| # taz.de -- Debatte Türkei: Bröckelnder Boom | |
| > Um den Taksimplatz ist es ruhig geworden. Das neo-osmanische Projekt des | |
| > Erdogan-Regimes droht dennoch zu scheitern – an der Ökonomie. | |
| Bild: Brücke zwischen Asien und Europa. Neulich noch voller Demonstranten. | |
| Wenn man zum Taksimplatz kommt und dort die melancholisch-vertrockneten | |
| Bäumchen sieht, dann fragt man sich schon: „Wie bitte? Ein ganzes Land hat | |
| revoltiert – und alles für ein Stückchen Grün?“ | |
| So recht scheint noch niemandem diese doch höchst bemerkenswerte Anomalie | |
| des „Türkischen Frühlings“ aufgefallen zu sein: Zum ersten Mal in der | |
| Geschichte war es die Immobilienspekulation, die eine Nation in den | |
| Ausnahmezustand versetzte. Die Demonstranten, die am 28. Mai den Gezipark | |
| besetzten, protestierten gegen einen Akt der Stadtplanung – die von der | |
| Regierung gnadenlos forcierte Umgestaltung eines zentralen Platzes. | |
| Der Bausektor war und ist das Zugpferd des türkischen Wachstums – einer der | |
| zahlreichen Aspekte, weswegen dieses Wirtschaftswunder der 2000er Jahre an | |
| den spanischen Boom der 1990er erinnert. Nicht nur Istanbul, die ganze | |
| Türkei macht den Eindruck einer riesigen Baustelle, die Ägäisküste ist | |
| inzwischen ein Mahnmal aus Zement. | |
| ## Mit Allah und Milton Friedman | |
| Dass die Referenzgruppe der regierenden Partei für Gerechtigkeit und | |
| Entwicklung (AKP) von Premier Recep Tayyip Erdogan die neue „anatolische | |
| Bourgeoisie“ ist, darf inzwischen als bekannt gelten. Tatsächlich handelt | |
| es sich bei dieser Bourgeoisie (im Gegensatz zur alteingesessenen in | |
| Istanbul) um eine Schicht von zunächst kleinen, heute auch großen | |
| Bauunternehmern, die sich um Gesetze und Steuern wenig kümmern. Sie sind | |
| aus dem Hochland gekommen, um beim entfesselten Boom dabei zu sein. | |
| Diese anatolische Bourgeoisie handelt nach den Glaubenssätzen der AKP, den | |
| religiös-islamischen wie den wirtschaftsliberalen im Gefolge der Chicago | |
| Boys um Milton Friedman. Sie stehen für einen konsumistischen Islamismus, | |
| einen Mix aus Koran und Shopping Malls, aus Allah und Neoliberalismus, | |
| dessen Wahlspruch sein könnte: „Betet und kauft“. Istanbul ist so zur Stadt | |
| mit der größten Anzahl von Malls weltweit geworden (mehr als hundert | |
| eröffnet und weitere zwanzig im Bau), mit oftmals gigantischen Dimensionen. | |
| Und eben dort, wo die traurigen Bäume vom Gezipark stehen, soll eine | |
| weitere Mall mit angeschlossener Moschee entstehen, beziehungsweise: eine | |
| Moschee mit angeschlossener Mall. | |
| Für das AKP-Regime ist Istanbul der Dreh-und Angelpunkt. Die enorme | |
| Entwicklung der Stadt spiegelt die der ganzen Türkei: 1946 hatte Istanbul | |
| weniger als 1 Million Einwohner, noch 1972 waren es weniger als 3 | |
| Millionen. Heute ist Istanbul mit 15 Millionen Einwohnern die größte | |
| Metropole Europas. | |
| ## Schaufenster Istanbul | |
| Bürgermeister dieses Molochs war von 1994 bis 1998 eben jener Erdogan – | |
| seine Kritiker sagen, er habe nie aufgehört, es zu sein. Er lebt weiterhin | |
| in Istanbul, in die Regierungszentrale nach Ankara begibt er sich nur | |
| selten. Seine majestätischen Büros finden sich denn auch im Sultanspalast | |
| von Dolmabahçe am Bosporus. Der in Istanbul lehrende französische Urbanist | |
| Jean-François Perouse schreibt, „dass die AKP große Projekte für Istanbul | |
| plant, auf dass es zum spektakulären Ausdruck der wiedergefundenen Macht | |
| und Vitalität des Türkentums werde, ein hell erleuchtetes Schaufenster, das | |
| reiche Touristen und Investoren anlockt, eine Vitrine für die glorreiche | |
| türkische Vergangenheit, vor allem für das osmanische Imperium als | |
| Fundament der gegenwärtigen Ambitionen“. | |
| Da ist es ausgesprochen, das Wort: „osmanisch“. 1923 war es das Projekt | |
| Mustafa Kemals, genannt Atatürk, einen laizistischen und am Westen | |
| orientierten türkischen Nationalismus zu konstruieren – weil der | |
| Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und die Niederlage im Ersten Weltkrieg | |
| die Unfähigkeit des Islams demonstriert hätten, mit der Moderne Schritt zu | |
| halten. An Stelle dieses laizistischen und anatolischen Nationalismus | |
| Atatürks (der die Hauptstadt nach Ankara verlegt hatte) vertritt Erdogan | |
| einen sunnitischen, Istanbul-fixierten und osmanischen Nationalismus. Eben | |
| deswegen heißt das politische Projekt der AKP „neo-osmanische Strategie“. | |
| Es geht darum, die Geschichte neu zu schreiben, und zwar unter dem | |
| Vorzeichen der Metropole Istanbul, die in ihrem ursprünglichen Glanz – den | |
| es so natürlich nie gegeben hat – erstrahlen soll. Dazu will die Regierung | |
| mehr als 200 „osmanische“ Gebäude wiederherstellen. Eines davon ist eben | |
| jene Kaserne aus dem Jahr 1806, die 1940 abgerissen wurde, um Platz für den | |
| Gezipark zu schaffen. Unter dem Park, in der U-Bahn-Station am Taksimplatz, | |
| ist ein Wandbild angebracht, das die Eroberung Konstantinopels 1453 durch | |
| Mehmet II. feiert. | |
| ## Planungen bis 2071 | |
| Istanbul als Finanzzentrale der gesamten ex-osmanischen Welt von | |
| Zentralasien bis an die Küsten Ostafrikas, das London des Islams, die | |
| Brücke zwischen Frankfurt und Dubai: Dazu braucht es all die geplanten | |
| pharaonischen Bauten, von der dritten Brücke über den Bosporus, den zwei | |
| Tunnels für Auto- und Bahnverkehr, dem neuen Kanal zwischen dem Marmara- | |
| und dem Schwarzen Meer, bis hin zum dritten Flughafen. | |
| Um einen Eindruck vom Ehrgeiz des Erdogan-Regimes zu bekommen, reichen die | |
| Zahlen für das Luftkreuz: Kosten von 22 Milliarden Euro, avisierte 150 | |
| Millionen Passagiere im Jahr, zusätzlich zu den 60 Millionen der beiden | |
| bestehenden Flughäfen, und damit das Doppelte der Kapazität der fünf New | |
| Yorker Flughäfen (Kennedy, Newark, La Guardia und zwei andere in | |
| Connecticut bringen es auf 113 Millionen Passagiere jährlich). Der | |
| zeitliche Horizont ist dabei sehr weit gespannt: 2071 soll es so weit sein, | |
| zum 1.000. Jahrestag des Eindringens der Turkvölker in Anatolien 1071. | |
| Deutlichen Gegenwind haben diese Megaplanungen Erdogans und seiner AKP | |
| durch die Protestierenden vom Gezipark im Mai und Juni erfahren; und in den | |
| vergangenen zwei Monaten ist den Hoffnungen auf eine neo-osmanische | |
| Restauration durch die ökonomische Entwicklung wie durch die politische im | |
| Nahen Osten ein wohl schon tödlicher Schlag versetzt worden, wie im zweiten | |
| Teil dieses Beitrags gezeigt werden soll. | |
| Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
| 1 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco D'Eramo | |
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