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# taz.de -- Neuer Ton bei US-Autorinnen: Frauen, die Klartext sprechen
> Mary Miller und Amy Hempel schreiben mit ungewohnter Härte: über den
> Erfahrungshunger einer Teenagerin und den Witz einer Sterbenden.
Bild: Freche Mädchen kommen zu Wort. Endlich.
Martin Brinkmann, eine der großen Spürnasen hierzulande für diverse
literarische Untergründe, hat in der aktuellen, einmal mehr großartigen
Ausgabe [1][seiner Zeitschrift] Krachkultur ein kleines Dossier
zusammengestellt, das eine „neue Härte in der weiblichen US-Literatur“
dokumentieren soll. Brinkmann bemerkt einen „aufregend frischen Ton“, der
nicht zuletzt der „radikalen Schonungslosigkeit“ geschuldet sei, mit der
die Autorinnen ihren ganz unheldischen Heroinen durch den
Katastrophenalltag folgen. Und er hat nicht zu viel versprochen.
Die präsentierten Texte besitzen eine Wirklichkeitswucht, die immer wieder
vergessen macht, dass es sich hier bloß um Literatur handelt. Zwei
Strategien, die diese Suggestion erzeugen, fallen sofort ins Auge. Zum
einen spielen hier stets Protagonistinnen die Hauptrolle, meistens sind sie
sogar die Erzählerinnen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der jeweiligen
Autorin besitzen (könnten). Man kokettiert ziemlich offensichtlich mit
autobiografischen Anteilen.
Zum anderen sprechen alle Texte eine betont profane, die Dinge bei ihrem
alltäglichen Namen – durchaus auch den konkreten Produktnamen – nennende
Sprache, die auf avancierte Metaphorik ebenso verzichtet wie auf poetische
Höflichkeiten. Klartext also. Das war es dann aber auch schon mit den
Gemeinsamkeiten.
Amy Hempel, Jahrgang 1951, ist am längsten im Geschäft, unterrichtet
mittlerweile in Harvard, publiziert seit Mitte der 80er Jahre und längst in
den großen Magazinen und Verlagen. Undergound ist sie nur noch in
Deutschland. Offenbar haben ihre spröden, nicht linear durcherzählten,
aphoristisch springenden und elliptischen Erzählcollagen die größeren
Publikumsverlage bisher abgeschreckt. Jetzt hat immerhin der Indie Luxbooks
erstmals eine kleine Auswahl ins Deutsche übersetzt.
In der poetologischen Titelgeschichte „Die Ernte“, die einen
Krankenhausaufenthalt und einen kurzzeitigen Sprachverlust infolge eines
Autounfalls skizziert, erklärt Hempel augenzwinkernd ihre Methode. „Ich
lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage. Gleiches gilt, wenn ich eine
Geschichte schreibe“, heißt es da genau in der Mitte dieser Geschichte.
Und dann erzählt sie alles noch einmal von vorn, ergänzt jetzt, was sie
zuvor weggelassen hat, um die Story plausibler wirken zu lassen. Und
erläutert auch gleich, warum. So entsteht eine neue Geschichte, bei der man
wieder nicht sicher sein kann, ob sie sie nicht etwas modifiziert hat – um
der „Wahrheit“ willen.
## Kalkulierte Unordnung
Diese mit den klassischen Short-Story-Konventionen experimentierenden
beziehungsweise sie gleich ganz über den Haufen werfenden Prosastücke
erinnern bisweilen an die formalen Grenzüberschreitungen von Lydia Davis,
nur sind sie weitaus komischer. In ihrem Text „Und führe uns nicht in Penn
Station“ illuminiert sie diese Ecke Manhattans, indem sie einfach Witze und
kuriose Anekdoten wie auf einer Perlenschnur aufreiht.
„Als heute ein Blinder in die Bank kam, reichten wir ihn an die Spitze der
Schlange durch, wo er ein Schinkensandwich bestellte. Eine schöne vertraute
Frau wird aus einem Nachtclub eskortiert. Ein Südstaatenmädchen auf Besuch
sagt: ’Tschuldigung, Ma’am, aber sind sie nicht ne Freundin von meiner Mama
von daheim in Sumner?‘ ’Ich bin Elizabeth Taylor‘, sagt die Frau, ’und …
dich.‘“ Es formt sich kein geschlossenes Bild und einen Sinn in all dem
sucht man vergeblich.
Offenbar weil es keinen gibt, nur das „zermürbende“ Durcheinander. Die
unordentliche Struktur des Stücks entspricht also poetologischem Kalkül.
Das erzählende Ich der Geschichte lebt schließlich auch hier, ist also
genauso „von Bedeutung und Vollendung abgeschnitten“.
Hempels berühmteste, oft nachgedruckte Erzählung steht dann jedoch in der
Krachkultur: „Auf demselben Friedhof wie Al Jolson“ ist eine grandiose
Meditation über das Krebssiechtum der „besten Freundin“ im Krankenhaus,
deren sardonischer Witz den elegischen Effekt noch verstärkt. Sie möge ihr
etwas vom Souvenirshop mitbringen, bittet die Todkranke. „Alles – außer
einem Zeitschriftenabo.“
## Blaue Flecken
Eine Entdeckung sind auch die auszugsweise publizierten „Bluets“ von Maggie
Nelson. 1973 geboren, als Literaturdozentin in Los Angeles beschäftigt und
mit diversen Preisen bedacht, ist sie in den USA ebenfalls längst mehr als
ein Insidertipp. „Bluets“ nennt sie ihre ordentlich durchnummerierten, aber
dafür inhaltlich umso wilderen Variationen über die Farbe Blau.
In diversen Textgattungen, Glossen, Tagebuchaufzeichnungen, Mini-Essays,
Traumnotaten etc., spürt sie den blauen Flecken in Privat- und
Kulturgeschichte nach und schafft damit einen dieser poetischen
Hybridtexte, zwischen Erzählung, Essay und Prosalyrik changierend, für die
der Herausgeber nicht zu Unrecht Roland Barthes als Referenz ins Feld
führt. Allerdings ist Nelson eine rotzfreche Riotgirrrl-Ausgabe von ihm.
Man würde gern das ganze Buch lesen.
Bei Mary Miller, die mit „Cedars of Lebanon“ vertreten ist – einer eher
konventionell, aber mitreißend erzählten Short Story über ein
leidgeprüftes, emotional verwahrlostes White-Trash-Mädchen, das aus reiner
Indolenz und Lethargie mit einem ungeliebten Dopedealer liiert ist –, sieht
die Publikationslage etwas besser aus.
Ihr mehrfach aufgelegter Erzählungsband „Big World“, dem die Geschichte
entstammt, liegt noch nicht übersetzt vor, dafür aber ihr erster Roman. Und
zwar noch vor dem Erscheinen im Original. In „Süßer König Jesus“ erzählt
Miller eine gleichermaßen anrührende wie absurde Coming-of-Age-Geschichte.
Das Ende der Welt naht. Jedenfalls glauben das ein paar religiöse
Fundamentalisten.
## Taco Bell und Waffle House
Zu ihnen gehören die Eltern der 15-jährigen Jess. Sie ist mit ihrer Familie
unterwegs von Alabama nach Kalifornien, um dort der „Entrückung“ ins
Himmelreich teilhaftig zu werden. Ihre ältere, viel zu hübsche, ziemlich
unkeusche Schwester Elise glaubt das alles nicht mehr. Und langsam kommen
auch Jess echte Zweifel. Dennoch nimmt sie vorsichtshalber mit, was ihr die
Reise so bietet, es könnte schließlich das letzte Mal sein. Das geliebte
Fast Food von Taco Bell, Waffle House, Burger King und den anderen. Die
kleinen Alltagsabenteuer am Rande der Straße. Zum ersten Mal auch – Jungs.
Miller nutzt geschickt den gesteigerten Erfahrungshunger, die staunende
Unerfahrenheit und die dadurch geschärfte Wahrnehmung ihrer Protagonistin,
um ein ziemlich entlarvendes Porträt der zeitgenössischen USA zu zeichnen.
Die Wirklichkeit wird immer mehr verdeckt und zugestellt von der
allgegenwärtigen Reklame, Unterhaltungstrash und religiöser Indoktrination.
Aber Jess will das richtige Leben, wenn schon alles zu Ende geht. Und
findet schließlich zu einer für ihr Alter ziemlich weisen, fast schon
zenbuddhistischen Spiritualität. „Vielleicht war das ja der Sinn – das
Leben war vorübergehend, flüchtig. Nichts machte Sinn – außer der Moment.�…
Mary Miller kreuzt hier zwei Grundlagentexte juveniler
Selbstvergewisserung: Kerouacs „On the Road“ und Salingers „Fänger im
Roggen“. Sie verbindet Holden Caulfields pubertäre Verunsicherung und seine
Skepsis gegenüber der Erwachsenenwelt mit der situativen Feier des
Profanen, wie es Kerouac und die Beats postulieren. Und sie schildert das
alles aus der Perspektive und im ziemlich authentisch klingenden Sound
eines Teenagermädchens. So hat man das schlicht noch nicht gelesen.
16 Dec 2013
## LINKS
[1] http://www.krachkultur.de/
## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Literatur
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Schwangerschaft
Alice Munro
Schriftsteller
Berlin Alexanderplatz
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