# taz.de -- Rede des Friedenspreisträgers : Das Wertesystem des Drecks | |
> Auszüge der Rede des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu anlässlich | |
> der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in | |
> Frankfurt. | |
Bild: Liao Yiwu: „Ich weiß nicht, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis i… | |
Menschen morden. Das war die Methode, um das Fundament des neuen Staates zu | |
legen. Darüber herrschte eine stillschweigende Übereinkunft von Mao | |
Tse-tung bis Deng Xiaoping. Während der großen Hungersnot zwischen 1959 und | |
1962 verhungerten im ganzen Land beinahe 40 Millionen Menschen. | |
Kaum begann Mao Tse-tung deshalb um seine Macht zu fürchten, blies er zum | |
Kampf gegen reale und irreale Feinde und verpasste dem Volk eine | |
Gehirnwäsche; während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 wurden 20 | |
bis 40 Millionen Menschen zu Tode gefoltert; Mao hatte abermals um seinen | |
Thron gefürchtet, also hieß es, noch stärker zum Angriff gegen die Feinde | |
zu blasen und dem Volk noch mehr das Gehirn zu waschen. (…). | |
Im Juni 1989 sah die Kommunistische Partei ihre Macht erneut in Gefahr und | |
setzte gut 200.000 Soldaten ein, um die Stadt Peking zu massakrieren. (…) | |
Auch ich setze die Tradition des Erinnerns fort. | |
Ich will auf Chinesisch, auf Englisch oder Deutsch meine Aufzeichnungen | |
über die Opfer des Massakers mit der Menschheit teilen; und auch meine | |
Überlegungen bezüglich des Auseinanderbrechens des chinesischen Reichs. Ich | |
weiß nicht, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis ich in das Land meiner | |
geliebten Urväter zurückkehren kann. (…) | |
## Reformen nicht zwangsläufig | |
Weltweit ist man der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung Chinas werde | |
zwangsläufig politische Reformen nach sich ziehen und aus einer Diktatur | |
eine Demokratie machen. Deshalb wollen jetzt all die Staaten, die dereinst | |
wegen des Tiananmen-Massakers (vom 4. Juni 1989) Sanktionen gegen China | |
verhängten, die ersten sein, die den Henkern die Hand schütteln und mit | |
ihnen Geschäfte machen. | |
Obwohl dieselben Henker noch immer Menschen inhaftieren und umbringen, | |
immer neue Blutflecken zu den alten hinzukommen und neue Gräueltaten die | |
alten armselig aussehen lassen. Die einfachen Leute, die zwischen Blut und | |
Grausamkeit ihr Dasein fristen müssen, verlieren dabei auch noch den | |
letzten Rest Anstand. | |
Elend und Schamlosigkeit bedingen sich wechselseitig. Sie bestimmen unsere | |
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach dem Tiananmen-Massaker setzte | |
sich die blutige Unterdrückung fort, gegen die Angehörigen der Opfer des | |
Massakers, gegen Qigong-Gruppen, Falun Gong, die Demokratische Liga Chinas, | |
Beschwerdeführer, enteignete Bauern, Arbeitslose, Anwälte, | |
Untergrundkirchen, Dissidenten, die Opfer des Erdbebens von Sichuan, die | |
Unterzeichner der Charta 08, die Anhänger der Jasminrevolution, Tibeter, | |
Uiguren und Mongolen – die Fälle häufen sich, und die Tyrannei geht auf | |
hohem Niveau weiter. (…) | |
Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den | |
Henkern gemeinsame Sache, häufen Dreck an. Der Einfluss dieses Wertesystems | |
des Drecks, das den Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand. (…) | |
## Der schamlose Westen | |
Immer mehr Chinesen werden feststellen, dass es auch im demokratischen | |
Westen weder Gerechtigkeit noch Gleichheit gibt und auch dort habgierige | |
Funktionäre und andere Profitgeier sich schamlos nach dem Muster „Dem | |
Sieger gehört die Beute“ verhalten. | |
Und so werden sie bald alle diesem Beispiel folgen, und in einer nicht | |
allzu fernen Zukunft wird es an allen Ecken der Welt voll von chinesischen | |
Betrügern sein, die um jeden Preis ihre Heimat verlassen wollen. (…) | |
Das Wertesystem des chinesischen Imperiums ist längst in sich kollabiert | |
und wird nur noch vom Profitdenken zusammengehalten. Gleichwohl ist diese | |
üble Fessel des Profits so weitreichend und verschlungen, dass sich die | |
freie Welt der wirtschaftlichen Globalisierung noch ausweglos in ihr | |
verheddern wird. (…) | |
Im Altertum waren Tibet, Xinjiang, die Mongolei oder Taiwan für China | |
Ausland. Als in der Tang-Dynastie Prinzessin Wencheng nach Tubo, dem | |
damaligen Tibet, verheiratet wurde, war das eine ebensolche Sensation wie | |
die Hochzeit einer jungen Frau aus Schanghai in der Republikzeit mit einem | |
Amerikaner. | |
Warum müssen sich Tibeter heutzutage immer wieder öffentlich verbrennen? | |
Könnte Tibet einfach ein freies Land sein, das Grenzen mit Sichuan und | |
Yunan teilt, und nicht von einer fernen Diktatur in Peking unterdrückt | |
wird, dann würde niemand aus diesem lebensfrohen Volk des Hochplateaus je | |
einen Grund haben, sich ein solches Leid anzutun. (…) | |
Dieses Großreich muss auseinanderbrechen, für den Frieden und die | |
Seelenruhe der ganzen Menschheit – und für die Mütter vom Tiananmen, für | |
die ich das folgende Lied geschrieben habe. (Quelle: dpa) | |
14 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Liao Yiwu | |
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