| # taz.de -- Forscher über Maschinengewehre: „Der Feind ist ein anderer“ | |
| > Das erste MG im Deutschen Reich wurde zur Chiffre für etwas Serielles, | |
| > das nichts Besonderes hat. Lenin sah darin ein Modell für die | |
| > Planwirtschaft. | |
| Bild: Museumsstück: Das Maschinengewehr 08. | |
| taz: Herr Berz, was ist ein 08/15? | |
| Peter Berz: Ein deutsches Maschinengewehr. Strich 15 bezeichnet das Modell | |
| von 1915. Die deutschen MGs waren zu schwer für die Westfront. Deshalb | |
| wurde diese etwas leichtere Version gebaut. Erfunden hat das G 08 ein | |
| US-Amerikaner, Hiram Maxim. | |
| Stimmt es, dass das 08-MG in 15 Sekunden einen dicken Baum fällen konnte? | |
| Maxim war ein sehr vermarktungsbewusster, typisch US-amerikanischer | |
| Ingenieur. Bei Werbevorführungen hat er mit dem MG einen Baum fällen | |
| lassen. Allerdings hatte er damit nicht immer Erfolg. Der chinesische | |
| Botschafter sagt nach der Demonstration: „This gun fires all together too | |
| fast for China.“ Um Österreich-Ungarn für sein Produkt zu erwärmen, hat | |
| Maxim mit dem MG in ein sargartiges Gebilde die Initialen von Kaiser | |
| Franz-Joseph geschossen. Er hatte Sinn fürs Theatralische. | |
| War Maxim auf die Erfindung von Waffen spezialisiert? | |
| Nein, seine Karriere begann er als Glühbirnenerfinder und war dabei der | |
| härteste Konkurrent von Thomas Alva Edison. Die Glühbirne war das erste | |
| standardisierte Objekt der zweiten industriellen Revolution. Edison hat mit | |
| Tricks dafür gesorgt, dass Maxim in den USA sein Glühbirnenpatent nicht | |
| weiterentwickeln durfte. | |
| So wie Mark Zuckerberg seine Konkurrenten aus Facebook herausgedrängt hat? | |
| So ähnlich. Nachdem Edison ihn mit einem Knebelvertrag kaltgestellt hatte, | |
| musste Maxim in Europa elektrische Patente studieren. Das wiederum fand er | |
| so langweilig, dass er aus Wut das Maschinengewehr G 08 erfand, das | |
| zunächst Maxim-Gun hieß. | |
| Wirklich? | |
| Das ist etwas verkürzt, aber nicht falsch. Maxim hat vor allem von Edison | |
| gelernt, wie man nicht nur eine einzelne Maschine erfindet, sondern einen | |
| technischen Standard setzt. Er hat alle denkbaren Typen von MGs erfunden | |
| und sich alle global patentieren lassen. Deshalb konnte über Jahrzehnte | |
| niemand ein MG auf den Markt bringen, das kein Maxim war. Er nannte sein | |
| Modell stolz „The Standard for the World“. | |
| 08/15 ist die einzige Typenbezeichnung von 1915, die man heute noch kennt. | |
| Warum? | |
| Wohl wegen des Romantitels von Hans Hellmut Kirst von 1954. Aber zur | |
| Metapher wurde 08/15 vorher. Es war das erste einheitliche Maschinengewehr | |
| im Deutschen Reich und wurde zur Chiffre für etwas Serielles, das nichts | |
| Besonderes hat. Eine Art Ausweitung der Alltagssprache in den | |
| Stellungsgräben. | |
| Was ist technisch gesehen das MG 08/15? | |
| Es besteht aus austauschbaren Modulen. | |
| Anders als ein Colt, der damals ein Unikat war … | |
| Ja. Die Preußen setzten 1866 bei der Schlacht von Königgrätz das | |
| Zündnadelgewehr ein. Das war ein modulares System von fünf ineinander | |
| verschachtelten Zylindern. Man kann es mit ein paar Handgriffen | |
| auseinanderbauen, putzen und kaputte Teile ersetzen. Und es hat den | |
| taktischen Vorzug, dass es ein Hinterlader ist. Der preußische Infanterist | |
| musste nicht mehr aufstehen, um nachzuladen. Er konnte liegen bleiben und | |
| war daher ein viel schwierigeres Ziel. Seitdem lernen Soldaten robben. | |
| Wie entwickelte sich dieses modulare Denken weiter? | |
| Es breitete sich Ende des 19. Jahrhunderts ziemlich rasant aus. Es ist ein | |
| Prozess von Normierungen und Standardisierungen. Theoretisch hat das der | |
| Charlottenburger Maschinenbauprofessor Franz Reulaux ab den 1870er Jahren | |
| vorbereitet. Er war Mitglied des kaiserlich deutschen Patentamts und | |
| definierte nicht nur den Begriff der Maschine, sondern auch Bewegungstypen | |
| und Baugruppen. Die Maschine beschreibt er als System, in dem jede Bewegung | |
| determiniert ist und Energie gesetzmäßig kanalisiert wird. | |
| Kann man in dieser neuen Art Maschine Militärisches und Ziviles trennen? | |
| Nein. Seit der Französischen Revolution ist die militärische Produktion, | |
| konkret die Entwicklung des Gewehrschlosses, technisch der Schrittmacher. | |
| Das modulare Gewehrschloss ist also eine Art Blaupause für die | |
| tayloristische Fabrik? | |
| Ja, sicher. Die Nähmaschine ist das erste zivile, das Gewehrschloss das | |
| militärische Produkt. Es gibt auch Fabriken, die beides herstellen. Danach | |
| folgen komplexere Dinge: Werkzeugmaschinen und das Maschinengewehrschloss. | |
| Das Treibende ist die militärische Produktion. | |
| Das Maxim Gun wird um 1900 benutzt, um antikoloniale Aufstände | |
| niederzuschlagen. Es ist der Beweis der technischen Überlegenheit des | |
| imperialen Zentrums über die Peripherie. | |
| Spätestens seit der Schlacht von Omduram 1898, wo die Briten im Sudan mit | |
| dem Maxim Tausende Derwische töteten, und zwar fast ohne eigene Verluste. | |
| Der Feind ist beim Maschinengewehr ein anderer. Es gibt nicht mehr wie beim | |
| Gewehr die Relation zwischen dem Schützen und dem einzelnen Ziel. Der Feind | |
| ist Masse und Rasse. Das haben auch die Deutschen praktiziert, die in | |
| Afrika 1904 zusammengetriebene Herero mit MGs töteten. | |
| Das ist die Vorgeschichte des Maschinengewehrs. Was ist das Besondere des | |
| 08/15, das im Weltkrieg zum Einsatz kommt? | |
| 08/15 ist ein Kristallisationskern in dem System industrieller Produktion | |
| und Austauschbarkeit. 1917 stellen 100 verschiedene Firmen in Deutschland | |
| Einzelteile für 08/15 her. Das sind zivile Firmen für Schreib- und | |
| Nähmaschinen, Fahrrad- und Schraubenfabriken. Zusammengesetzt werden sie in | |
| Berlin. Das ist ein extrem arbeitsteiliger Produktionsprozess, der eine | |
| exakte Normierung und ausgefeilte Konstruktionstechnik voraussetzt. | |
| Wesentlich ist die Präzision. | |
| Inwiefern? | |
| 1916 sammelt das deutsche Militär alle Gewehre, die in Gebrauch sind, und | |
| vermisst sie haarklein neu. Danach werden die Konstruktionszeichnungen für | |
| das 08/15 verbessert. | |
| Also ist die Messtechnik entscheidend? | |
| Es wurde dann eine neue Messtechnik entwickelt: das Handwerkliche, das | |
| Erfahrungswissen in den Werkstätten und die daran hängende Fiktion | |
| absoluter Genauigkeit muss aus der Produktion verschwinden. Das neue, aus | |
| Amerika importierte Messsystem heißt Grenzlehre. Das ist ein Verfahren, das | |
| nicht mehr einen absolut genauen Wert liefert, der sowieso immer Fiktion | |
| ist, sondern exakte Toleranzen. Dabei kommt der Normenausschuss der | |
| deutschen Industrie ins Spiel, aus dem später die DIN-Norm hervorgeht. Die | |
| DIN-Norm ist verkoppelt mit der deutschen Waffenproduktion – im Besonderen | |
| ist sie ein Effekt der Messkampagne des Waffen- und | |
| Munitionsbeschaffungsamtes (WuMBA) im preußischen Kriegsministerium und der | |
| Herstellung des 08/15. Das ist keine Metapher, das ist der historische | |
| Ablauf. | |
| 08/15 ist also Ergebnis des Zusammenwirkens von Kriegsministerium, | |
| Fabriken, Wissenschaft, also eines militärisch-industriellen Komplexes? | |
| Ja. General Ludendorff forderte 1916 die Verdreifachung der | |
| 08/15-Produktion. Und das funktioniert, weil die deutsche Kriegswirtschaft | |
| hochorganisiert und zentral geplant ist. Lenin hielt diese präzise und | |
| arbeitsteilige Produktion für das ideale Modell sozialistischer | |
| Planwirtschaft. | |
| Also der Staat als ein Art Maschine? | |
| Ja, dieses Motiv gibt es schon bei Franz Reulaux. Er denkt auch den Staat | |
| wie eine Maschine, ein System, das ungelenkte Energie kanalisiert. Es gibt | |
| diese Korrespondenzen von technischem Ordnungssystem und | |
| Staatsvorstellungen. | |
| Spiegelt sich die arbeitsteilige Produktion auch in der Anwendung des 08/15 | |
| auf dem Schlachtfeld? | |
| Um die austauschbare Maschine 08/15 zu bedienen, ist ein fünfköpfiges | |
| Kommando nötig, das natürlich auch arbeitsteilig vorgeht. Es gibt den | |
| Führer, Träger, Schützen und Maschinenwart. Ihre Austauschbarkeit hat Bert | |
| Brecht in dem Stück „Mann ist Mann“ bearbeitet. Da gibt es diese | |
| Verknüpfung: Die normierten Teile der Maschine sind ebenso austauschbar wie | |
| die Menschen und ihre Charaktere. | |
| Der Patronengurt, der durch die Maschine rattert, assoziiert also das | |
| Fließband in der Fabrikhalle? | |
| Da gibt es eine Verkreuzung des Seriellen. Die Maschine ist seriell | |
| hergestellt und sie verarbeitet Serien in 330 rpm, rounds per minute. | |
| Was hatten die deutschen Soldaten an der Westfront für ein Verhältnis zum | |
| 08/15? | |
| Ein deutscher MG-Kompanieführer beschreibt im Rückblick das Desaster des | |
| Krieges dort, den Schlamm, die ausgemergelten Körper. Und dann als | |
| Kontrapunkt: „Aber das Gewehr hat ein blinkendes Schloss, ein blitzsauberes | |
| Visier!!“ Das ist die Schönheit der perfekten Funktion. Ernst Jünger | |
| spricht von dem „unwiderlegbaren Maschinengewehr“. | |
| Was wiegt für das Militär schwerer: der Verlust eines 08/15 oder der Tod | |
| eines MG-Kommandos? | |
| Der der Maschine. Im deutschen Heer muss exakt und in aller Ausführlichkeit | |
| Bericht erstattet werden, wenn ein 08/15 verloren ging. Bei Soldaten reicht | |
| ein Häkchen oder Kreuzchen. Ein interessantes Detail ist auch das Verhalten | |
| des Kommandos bei Wassermangel. Das MG brauchte ja sehr viel Wasser. Ohne | |
| Kühlung fing der Lauf bei 330 rounds per minute schnell an zu glühen. Auch | |
| wenn die Soldaten verdursteten, ging das Wasser in das 08/15. Das war per | |
| Befehl geregelt. | |
| 28 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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