# taz.de -- Debatte Türkei: Abschied von den Vätern | |
> Der Boom am Bosporus ist auf Schulden gebaut. Erdogans Spielraum | |
> schwindet zügig – und seine Verbündeten schwächeln. | |
Bild: Papa Erdogan verpasst seine Chance, die Olympischen Spiele nach Istanbul … | |
Nach dem Militärputsch in Ägypten gehörte es zu den ersten Maßnahmen der | |
neuen Machthaber, die Ausstrahlung der heiß geliebten türkische Soap Operas | |
im Staatsfernsehen auszusetzen – und zwar auf unbestimmte Zeit. Man mag das | |
merkwürdig oder irrelevant finden, wären die TV-Serien nicht die stärkste | |
kulturelle Waffe, über die Ankara verfügt, um Einfluss auf die Länder | |
auszuüben, die zum Einflussbereich des untergegangenen Osmanischen Reichs | |
gehörten. | |
Soaps wie „Verbotene Liebe“ („Ask-i Memnu“) hatten in der arabischen | |
Version einen enormen Erfolg, vor allem seit sie ab 2007 in syrischem | |
Dialekt und nicht mehr im klassischen Arabisch synchronisiert wurden: Das | |
Finale von „Silber“ („Gumus“) sahen 85 Millionen Zuschauer in der | |
arabischen Welt! | |
TV- Serien gehören seit zwanzig Jahren zu den effizientesten Instrumenten | |
der neo-osmanischen Strategie der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung | |
(AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan (vgl. den | |
[1][ersten Teil dieses Beitrags]). | |
Die Strategie geht zurück auf den derzeitigen Außenminister Ahmet Davutoglu | |
– und nicht zufällig ist eine der erfolgreichsten Serien die über den | |
Sultan Süleyman den Prächtigen (1496–1566). Die vierte Staffel von „Das | |
prächtige Jahrhundert“ („Muhtesem Yuzyil“) wurde in 47 Länder verkauft … | |
brachte 130 Millionen Dollar ein. | |
## Die osmanische Familie | |
Die neo-osmanische Strategie ist aber kein reiner Spleen von Erdogan oder | |
Davutoglu: Auf die Tagesordnung kam sie nach der Implosion der UdSSR. Mit | |
dem Ende des Kalten Kriegs löste sich eine Weltordnung auf, wie sie 1918 | |
entstanden war, als am Ende des Ersten Weltkriegs die multiethnischen und | |
vielsprachigen Imperien (Österreich-Ungarn, zaristisches Russland, | |
Osmanisches Reich) zusammenbrachen und durch Staaten ersetzt wurden, die | |
sich als höchst fragil erwiesen und nicht mal ein Jahrhundert überstanden | |
(Jugoslawien, Tschechoslowakei, Irak, Syrien). | |
Solange es den Eisernen Vorhang gab, lag Istanbul an einer | |
politisch-geografischen Endhaltestelle. Doch nach 1989 konnte Ankara alte | |
Verbindungen mit den zentralasiatischen Rebubliken (Aserbaidschan, | |
Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan) und mit dem Balkan, insbesondere | |
Bosnien und Mazedonien, neu knüpfen. Im jahr 2011 sagte Davutoglu in | |
Sarajevo: „Wir waren hier, wir sind hier, und wir werden immer hier sein! | |
[…] Bosnien ist unser Zuhause, und die Bosniaken sind Teil unserer | |
Familie.“ Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist Istanbul wieder an die | |
Schnittstelle von Ost und West, Nord und Süd, Europa und Asien gerückt, die | |
es 2.000 Jahre eingenommen hatte. | |
Bis Mai 2013 schien den Neo-Osmanen alles in die Hände zu spielen: Im | |
Inland wuchs die Wirtschaft (wenn auch weniger forsch, als die Regierung | |
glauben machen wollte), die Infrastruktur wurde kontinuierlich ausgebaut, | |
und vielen (nicht allzu vielen jedoch) gelang der Aufstieg in die | |
Mittelklasse. All das trug zur Konsolidierung des AKP-Regimes bei, wie auch | |
die Tatsache, dass jahrelang viele Linke und Liberale für Erdogan als | |
Gegner der Militärdiktatur gestimmt hatten. Im internationalen Kontext | |
waren im Zuge des Arabischen Frühlings in Ägypten und in Tunesien | |
Schwesterparteien der AKP an die Macht gekommen, finanziell und ideologisch | |
großzügig unterstützt vom Emir von Katar und seinem Sender al-Dschasira. | |
Eine religiös-finanziell-mediale Achse war entstanden. | |
## Schreckensjahr 2013 | |
Doch der Mai machte alles neu, und 2013 scheint für Erdogan zum | |
Schreckensjahr zu werden. Der Widerstand gegen eines der Projekte zur | |
Neuschreibung der Geschichte Istanbuls, ganz bewusst auf einem zentralen | |
Platz der kemalistischen Revolution geplant, wuchs sich zur nationalen | |
Protestbewegung aus. Die neo-osmanische Strategie zeigte erste Risse. | |
Dann machte auch die Ökonomie Sorgen: Ein Land, in dem die | |
Schattenwirtschaft 40 Prozent ausmacht, das sich aber immer neue, bizarre | |
Großprojekte leisten möchte und noch dazu einen positiven Haushalt | |
vorweisen will, braucht zwangsläufig eine „kreative“ Buchführung, auf | |
Englisch: „Cook the books“. Das Defizit muss in Staatsbetriebe oder private | |
Banken ausgelagert werden – auch hier, wie im ersten Teil dieser Analyse | |
ausgeführt, erinnert der türkische Boom sehr an den spanischen der 1990er | |
Jahre (und natürlich: bei der Immobilienblase). Im Juli musste die | |
Türkische Zentralbank dann die Zinsen anheben und somit das Wachstum | |
bremsen, um die nationale Währung Lira zu stützen. | |
## Die Gläubiger entscheiden | |
Das Problem ist, dass der türkische Boom durch ein systematisches Defizit | |
in der Leistungsbilanz erkauft wurde. Nach Angaben der Weltbank muss Ankara | |
Verpflichtungen in Höhe von 311 Milliarden Dollar bedienen. Die Zukunft des | |
Landes hängt also in einem existenziellen Ausmaß am Wohlwollen seiner | |
Kreditgeber. Bis vor Kurzem sah man in den Finanzinstitutionen | |
Saudi-Arabiens und der USA mit großer Sympathie auf die Türkei und den | |
AKP-Mix aus Neoliberalismus und Koran. Nun aber hat sich die internationale | |
Lage geändert. | |
In Katar hat der Sohn den Vater als Emir abgelöst. In Ägypten hat das | |
Militär wieder die Macht ergriffen. Sofort nach dem Putsch in Kairo haben | |
Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait dem neuen | |
Regime 12 Milliarden Dollar geschenkt – viel mehr, als die Türkei und Katar | |
dem gestürzten Premier Mursi in zwei Jahren überwiesen haben. Der neue Emir | |
von Katar machte gute Miene zum bösen Spiel, Erdogan sieht sich auf einmal | |
völlig isoliert, nicht nur was Ägypten anbelangt; auch die Beziehungen zu | |
Saudi-Arabien liegen auf Eis, von den USA, dem wichtigeren Partner, gar | |
nicht zu reden. | |
Die neo-osmanische Vision erweist sich zunehmend als utopisch. Und auch die | |
größte Sehnsucht Erdogans rückt in immer weitere Ferne: dass nämlich er | |
anstelle des Nationalhelden Mustafa Kemal zum Vater der Türken (Atatürk) | |
werden könnte. In den Worten des bekannten Soziologen und Ökonomen Caglar | |
Keyder: „Väter haben die Türken nun wirklich genug gehabt.“ | |
Aus dem Italienischen: Ambros Waibel | |
10 Sep 2013 | |
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[1] /Debatte-Tuerkei/!122398/ | |
## AUTOREN | |
Marco D'Eramo | |
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