# taz.de -- Erdogans Stadtpläne: Neo-osmanische Kitschträume | |
> Die Ästhetik des Despoten: Warum Türkeis Premier Recep Tayyip Erdogan | |
> anstelle des Gezi-Parks eine alte Kaserne wiedererrichten möchte. Und | |
> dafür zu allem bereit ist. | |
Bild: Modellansicht für die Umgestaltung des Taksim-Platzes in Istanbul | |
Welche Symbolik verbirgt sich hinter den derzeitigen Ereignissen auf dem | |
Istanbuler Taksim-Platz? Betrachtet man die Pläne des Bauvorhabens, dessen | |
Durchführung der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seit zwei Wochen | |
unermüdlich von Neuem bestätigt, erinnert das allzu sehr an den | |
Kitsch-Begriff des US-amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg. | |
In seinem frühen Essay „Avant-Garde and Kitsch“ aus dem Jahr 1939, | |
verwendet Greenberg das deutsche Wort Kitsch, um eine Massenkultur zu | |
bezeichnen, die sich überholten Kunstgriffen und Zitaten einer gereiften | |
Kulturtradition bemächtigt, diese ihrem eigentlichen Kontext völlig | |
entledigt und sich zum ideologischen und wirtschaftlichen Nutzen von | |
totalitären Regimes hervorragend ausbeuten lässt. In ähnlicher Manier | |
möchte die türkische Regierung mit aller Gewalt auf dem Grundstück des | |
heutigen Gezi-Park eine osmanisch-historisierte Artilleriekaserne | |
wiederauferstehen lassen, die dort aus vielfältigen Gründen seit 1940 nicht | |
mehr steht. | |
„Kitsch hält den Diktator in näherem Kontakt zur ’Seele‘ seines Volkes�… | |
schrieb Greenberg damals, sich auf Hitlers und Stalins Verachtung der | |
Avantgarde beziehend. Eine Parallele zu Erdogan eröffnete sich schon vor | |
zwei Jahren. Nach einem Besuch im nordöstlichen Kars, wo gerade der | |
angesehene türkische Bildhauer Mehmet Aksoy im Auftrag der Stadt ein | |
Betonmonument als Gedenken an den Armenier-Genozid von 1915 fertigstellen | |
sollte, befahl der Präsident das unfertige Mahnmal sofort wieder | |
abzureißen. Erdogans Begründung: Die Skulptur sei „abscheulich“. | |
Heute lässt sich die türkische Nation nicht so einfach von Erdogans | |
neo-osmanischen Kitschträumen am Taksim einseifen, für die der Gezi-Park | |
Platz machen soll. Zumindest nicht mehr die gesamte. Die | |
Widerstandsbewegung, die sich in allen türkischen Großstädten für ihre | |
demokratischen Rechte und gegen eine islamisch-autoritäre Regierung | |
starkmacht, gründet in einer jahrelang angestauten Frustration. Doch | |
tatsächlich waren es „ein paar Bäume“, die das Fass zum Überlaufen | |
brachten. | |
## Widerstand gegen die Symbolpolitit | |
Die Protestvereinigung Taksim-Plattform gab vor einer Woche noch an, dass | |
man den Gezi-Park nicht verlassen werde, bis die Regierung garantiere, dass | |
nicht ein einziger Baum aus dem Park entfernt würde. Inzwischen wurde die | |
Bewegung gewaltsam aus dem Park geprügelt. Die Regierung wolle mit der | |
Bebauung des Parks zwar auf das Urteil eines zuständigen Gerichts warten, | |
doch erinnert man sich bei solchen Versprechungen an Istanbuls ältestes | |
Roma-Viertel Sulukule, dessen Abriss längst vollzogen war, als das Gericht | |
dies schließlich für unrechtmäßig erklärte | |
Der Widerstand richtet sich auch gegen Erdogans eindeutige Symbolpolitik. | |
„Die gestaltete Umwelt sollte kein Instrument zur Herrschaft über eine | |
Stadt werden und sich nicht von einer dominierenden Ideologie stilisieren | |
lassen“, sagt Zelal Zülfiye Rahmanali, Forschungsassistentin an der Maltepe | |
Architekturfakultät. Als die Topcu-Kaserne 1940 auf Empfehlung des | |
französischen Architekten Henri Prost, der bereits für die Modernisierung | |
verschiedener maghrebinischer Städte verantwortlich war, abgerissen wurde, | |
hatte sie Bedeutung und Glanz schon längst verloren – nach dem Aufstand | |
islamistischer Soldaten, die 1909 gegen die osmanische Verfassung und für | |
die Einführung der Scharia gekämpft hatten. | |
Dieser Aufstand, „das Ereignis vom 31. März“, ist eine der wenigen | |
historischen Daten, die an die Topcu-Kaserne erinnern, und konzentriert | |
zugleich die Ängste, die hinter den heutigen Protesten in der Türkei | |
stecken: der Zusammenbruch des neunzig Jahre alten Laizismus. | |
## Ein republikanischer Ort | |
Doch die öffentliche Rechtfertigung Erdogans für das Bauvorhaben am | |
Taksim-Platz beschränkte sich bisher lediglich auf dessen Beobachtung, der | |
Gezi-Park, eine der wenigen nennenswerten Grünflächen im Herzen der | |
14-Millionen-Stadt, werde seit vielen Jahren ohnehin nicht mehr genutzt. | |
Außerdem habe die Topcu-Kaserne ja vorher da gestanden. | |
Vorher will heißen: vor Gründung der demokratischen Republik im Jahr 1923. | |
Wie die Mehrzahl ihrer KollegInnen erkennt auch Aslihan Senel, Architektin | |
und Assistenzprofessorin an der renommierten Architekturfakultät der ITÜ | |
(Technische Universität Istanbul), vor allem eine ideologische Dimension in | |
den Bauplänen: „Der Gezi-Park wurde in der jungen Republik als ein Ort | |
erdacht, wo die Menschen das Dasein als freie Bürger erlernen sollten. | |
Vorher durften sich Männer und Frauen gar nicht an einem Ort gemeinsam | |
aufhalten. Hier sollte das öffentliche Miteinander von Männern, Frauen und | |
Kindern erprobt werden.“ | |
Entgegen den Beobachtungen des Präsidenten, meint Senel, dass der Gezi-Park | |
auch vor den Protesten ausreichend genutzt wurde. „Noch heute kann man hier | |
die Stadt neu entdecken und auf sehr unterschiedliche Menschen treffen. Die | |
eingeschränkte Nutzung des Parks ging erst mit den zunehmenden | |
Polizeikontrollen einher“, so Senel. | |
Die imposante Topcu-Kaserne wurde 1780 errichtet und nach mehreren Bränden | |
im 19. Jahrhundert bereits einmal wiederaufgebaut, im damals schon | |
historisierten, orientalistischen Stil. Im Zuge der Reformen in der | |
Osmanischen Armee achtete man auf ein eindrucksvolles Erscheinungsbild für | |
die mit dem Orient-Express anreisenden zahlreichen Diplomaten und | |
Unternehmer aus dem Westen. | |
Einen bedeutenden architektonischen Wert hatte das Bauwerk eigentlich | |
nicht, es verkörperte lediglich bestimmte Standards, die zu jener Zeit in | |
vielen osmanischen Städten umgesetzt worden waren. Es gibt zwei | |
Besonderheiten, die die Kaserne von Taksim auszeichneten: zum einen ihre | |
gigantischen Ausmaße, zum anderen die beim späteren Wiederaufbau | |
hinzugefügten Zwiebeltürme und spielzeugartigen Details am Haupteingang. | |
## Gewaltsame Leidenschaft | |
Doch dass sich die Regierung für den ästhetischen Wert des Baus überhaupt | |
interessiert, ist zu bezweifeln. Mittlerweile kann man in dem Projekt nur | |
noch ein Zeichen der Starrköpfigkeit erkennen. Dass Erdogan in erster Linie | |
darauf aus ist, jede erdenkliche Möglichkeit und Fläche zu nutzen, um die | |
Kapitalisierung des türkischen Staats, und allem voran des internationalen | |
Aushängeschilds Istanbul, weiter voranzutreiben, ist unumstritten. Doch ist | |
es schon sehr auffällig, mit welch gewaltsamer Leidenschaft der | |
Regierungschef trotz wochenlanger Proteste in allen Großstädten des Landes, | |
die auch weltweit für Aufsehen sorgen, seinen Plan verteidigt, die | |
Topcu-Kaserne zu rekonstruieren. | |
Anfangs war geplant, dass in der Rekonstruktion ein Einkaufszentrum | |
eingerichtet wird. Dann, mit Beginn der Proteste, erklärte Erdogan, es gebe | |
ja genug Einkaufszentren, doch fehle es Istanbul an Hotels und | |
Luxuswohnungen, die in der neuen Topcu-Kaserne endlich einen Platz finden | |
würden. | |
Kürzlich sprach der Oberbürgermeister Kadir Topbas davon, man überlege nun, | |
ein Stadtmuseum darin zu platzieren. Irgendwie scheint der Inhalt letztlich | |
egal, doch die symbolische Hülle lässt man sich nicht nehmen. Die | |
Artilleriekaserne würde in jedem Fall gebaut, so Topbas, das sei „der | |
Wunsch des Präsidenten“. | |
Aber sollte ein demokratischer Regierungschef denn das Recht haben, im | |
Alleingang über die Stadtplanung zu bestimmen? Onur Sönmez, | |
Forschungsassistent an der Architekturfakultät der ITÜ, sieht in Befehlen | |
wie diesem den Hauptgrund der anhaltenden Proteste: „Es gibt nicht | |
ausreichend Dokumente über die Topcu-Kaserne, als dass eine ernstzunehmende | |
Rekonstruktion überhaupt vorgenommen werden könnte. Ich glaube auch nicht, | |
dass die beauftragten Architekten aufgrund ihrer Fähigkeiten ausgewählt | |
wurden. Es gab nicht einmal eine Ausschreibung. Der Prozess ist überhaupt | |
nicht transparent und von oben herab diktiert, wie so manch anderes hier.“ | |
17 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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