Leser unmittelbar ein in der Erzählung „Was in Erinnerung | |
bleibt“ von Alice Munro. | |
Sie braucht nicht viele Sätze, um das mögliche Unglück der jungen Ehefrau | |
anzudeuten, verheiratet mit Pierre, der gerade „lernen“ muss, „wie man vor | |
dem Chef katzbuckelt, wie man die Ehefrau gängelt“. Alice Munro bemüht | |
keine feministische Empörung, um den begrenzten Spielraum von Frauen zu | |
beschreiben, skizziert dessen Ränder aber mit wenigen ironischen Strichen. | |
Um dann die ganze Aufmerksamkeit dem Irrlichtern der Gedanken von Meriel zu | |
widmen. | |
Drei Bände mit Erzählungen von Alice Munro habe ich noch im Regal, andere | |
sind weitergewandert, verschenkt. Denn ihre Geschichten zu teilen, gehört | |
zum Vergnügen der Munro-Lektüre. Das hat sie nicht zuletzt zu einer | |
kommerziell erfolgreichen Autorin gemacht. | |
Viele werden jetzt womöglich, aus Anlass der Nachricht ihres Todes mit 92 | |
Jahren, noch einmal nach den Büchern der 2013 [1][mit dem | |
Literaturnobelpreis ausgezeichneten,] kanadischen Autorin greifen. Und | |
gleich wieder gefangen sein von der Genauigkeit der Beobachtung, dem | |
präzisen Ausleuchten der Lücken zwischen dem, was die Protagonistinnen von | |
sich erwarten und dem, was sie denken, was andere in ihnen sehen. | |
## Geschichte einer Demenzkranken | |
Nach der Verleihung des Nobelpreises sind zwar [2][noch einige Erzählbände] | |
auf Deutsch erschienen, aber schon damals hatte sie sich als Autorin | |
zurückgezogen. Sie litt an Demenz und lebte die letzten Jahre in einem | |
Pflegeheim. Zu einer ihrer bekanntesten Kurzgeschichten gehörte „Der Bär | |
kletterte über den Berg“, 2006 von Sarah Polley mit Julie Christie verfilmt | |
[3][(„An ihrer Seite“).] Es ist die Geschichte einer demenzkranken Frau, | |
die ihren Ehemann nicht mehr erkennt (meistens) und sich neu verliebt. | |
Beziehungen spielen in vielen Geschichten von Munro eine große Rolle, aber | |
ebenso, was man in der Erinnerung daraus macht. Denn das Drehbuch der | |
Erinnerung ist nicht festgelegt. In der Erzählung „Was in Erinnerung | |
bleibt“, bezieht Meriel aus der Erfahrung, begehrt worden zu sein, | |
jahrelang ein besseres Selbstvertrauen. | |
Lange glaubt sie, dass das Gedankenspiel, ein anderes Leben wäre möglich | |
gewesen, ihr das reale Leben erträglicher gemacht hat. Aber dann nimmt, was | |
dieses kostbare Geheimnis für sie bedeutet, eine Wendung. Sie erkennt darin | |
auf einmal eine „unbequeme Wahrheit über das eigene Ich“, „einen | |
haushälterischen Umgang mit Gefühlen“, der soziale Sicherheit über die | |
große Leidenschaft stellte, mit nicht einmal kleinem Gewinn. | |
Alice Munro wurde 1931 in Ontario geboren, die kanadische Provinz und | |
Landschaften, die sich den Bemühungen der Menschen manchmal durch | |
gleichgültige Grausamkeit widersetzen, prägen viele Erzählungen. Ebenso die | |
Erfahrung des Mangels. | |
## Die Forderungen des Alltags | |
Ihre Eltern waren mit einer Silberfuchsfarm gescheitert, von der | |
Verbitterung des Vaters erzählte sie in dem autobiografischen Band „Wozu | |
wollen Sie das wissen – Elf Geschichten aus meiner Familie“. Dort beschrieb | |
sie auch, wie sie schon bei Sommerjobs als Schülerin zu spüren bekam, mit | |
welchen fein geschliffenen Mitteln soziale Hierarchien hergestellt und | |
verfestigt werden, aber noch keine Sprache dafür besaß. Später davon | |
erzählen zu können, ist auch ein Zeichen von lang erarbeiteter | |
Souveränität. | |
Munro vermittelte von sich das Bild einer Autorin, die sich das Schreiben | |
erkämpfen musste, abknapsen von den Forderungen, die vier Kinder und Alltag | |
mit Ehemann an sie stellten. Gedanken, die beim Kartoffelschälen kamen, | |
schnell im Wohnzimmer aufschreiben. Sie erzählte in Interviews von der | |
Schreibmaschine, die zwischen Waschmaschine und Trockner stand. | |
Die Hartnäckigkeit, mit der sie trotz schwieriger Umstände am Schreiben | |
festhielt, findet sich in den Erzählungen selbst oft beiläufig eingestreut. | |
Lesen und darüber reden hilft ihren Figuren über Krisen hinweg. Ihre | |
Liebeserklärungen an das Erzählen haben andere Autor:innen bewegt, wie | |
Margaret Atwood oder Jonathan Franzen. | |
Munros Ton war nie heroisch, Opfer und Täter keine Kategorien in ihrem | |
Blick auf die Welt. Das Unterlaufen des Dramatischen, die Zurückhaltung | |
lassen sie auch als Meisterin des Understatements sehen. | |
15 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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