| # taz.de -- Liao Yiwu gegen Mo Yan: Ein Ruf wird beschädigt | |
| > Der Konflikt zwischen dem Dissidenten Liao Yiwu und dem Nobelpreisträger | |
| > Mo Yan ist hochpolitisch. „Die Zeit“ schlägt sich auf die falsche Seite. | |
| Bild: Liao Yiwu im Januar in Hamburg. | |
| Aliquid semper haeret, etwas bleibt immer hängen. Als Mo Yan im letzten | |
| Herbst den Literaturnobelpreis erhielt, gab der bekannte Sinologe Wolfgang | |
| Kubin ein Interview, in dem er Zweifel an den chinesischen Kritikern Mo | |
| Yans äußerte. | |
| Besonders der damals gerade selbst mit dem Friedenspreis des Deutschen | |
| Buchhandels geehrte Liao Yiwu, der den Finger in die politischen Wunden des | |
| staatstragenden Schriftstellers gelegt hatte, war ihm ein Dorn im Auge. | |
| Kubin äußerte den Verdacht, Liao erfinde die Unterdrückung in China, die er | |
| angeblich aufdecke: „Bei Liao Yiwu müsste man eigentlich genau nachprüfen. | |
| Mir sagen Freunde von ihm, die ihn im Gefängnis besucht hatten, dass die | |
| Haftbedingungen keineswegs so hart waren wie beschrieben, dass viel von | |
| dem, was er hier nicht mehr publizieren konnte, gar keine Dokumentation | |
| sei, sondern Fiktion. Der Fall lohnte einer genauen Untersuchung.“ | |
| Mit „hier“ meinte Chinaexperte Kubin China, wo er sich immer wieder zu | |
| Gastprofessuren aufhält, ein Land, das er seit den frühen siebziger Jahren | |
| – also noch aus der Zeit der Kulturrevolution – kennt. Die Ergebnisse | |
| dieser Nachprüfung konnte man in der [1][Zeit vom 14. März 2013 nachlesen]. | |
| ## Vom Hörensagen | |
| Angela Köckritz, die Autorin, die den Verdächtigungen Kubins nachgegangen | |
| ist, kommt zu einem Freispruch mangels Beweisen; doch etwas bleibt eben | |
| immer hängen, wenn man vom „bösem Gerücht“ spricht, das man zu einer | |
| „heiklen Frage“ stilisiert hat. Bei seiner Verdächtigung berief sich Kubin | |
| auf ein ominöses hearsay, das Angela Köckritz mit dem untauglichen Mittel | |
| der Nachfrage bei möglichen Informanten zu überprüfen versucht. Bei ihrer | |
| Recherche bleibt sie, wie zu erwarten, in ebendiesem Hörensagen stecken. | |
| Unmerklich ist aber die politische Kritik an der Nobelpreisverleihung auf | |
| die Ebene der Glaubwürdigkeit des Kritikers verschoben worden, dessen | |
| eigene literarische Produktion in Zweifel gezogen wird. Wolfgang Kubin gibt | |
| sich ganz als Literaturexperte, wenn er die Nobilitierung von Mo Yans | |
| massengeschmackfähigen Romanen gegenüber elitärer Literatur, die auch noch | |
| erlebnisabhängig sein soll, hervorhebt. Dem am traditionellen Realismus | |
| orientierten Mo Yan wird von Kubin ein höherer Wahrheitsgehalt zugebilligt | |
| als dem Oeuvre Liao Yiwus, das in seiner Besonderheit zu erfassen auch das | |
| deutsche Feuilleton seine Schwierigkeiten hat. | |
| Die Nobelpreiskomitees machen Politik. Das ist kein Geheimnis. Wenn es um | |
| China geht, bekommen die Gesichter in Regierungs- und Wirtschaftskreisen | |
| Norwegens und Schwedens Sorgenfalten. Besonders nach der Verleihung des | |
| Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo 2010 gab es Verärgerung in der | |
| Kommunistischen Partei Chinas, die zu diplomatischen Spannungen führte. | |
| Umso glücklicher äußerte sich die schwedische Handelsministerin nach der | |
| Ehrung für den romanschreibenden Kulturfunktionär Mo Yan. Da stört Kritik | |
| am Preisträger. | |
| ## Das Propagandagesamtkunstwerk | |
| Man könnte Liao Yiwus Kritik an Mo Yan als neidmotiviert abtun. Es geht | |
| aber nicht um künstlerische Zickigkeiten aus Eifersucht, auch nicht um | |
| kleinkarierte chinesische Streitigkeiten. Der Nobelpreis 2012 ehrt nicht | |
| einen chinesischen Autor, sondern ein chinesisches | |
| Propagandagesamtkunstwerk. Mit Mo Yan wird ein Loyalist geehrt, der im | |
| Notfall auf der Seite der Regierung steht. | |
| Die KP übt selbst gerne Kritik an der chinesischen Gesellschaft. | |
| Antikorruptionskampagnen, die nicht selten mit der Todesstrafe enden, | |
| gehören zur Regierungskunst. Mo Yans kritische Impulse gegen | |
| Lokalkorruption werden ermuntert, da sie nicht das Gesamtsystem in Frage | |
| stellen. Das hat aber Liao Yiwu getan, als er in seiner Dankesrede zum | |
| Friedenspreis 2012 den chinesischen Großmachtanspruch als Quelle des | |
| autoritären Übels benannte. | |
| Realpolitiker im Westen halten nichts von der Nationalitätenfrage; aber | |
| chinesische Machthaber sehen in ihr eine Existenzbedrohung, weil sie den | |
| Untergang der KPdSU, ihrer einst verhassten Konkurrentin, vor Augen haben. | |
| Selbstbewusste Tibeter und Uiguren zum Beispiel werden von den chinesischen | |
| Kommunisten als Todfeinde angesehen und als Terroristen diffamiert. | |
| Der politische Mensch Liao Yiwu passt den chinesischen Kommunisten nicht. | |
| Für die Partei ist es kein Wunder, dass er mit Liu Xiaobo, dem | |
| intellektuellen Dissidenten Nummer 1, befreundet ist. Gefährdungen dieser | |
| Art sind bei Mo Yan nicht zu befürchten. Wolfgang Kubin weiß das; denn er | |
| war schon 1987 Mo Yans Gastgeber in der Bundesrepublik, als noch niemand | |
| ahnte, dass Mo Yan zum Vorsitzenden des Schriftstellerverbands aufsteigen | |
| würde. Wie hier nur wenige zur Kenntnis nehmen, bedeutet das die Übernahme | |
| eines Staatsamtes; das heißt, der Träger muss alle Maßnahmen des Staates | |
| mittragen. | |
| ## Keine Zweifel an der Bedrohung | |
| Liao Yiwu ist seit 1990 in bösester Weise verfolgt worden. Wenn er die | |
| Glaubwürdigkeit von Mo infrage stellt, ist das kein kleinlicher Streit | |
| unter futterneidischen chinesischen Autoren, die sich mit einer Riposte von | |
| Chinaexperte Wolfgang Kubin relativieren lässt. Die Nobelpreisverleihung an | |
| Mo war ein schlimmer Affront für alle Chinesen, die nach dem | |
| Tian’anmen-Massaker um ihr Leben und ihre physische Integrität fürchten | |
| mussten. An dieser Bedrohung kann es keinen Zweifel geben. | |
| Wenn Wolfgang Kubin das Erlittene dummdreist infrage stellt, so kann dies | |
| nichts anderes als Empörung bei denen hervorrufen, die mit der chinesischen | |
| Unterdrückungspraxis Erfahrung haben. | |
| Die Existenz eines Archipel Gulag chinesischer Art kann niemand leugnen, | |
| der irgendwann einmal mit China in den letzten vierzig Jahren in Berührung | |
| gekommen ist. Diese halb verborgene Welt hat Liao Yiwu auf überzeugende Art | |
| sichtbar gemacht; deswegen wurden seine Schriften verboten, und er musste | |
| das Land verlassen. | |
| Mit der Nachfrage nach Liao Yiwus Lebensgeschichte hat Wolfgang Kubin nicht | |
| nur den Zeitzeugen Liao, sondern auch den Künstler diffamiert. Man verkennt | |
| Liaos Kunst, wenn man sie als autobiografischen Lebensbericht abtut. Nach | |
| dem vierjährigen Gefängnisaufenthalt zog er arbeits- und stellungslos durch | |
| Sichuan, lebte von Kneipenmusik und führte unendlich viele Gespräche mit | |
| einfachen Leuten, die nicht in den Lebenswelten der neuen Mittelschicht | |
| leben. Liao entwickelte eine Gesprächs- und Darstellungstechnik, die | |
| jenseits der Reportageliteratur eines Studs Terkel angelegt ist, ihr aber | |
| an Intensität nicht nachsteht. | |
| ## Poetische Qualität | |
| Auf diese Weise entsteht eine Untergrundsoziologie des nachrevolutionären | |
| China, die poetische Qualitäten aufweist. Diese Kunst, wie sie in Liao | |
| Yiwus „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ nachlesbar ist, hat nur | |
| mittelbar etwas mit Liaos Gefängnisaufenthalt zu tun; aber unmittelbar mit | |
| seiner Fähigkeit, in der verwirrenden Welt des modernen China | |
| Erfahrungswelten zu restituieren, die nicht nur Touristen, sondern auch den | |
| meisten Chinesen unbekannt sind. | |
| Die chinesische Propaganda, die einen chinesischen Traum von Stärke und | |
| Wohlstand in die Welt posaunt, baut auf eine gesellschaftliche Amnesie, die | |
| Terror und Unterdrückung in eine Vergangenheit verlegt, von der keiner mehr | |
| hören will. | |
| Kubin hat in einem viel umfassenderen Sinne recht, als er denkt, wenn er | |
| Angela Köckritz gegenüber behauptet: „Es ist vielleicht das China Liao | |
| Yiwus, furchtbar, er tut mir leid. Ich will gar nicht in Abrede stellen, | |
| dass seine Schilderungen im Kern zutreffen. Doch es ist nicht mein China | |
| und auch nicht das meiner Studenten.“ Selten ist selektive Wahrnehmung so | |
| selbstbewusst mit der Wahrheit verwechselt worden. | |
| 27 Mar 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.zeit.de/2013/12/Liao-Yiwu-China-Folter | |
| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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