# taz.de -- Allabendlich das gleiche Ritual: Sechs Hörner gegen das Vergessen | |
> Am 11. November jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs. Im belgischen | |
> Ypern gedenkt man der Gefallenen seit 90 Jahren jeden Abend. | |
Bild: Spielmannszug durch triste Landschaft | |
YPERN taz | Das erwartungsvolle Gemurmel ist verstummt. Stille umgibt die | |
mehr als tausend Besucher, breitet sich aus zwischen den steinernen Wänden | |
mit all den eingravierten Namen, fast 55.000 an der Zahl. Acht | |
Glockenschläge, dann richten sich alle Blicke auf die drei Männer in | |
dunkelblauen Uniformen, die nun die rechte Hand erheben und die goldenen | |
Hörner an ihre Lippen setzen. | |
Kraftvoll und getragen dringen die ersten Klänge in die frische Abendluft. | |
Sie nehmen Tempo auf, springen im Stakkato die Tonleiter hoch und runter, | |
von kleinen Pausen unterbrochen, um dann wieder anzusetzen. Hundert | |
Sekunden dauert es, bis der letzte verhallt ist. Hundert Sekunden, die | |
feierlich und verzweifelt sind, Anklage und Verneigung zugleich, vor all | |
den Soldaten des Commonwealth, die im Ersten Weltkrieg hier, auf den | |
Schlachtfeldern Flanderns, ihr Leben ließen. | |
Der Last Post wird in der britischen Armee traditionell zum Ende des Tages | |
geblasen. In der belgischen Stadt Ypern, die damals als einzige des Landes | |
der deutschen Besatzung standhielt, ertönt er seit 1929 jeden Abend um | |
Punkt acht Uhr – mit Ausnahme der erneuten deutschen Besatzung im Zweiten | |
Weltkrieg. | |
Weit mehr als 31.000 Mal hat die Polizei eine halbe Stunde zuvor die | |
Gedenkstätte Menenpoort, die einst ein Stadttor war, abgesperrt, dann | |
strömten die Besucher herbei, aus Stadt und Umland, von der anderen Seite | |
des Kanals, aus Neuseeland, Australien, Südafrika. Für den Klang der | |
Hörner. Für die Stille. | |
## Das Markenzeichen von Ypern | |
Das allabendliche Ritual ist längst ein Markenzeichen von Ypern geworden, | |
wo heute rund 35.000 Menschen wohnen. Lebendig gehalten wird es durch eine | |
Gruppe von 25 Ehrenamtlichen, die sich „The Last Post“ Association nennen. | |
Sechs davon sind die Bläser, seit jeher rekrutiert aus der Freiwilligen | |
Feuerwehr des Städtchens. Diese hatte als Einzige die nötigen Instrumente, | |
als in den späten 1920ern die ersten Briten aufs Festland kamen, um | |
gefallener Kameraden zu gedenken und für die Angehörigen zu trauern. | |
„Die Bewohner von Ypern wollten ihre Dankbarkeit zeigen“, erklärt Benoit | |
Mottrie, der Vorsitzende der Organisation, die sich aus Beiträgen von rund | |
1.000 Mitgliedern weltweit finanziert. Sein Urgroßvater, Aimé Gruwez, war | |
einer ihrer Gründer, ein Onkel hatte 40 Jahre lang den Vorsitz. Eine | |
Familientradition? „Ein aus dem Ruder gelaufenes Hobby“, wiegelt er | |
lächelnd ab. | |
Hinter dem Garten seines Hauses ragen die Türme der Stadt auf. Es dämmert. | |
In einer Stunde wird Benoit Mottrie hinunter zur Menenpoort eilen, so wie | |
er das zwei- oder dreimal pro Woche tut. Er wird die Besucher begrüßen und | |
um einen würdigen Rahmen ohne Applaus bitten. „Dies ist eine | |
Gendenkveranstaltung, keine Touristenattraktion“, betont er – wohl wissend, | |
wie sich das Ritual in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat: „Es gibt | |
um Ypern 200 Commonwealth- Friedhöfe. In den 1960ern kamen die | |
Battlefield-Tours auf. | |
Ab den 1980ern wurde es voller, auch durch den Papst-Besuch. Vor allem im | |
Anlauf zum hundertjährigen Jubiläum wurden es immer mehr Besucher. Oft sind | |
es tausend Leute oder mehr, aus allen Ecken der Welt.“ Alle fünf Jahre | |
findet sich auch das London Scottish Regiment in Ypern ein, | |
Infanteriereservisten aus der schottischen Diaspora in London. | |
Ab Herbst 1914 kämpften seine Freiwilligen auf alliierter Seite in | |
Frankreich und Belgien. 105 Jahre später ist Andrew Parsons, ein | |
50-jähriger Militärhistoriker und Kurator des Regimentmuseums in London, | |
wieder einmal für ein Wochenende nach Flandern gekommen. Sein kanadischer | |
Großonkel kämpfte in der britischen Armee. Wohl ein Dutzend Mal war er | |
hier, erst als Junge, dann als Experte, der Battlefield-Touristen | |
herumführt, und als „Corporal Piper“ mit seinem Dudelsack. | |
An einem diesigen Oktobersamstag steht Andrew Parsons auf dem | |
Soldatenfriedhof Tyne Cot, dem größten der Umgebung. Rund zehn Kilometer | |
sind es von hier bis Ypern. Nirgendwo sonst liegen mehr gefallene | |
Commonwealth-Soldaten. Auf vielen Grabsteinen steht nicht mehr als „A | |
Soldier of the Great War“. Wer all diese Inschriften sieht, die | |
Namenlosigkeit, die Unpersönlichkeit des massenhaften Soldatentodes, | |
versteht, welche Bedeutung das Last-Post-Ritual hier hat. Es ist das | |
radikale Gegenstück dazu: ein allabendlicher Versuch, die Gefallenen dem | |
Vergessen zu entreißen. | |
„Ich bin auch erstaunt, dass man das hier in genau diesem Format erhalten | |
hat“, sagt Parsons anerkennend, als er ein paar Stunden später auf den | |
Gedenktafeln der Menenpoort die Namen von 101 Regimentsmitgliedern zeigt, | |
die bei den Schlachten um Ypern starben. Zu vielen kann er eine Geschichte | |
erzählen: „Hier: Archibald Angus, ein Schüler von 17 Jahren. Oder mein | |
Großonkel, Richard Hayward Taylor: der einzige Sohn in einer Familie mit | |
acht Töchtern.“ | |
Den Namen ein Gesicht geben, nennt er das, und diese Erinnerung | |
weiterreichen an die junge Generation des Regiments. „Wir fühlen uns | |
privilegiert und stolz, dass wir hier sein können. Aber wir trinken auch | |
viel Bier auf so einer Reise.“ | |
Andrew Parsons empfiehlt sich in sein Hotel, das in einer Seitenstraße von | |
Yperns Erinnerungsmeile liegt, hinter den Andenkenläden voller Union Jacks | |
und Mohnblüten, die durch das Gedicht „In Flanders Fields“ zum friedlichen | |
Symbol der flämischen Schlachtfelder wurden. | |
Wie der Rest der 26-köpfigen Pipes-and-Drums-Band muss er sich umziehen für | |
den Höhepunkt der Reise, „The Last Post“. Allein dies ist schon ein Ritual, | |
das eine halbe Stunde in Beschlag nimmt. Unterdessen fällt spätes | |
Sonnenlicht auf Meenenport. Zwei Straßenmusiker mit Gitarren ziehen an den | |
Cafés vorbei, stimmen „Bad Moon Rising“ an und „Ring of Fire“. Ein paar | |
Momente lang erscheint Ypern als eine Stadt wie andere. | |
Als die Dunkelheit sich über die Szenerie legt, ist dieser Eindruck längst | |
verflogen. Hinter den Absperrbändern im ehemaligen Stadttor drängen sich | |
die Besucher. Von Kindern bis Greisen sind alle vertreten, dazwischen | |
Militärs und Veteranen mit Baretten. Wie hatte Benoit Mottrie gesagt? „Das | |
tägliche Leben kommt hier jeden Abend zum Erliegen.“ Er begrüßt Gäste aus | |
Neuseeland, bespricht Details mit einem Kollegen, den Ablauf, die | |
Reihenfolge, in der die Kränze niedergelegt werden. | |
## Das Zusammenspiel ist wichtig | |
Dann klingt aus der Ferne ein Dudelsack. Andrew Parsons und seine Band | |
haben sich in Bewegung gesetzt, gemeinsam mit dem Rest des Regiments. Als | |
sie in dem hohen, halboffenen Gebäude anhalten, verdichtet sich die | |
Druckluft aus aufgeblasenen Backen mit den dumpfen Trommelschlägen zu einer | |
wahren Wall of Sound, während die mechanischen Snare Drums das Tempo | |
vorantreiben. Es klingt, als wollten sie das Dach der Gedenkstätte zum | |
Abheben bringen. Als sie urplötzlich verstummen, stürzt der letzte | |
Trommelschlag das Ganze in eine Schlucht aus Lautlosigkeit, aus der endlich | |
„The Last Post“ aufsteigt. | |
Als alles vorbei ist, muss Raf Decombel für Erinnerungsfotos posieren. Er | |
ist einer der drei Hornbläser, die in dieser Woche Dienst tun. Die drei | |
anderen sind in der nächsten Woche dran. So geht das, Monat für Monat, Jahr | |
für Jahr, sagt Raf Decombel, der Ende 50 ist und in der Stadt ein | |
Architekturbüro betreibt. | |
Als er nach dem Studium nach Ypern zog, trat er der Freiwilligen Feuerwehr | |
bei. Und als vor etwa 20 Jahren ein Platz bei den Last- Post-Bläsern frei | |
wurde, begann er, der nie ein Instrument gespielt hatte, mit dem Üben. Nach | |
einem Jahr hatte Raf Decombel das Horn im Griff und konnte „The Last Post“ | |
auswendig. | |
„Dies ist kein einfaches Instrument“, erklärt er, während die Besucher si… | |
in alle Richtungen verstreuen. „Es geht um die Intensität, mit der geblasen | |
wird, und um die Lippenspannung. Vor allem die hohen Töne sind schwierig.“ | |
Inzwischen hat er gut dreieinhalbtausend Auftritte hinter sich. | |
Einmal im Monat üben alle sechs Hörner das Stück in der Feuerwehrwache, | |
denn gerade das präzise Zusammenspiel ist wichtig. Was es ihm bedeutet, | |
Teil dieses Rituals zu sein? „Ich sehe es als Ehre, dies tun zu können, aus | |
Dankbarkeit gegenüber jenen, die für unsere Freiheit gekämpft haben. Und | |
als Plädoyer dafür, dass es sich nie wiederholt!“ | |
## Auch ein Veteranen-Treff | |
Am nächsten Morgen haben Raf Decombel und seine Hornbläser frei. Es ist | |
Sonntag. Ein grauer, nasser Wind peitscht das Hügelland um Ypern. Im | |
Dorfzentrum von Mesen, ein paar Kilometer südlich kurz vor der | |
französischen Grenze gelegen, fahren trotzdem drei Reisebusse mit | |
britischen Kennzeichen vor. Heraus steigen etwa hundert Rekruten, Veteranen | |
und Bandmitglieder des London Scottish Regiment. | |
Sie holen ihre Instrumente aus den Gepäckfächern und bewegen sich zu einem | |
Pavillon vor dem Rathaus. Über den Uniformen tragen sie nun schwarze | |
Regencapes. Um kurz nach zehn klingt der erste Dudelsack über die nassen | |
Pflaster des schläfrigen Mesen. Die Frittenbude ist noch geschlossen, | |
wenige Schaulustige nur haben sich an den Ecken eingefunden, darunter, wie | |
in Belgien üblich, ein paar Radler. Vom lokalen Spielmannszug, der | |
eigentlich schon hier sein sollte, ist noch nichts zu sehen. | |
Die Londoner aber sind unbeirrt. Im Jahr 1914 trafen die Infanteristen | |
ihres Regiments hier auf die Deutschen, und dessen zu gedenken sind sie | |
gekommen. Jemand erkundigt sich, höflich und bescheiden, bei den Mesenern | |
nach „zwei großen Flaschen Wasser“, denn: „Einige der Jungs sind sehr | |
durstig.“ Das Wasser wird arrangiert. | |
Nach und nach treffen auch die belgischen Musiker ein. Gemeinsam setzen sie | |
sich schließlich in Bewegung, auf einer unebenen Landstraße durch trostlose | |
Felder. Man fragt sich, ob die dunstigen Silhouetten der Hügel wohl genauso | |
aussahen im Herbst 1914. Als der Zug das kleine Denkmal draußen vor dem | |
Dorf erreicht, regnet es wie aus Eimern. Ansonsten ist kein Geräusch zu | |
hören, während die Hörner „The Last Post“ anstimmen. | |
11 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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