| # taz.de -- Videokunst-Ausstellung in Bremen: Alles scheint deformiert | |
| > Mary Reid Kelley wird in Bremen gewürdigt. Es geht in ihrer Kunst um die | |
| > Veränderung weiblicher Identitäten während des Ersten Weltkriegs. | |
| Bild: Schaurig: Videostill aus Mary Reid Kelleys „You make me Iliad“ von 20… | |
| Die Figuren, Gegenstände und Interieurs in Mary Reid Kelleys Filmen wirken | |
| so, als wären sie gemalt. Für manches trifft dies auch zu. Was nicht gemalt | |
| ist, so wie etwa die Gestalten, die in ihren Kurzfilmen auftreten, ist in | |
| einer Weise angemalt, dass man es gleich ganz für Malerei hält. | |
| Die Bremer Kunsthalle zeigt zurzeit mit „A Marquee Piece of Sod“ Filme, | |
| Zeichnungen und Requisiten der amerikanischen Künstlerin. Es ist die erste | |
| Museumsausstellung der 1979 geborenen Künstlerin in Europa. Noch dazu ein | |
| recht europäisches Thema, mit dem sie sich in ihren hier gezeigten Arbeiten | |
| auseinandersetzt: die Veränderung weiblicher Identitäten während des Ersten | |
| Weltkriegs. Die Schauplätze: England und das deutsch besetzte Belgien. | |
| Zusätzlich zu ihren eigenen Arbeiten hat die Künstlerin aus der grafischen | |
| Sammlung der Kunsthalle Drucke von Käthe Kollwitz, Emil Nolde und anderen | |
| Künstlerinnen und Künstlern ausgewählt, in denen der Erste Weltkrieg Thema | |
| ist. In diesen Werken lassen sich stilistische Ähnlichkeiten zu Reid | |
| Kelleys Filmen finden. Es macht den Anschein, als seien die Arbeiten dieser | |
| zeitgenössischen Künstlerin zutiefst altmodisch. Auch die Sprache, die sie | |
| in ihren Texten verwendet, erinnert an Homer und Lewis Carroll. | |
| ## Sie spielt alle Figuren selbst | |
| Ganz besonders fühlt man sich beim Betrachten von Reid Kelleys Filmen an | |
| deutsche Klassiker der Zwischenkriegszeit wie Robert Wienes „Cabinett des | |
| Dr. Caligari“ (1919) oder Karl-Heinz Martins weit weniger bekanntem „Von | |
| morgens bis Mitternacht“ aus demselben Jahr erinnert. Filme wie diese | |
| trugen psychische Erschütterungen auf der Folie eines urbanen, | |
| gesellschaftlichen Durcheinanders zur Schau. Auch wenn der Krieg darin | |
| nicht direkt vorkommt, so sind seine Folgen auf mehr oder weniger subtile | |
| Weise Thema. Ganz anders in den Videos Reid Kelleys, die direkt während des | |
| Krieges spielen. Gemeinsam ist allen die Überlagerung dekorativer | |
| Jugendstilmotive durch expressionistische Verzerrungen. | |
| Die Soldaten, Matrosen, Fliegerpiloten, Waffenfabrikarbeiterinnen und | |
| Feldprostituierten, die Reid Kelleys Filme bevölkern, wirken so, als seien | |
| sie gemalt. Dabei sind die Körper und Gesichter der Darstellerinnen – alle | |
| Figuren, auch die männlichen, spielt sie selbst – eher Leinwände als | |
| Bilder. Man hat zunächst das Gefühl, dass die Menschen hinter der weißen | |
| Schminke und den schwarzen Konturlinien um Nasen, Wangen und Brüsten zu | |
| verschwinden scheinen – dafür entstehen aus ihnen merkwürdige Gestalten. | |
| Die finsteren Silhouetten kahler Bäume und krummer Türme, vor denen sie | |
| sich bewegen, sind genauso aufgemalt wie die schiefen Teller und Tassen in | |
| den Regalen. Alles scheint deformiert, doch hinter diese Deformation führt | |
| kein Weg mehr zurück. Das Deformierte ist so immer schon das Normale. | |
| In ihren Filmarbeiten stellt Reid Kelley stets die Frage nach der | |
| weiblichen Identität. Dabei platziert sie ihre Figuren in historische | |
| Settings: Erster Weltkrieg, Französische Revolution und Industrialisierung. | |
| Es sind Phasen, in denen sich Gesellschaften neu ordnen, Menschen sich neu | |
| orientieren müssen – und mit den sozialen auch geschlechtliche Identitäten | |
| ins Wanken geraten. Gerade in solchen Situationen werden Aporien sichtbar: | |
| Gleichzeitigkeit von Macht und Machtlosigkeit, Gegenstand und Subjekt der | |
| Geschichte zu sein. | |
| ## Vibrator zum Trost | |
| Bereits im Sommer konnte man in Deutschland während der Berliner Festspiele | |
| Reid Kelleys Performance „This is Offal“ sehen, die sie gemeinsam mit ihrem | |
| Mann Patrick entwickelt hat. Man sah eine in der Pathologie aufgebahrte | |
| Frauenleiche und wohnte dem absurden Disput ihrer Organe über die | |
| Todesursache bei. In Bremen wird die Videofassung des Stücks gezeigt. | |
| In „Camle Toe“ (2008) lässt Reid Kelley einen von sich selbst gespielten | |
| Weltkriegspiloten mit aufgemalten Bartstoppeln und weiblicher Stimme ein | |
| Klagelied auf seine Liebe anstimmen: „I’m the lover of two women / They are | |
| both my joy and pride / Both equals in their beauty/Ones’s my airplane, | |
| one’s my bride.“ Der nun meist mit dem Flugzeug in Kriegshandlungen | |
| verstrickte Mann schenkt seiner Frau daheim zum Trost einen kleinen | |
| silbernen Vibrator. Erschrocken stellt er fest, dass sie mit ihrem | |
| Spielzeug so zufrieden ist, dass sie an ihm alles Interesse verloren hat. | |
| Er aber bleibt von ihrem Begehren abhängig. In solchen Momenten bekommt der | |
| blutige Ausnahmezustand beinahe etwas Schönes. | |
| In „You make me iliad“ von 2010 sucht ein poetisch veranlagter Soldat bei | |
| einer Prostituierten vergeblich nach Inspiration. Sie lehnt angewidert ab – | |
| es ist Krieg und sie hält die Verkennung als Muse für Gewalt. | |
| Weibliche Identitäten, das wird hier schnell klar, haben maßgeblich mit | |
| Wunsch, Imagination und Begehren des männlichen Gegenübers zu tun. Dabei | |
| reduziert die Künstlerin ihre Frauenfiguren nicht auf den Opferstatus. Als | |
| Begehrte und mit Wunschvorstellungen besetzte, haben diese Frauen auch eine | |
| gewisse Macht – ohne, dass dabei ihr Leid negiert wird. | |
| 18 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Radek Krolczyk | |
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