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# taz.de -- Letzter Roman von David Foster Wallace: Dem wahren Herrscher unterw…
> Gesetze und Formulare, Daten und Zahlen, Feinheiten und Sonderfälle: In
> seinem letzten Roman widmete sich David Foster Wallace dem Steuerrecht.
Bild: David Foster Wallace ist nah am Grashalmrealismus dran.
David Foster Wallace ist eine Figur in David Foster Wallace’ bei seinem
Selbstmord unvollendet hinterlassenem Roman „Der bleiche König“. Einerseits
eine Figur unter vielen, Steuerprüfer im Rechnungsprüfungszentrum (RPZ)
Peoria, Illinois. Es ist, mehr oder weniger, das Jahr 1985, und der
Figurenzoo, den Wallace auf 600 Seiten versammelt, ist mit dem RPZ auf die
eine oder andere Weise verbunden.
Andererseits: „Autor hier“, meldet sich Wallace in § 9, überschrieben mit
„Vorwort des Autors“, erstmals zu Wort und versichert: „Also der reale
Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative
Instanz.“ Der abgebrühte Leser denkt „Metafiktion“, gähnt oder schnalzt…
der Zunge und lächelt, wenn die Figur Autor Wallace dann noch versichert:
„Dies alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr.“
Wirklich und wahr sind in der Literatur denkbar dehnbare Begriffe. Und
Wallace dehnt sie, weiß Gott, der ganze Roman ist eine einzige Dehnungs-
und Verknotungsübung, wenn auch in vielen für Figuren wie Leser teils sehr
unbequemen bis unmöglichen Positionen: Wahrheitstantra.
Natürlich hat Wallace ausführliche Studien betrieben auf dem denkbar
trockenen Gebiet, das er sich zum Sujet erkoren hat, dem Gebiet des
Steuerrechts also. Man wird als Leser mit Gesetzen und Formularen, Daten
und Zahlen, technischen Feinheiten und möglichen und unmöglichen
Sonderfällen traktiert. Nicht nebenbei, sondern immerzu, nicht nur im
berüchtigten Wallace’schen Fußnotenapparat, sondern auch reichlich im
Haupttext.
Wer diesen Roman studiert hat, sollte eigentlich ein Zertifikat als
Steuerberater (US-Recht, ca. 1985) erhalten, so sehr treibt Wallace sein
Wahrheits- und Wirklichkeitsbegehren en detail nicht spielerisch, sondern
exzessiv ad absurdum. (Nur in Klammern: Ulrich Blumenbach hat das alles wie
schon beim großen Vorgängerroman „Unendlicher Spaß“ kongenial ins Deutsc…
gebracht.) Ja, es steckt so viel Wirklichkeit drin in „Der bleiche König“,
dass man vor Bäumen, nein Ästen, nein Zweiglein, nein Blättern, nein
Blattadern den Wald nicht mehr sieht: Wirklichkeitsobsession.
## Welt und Wahrheit
In einem weiteren Autorkapitel erklärt Wallace im Übrigen, als wäre es ein
Stück Selbsterkenntnis: „Eine hundertprozentig präzise und umfassende Liste
der genauen Größe und Form jedes einzelnen Grashalms des Rasens vor meinem
Haus ist ’wahr‘, nur interessiert sich niemand für diese Wahrheit.“
Das ist richtig, nur leider ist das, was dieser Autor in seinen Romanen
veranstaltet, von diesem Grashalmrealismus oft nicht weit entfernt.
Trotzdem spricht Wallace, die Autorfigur, da ein Sehnsuchtswort aus, das
man dem Autor, dem wirklich echten, wohl tatsächlich zurechnen kann. Dem
stecken die Verrenkungen der Postmoderne noch in den Knochen. Der Autor als
Figur im Roman ist da ein sehr vertrauter Spielzug. Freude an diesem Spiel
hat Wallace aber nicht. Eigentlich schreibt er sich da rein, weil er
rauswill. Und weil ins Buch eben eigentlich Wahrheit und Welt sollen.
Wallace wäre verzweifelt gern ein Romanautor im realistischen Register,
weiß aber nicht, wie man aus den labyrinthischen Spielen der Postmoderne da
wieder hinkommt. Sein Kollege, Konkurrent und Freund Jonathan Franzen hat
es sich sehr viel einfacher gemacht und aus derselben
Postmoderneverzweiflung heraus eine Frankenstein-Version vergangener
Realismen erfunden: Seitdem erzählt er mit großem Erfolg die Welt von heute
in Romanen von gestern.
Darin ist keine Rede von den narrativen Instanzen, darin macht der Autor
nicht den leisesten Mucks, kriecht nur so stumm wie allwissend in seine
Figuren hinein. Das 19. Jahrhundert feiert fröhliche Urständ, der Autor
agiert als abwesender, aber souveräner Verteiler von angehäuftem und zu
Gegenwartstypen verdichtetem Wirklichkeitsmaterial. Umso ungenierter
stilisiert sich dafür der reale Franzen dann zum Großliteraten.
## Er wollte immer postmodern sein
So reaktionär war Wallace nicht und wäre es hoffentlich auch niemals
geworden. Er wollte zeitlebens zugleich postmodern und postpostmodern sein.
Ästhetisch ist das eine Schizophrenie, weil alles immer sowohl Spiel mit
der Wirklichkeit als auch auf einer höheren Ebene doch ernst, wirklich und
wahr sein soll. Darum werden endlose Massen an Realienschutt in den Romanen
verbaut. Was wiederum nicht heißt, dass es keine erzählerische
Fantasietätigkeit gäbe. Fantastische Einsprengsel gehören sogar zum
Markenzeichen dieses Erzählens.
In „Der bleiche König“ gibt es etwa eine Figur, deren Hirn in einer Art
Zeit und Raum überwindender Welttelepathie von den abgelegensten und
verborgensten Fakten und Daten zu Menschen und Dingen überschwemmt wird.
Dieses Fantasieren hat aber mit Freiheit und Lust an der Fabulation rein
gar nichts zu tun. Vielmehr ist die Fantasietätigkeit dieses Erzählers ein
einziges Wuchern auf absehbaren Bahnen.
Das Buch hat außerdem Komik, und es hat Pointen, aber auch sie werden mit
Fleiß zu Tode geritten. Ein Kapitel dreht sich um einen Jungen, der das
Ziel hat, jeden Teil seines Körpers mit den Lippen zu berühren. Ein Ding
der Unmöglichkeit, klar. Aber das kann Wallace nicht hindern, die einzelnen
Etappen der Selbstküsserei eine nach der andern zu schildern. Ausgerenkte
Glieder, eine Physiotherapeutin – das wird folgerichtig dazufantasiert; im
Grunde auch eine Allegorie von Wallace’ verknoteten Erzählintentionen.
So geht das immer, oder jedenfalls meistens: Am Anfang eines Kapitels eine
mehr oder minder absurde Idee. Und die wird dann durchgeführt, bis ans
bittere Ende. Die Fantasie schlägt also keine Haken, bleibt unter
Kontrolle, ist kein Zeichen von Freiheit, sondern der konsequente Ausdruck
eines erzählerischen Zwangsverhaltens.
## Methodisches Abschweifen
Was passt, denn erzählt wird fast ausschließlich von Zwangscharakteren:
etwa von einem Mann mit einer Schweißausbruchobsession; von einem, der in
einem langen Kneipengespräch die Psychiatriegeschichten einer höchst
attraktiven Frau emotional komplett unbeteiligt anhört; einem, der in
katatonische Zustände des Am-Starren-Seins verfällt. Und das längste
Kapitel, das beinahe ein autobiografischer Kurzroman im Roman ist, erzählt
ein Mann namens Chris Fogle, dem Wallace sehr zu Recht den Beinamen „Der
Abschweifungskönig“ verpasst. Wobei auch das Abschweifen wieder etwas sehr
– und sehr enervierend – Methodisches hat.
Von diesen Zwangscharakteren treten manche nur einmal kurz auf, andere
bekommen viel Raum, einen richtigen Protagonisten jedoch gibt es nicht. In
Peoria sind sie alle, im Namen des Herrn, nämlich des bleichen Königs, der
Steuerbehörde, versammelt.
Andererseits: So richtig zusammen kommen sie auch wieder nicht. Das Buch
ist Fragment, es besteht aus mehr oder minder lose nebeneinanderstehenden
Kapiteln sehr unterschiedlicher Länge, Machart und Vollendungszustände.
Keiner weiß (und sicher wusste auch Wallace selbst nicht), was daraus am
Ende geworden wäre. Ein einfach zu konsumierender Roman sicher nicht: aufs
Exerzitium, die Fron der Langeweile, das Durcharbeiten ausführlich
beschriebener Details will Wallace immer hinaus.
Eigentlich kann man über den Aggregatzustand des Unvollendeten darum ganz
froh sein. Das manchmal Skizzenhafte, über die Andeutung, den An- und den
Abriss nicht Hinausgelangende steht dem Buch nämlich nicht schlecht.
Wallace ist als Autor ja auch ein Zwangscharakter, ein fanatisch feilender
Perfektionist und Wortlistenfetischist, der alle Fünfe niemals gerade sein
lassen kann.
## Krankheit des Geistes
Gefeiert und zum Star wurde Wallace wohl eben darum: weil er einer ist, der
das Leben und die Literatur und die Aporien der Postmoderne schwernimmt. Er
beschreibt ohne Ende und ohne Pardon unreife und zwanghafte Menschen, die
in postpubertärem Handeln und Denken feststecken. Das entwickelt seine
exerzitienhafte Eigendynamik, ist aber ganz und gar nicht als Selbstzweck
gemeint. Wallace begreift sein Schreiben vielmehr als Mimesis an eine
Gegenwart, die selbst durch und durch krank, endlos süchtig nach dem
„unendlichen Spaß“ ist, den das Hauptwerk im Titel führt.
Mit politischer oder ökonomischer Analyse und Kritik der Gesellschaft hat
das freilich wenig zu tun. Die Krankheit, die unsere Gegenwart ist, ist für
ihn eine Krankheit des Geistes. Erlösung ist darum nur denkbar auf dem Wege
des Spirituellen, da ist Wallace uramerikanisch, ein später Erbe des
Transzendentalismus von Emerson und Thoreau.
Das bleibt allerdings fast unausgesprochen, eingepuppt in eine Ästhetik,
die die Negation ins Extrem treibt. Was Wallace vorführt, sind zutiefst
beschädigte Leben. Er bohrt sich in die hintersten Winkel verlorener
Existenzen. Er stellt die Beschädigungen in grelles Licht. In den Titeln
aber nennt er die wahren Herrscher, denen er sich in seinen Texten ganz und
gar unterwirft, in der Hoffnung, sie so zu bannen: Mehr als tausend Seiten
hat er dem unendlichen Spaß abgerungen. Hier ist er zu keinem Ende
gekommen. Der bleiche König hat diesmal gesiegt.
10 Nov 2013
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
David Foster Wallace
David Foster Wallace
Jonathan Franzen
Roman
USA
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