# taz.de -- Friedenslauf durch Zentraleuropa: Keuchen für eine bessere Welt | |
> Am Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs startete ein Friedenslauf | |
> von Sarajewo nach Aachen. Zwölf Länder durchqueren die Läufer bis Ende | |
> September. | |
Bild: Der Friedenslauf erreicht Srebrenica. Neben dem Ersten Weltkrieg gedenken… | |
TUZLA taz | Auf den letzten Kilometern vor Srebrenica stößt auf einmal an | |
jeder Kurve ein Schulkind zu unserem schnaufenden Tross. 40 Kids laufen mit | |
uns schließlich ein in die Stadt des Schreckens. Die siebenjährige Nadja | |
trägt die Friedensfackel mit einem kleinen Sprint ins Kulturni Centar. | |
Beifall brandet auf. Würdige Reden folgen, Musik, Tänze und die bosnische | |
Nationalhymne mit dem monströsen Schlussakkord. Vergessen die Strapazen | |
dieser Etappe durch sintflutartigen Regen mit über tausend Höhenmetern. | |
Wir laufen. Wir laufen für den Frieden. In einer Art Gruppenstaffel. | |
Täglich 50 bis 60 Kilometer. Von Bosnien aus, dem kriegsgeschüttelten, | |
zerstrittenen Land. Von Sarajewo durch zwölf Länder nach Aachen. Acht | |
Wochen fast 3.000 Kilometer laufen, schwitzen, keuchen. Der eine joggt | |
seine 5 Kilometer am Tag, die andere 15, einer schaffte anfangs vier Tage | |
lang jeweils die Marathonlänge. Auf dem Kickbike immer on the road: der | |
Berliner Pensionär Peter Bartel, 73, ein ehemaliger Ultraläufer (Bestmarke | |
im 24-Stundenlauf: 204 Kilometer), der sich altersmilde ein „Auslaufmodell“ | |
nennt. | |
Als Symbol haben wir die brennende Fackel dabei. Das Projekt heißt ja auch | |
„Flame for Peace – Jugend macht Europa“. Wir fühlen uns gut. Wir glauben, | |
dass das Projekt mikroskopisch zu einer etwas besseren Welt führen kann. | |
Ansonsten haben wir viel Spaß, selbst im nassesten Sommer auf dem Balkan | |
seit Menschengedenken und angesichts des zermürbenden Organisationsstresses | |
Tag für Tag. | |
Der Segen des EU-Parlaments läuft mit und Grußworte von Bosniens | |
Fußballheld Vedad Ibisevic vom VfB Stuttgart („… damit die Lebensfreude ein | |
kleines Stück zu den Menschen zurückkehrt“). Als Tuzla belagert war, hat | |
Ibisevic hier gelebt. Mitläufer Heinz Jussen, der Initiator von „Flame for | |
Peace“, war der Erste, der die eingeschlossene Stadt Ende 1992 mit einem | |
Hilfstransport erreichte. „Kann durchaus sein“, sagt der ehemalige Bonner | |
Schulleiter, „dass ich dem kleinen Vedad damals ein Hilfspaket in die Hand | |
gedrückt habe. | |
## 50 Kilogramm Lebensmittel | |
Wir freuen uns, wenn die Deutsche Welle Bosnien unser Projekt zum | |
Themenschwerpunkt macht, zudem im Sport. Wenn Zeitungen und Fernsehkameras | |
uns bei den Etappenziel-Zeremonien erwarten, wenn Menschen am Straßenrand | |
klatschen und die Autos hupen. Vor allem wenn Einheimische mitlaufen. Bei | |
der Ankunft im Tuzla (übersetzt: „Salzburg“) waren es am Montag an die 50. | |
Dino, 19, gerade fertig mit der Schule, fand das so geil, dass er jetzt bis | |
Aachen mitlaufen will. Work & Travel auf bosnisch. | |
Am dritten Tag waren zwei Soldaten gut 20 Kilometer weit mitgelaufen, aus | |
der Kaserne der bosnischen Armee, in der uns die Stadt Ustikolina | |
untergebracht hatte. Als Friedlinge in den Stuben der Waffenmenschen | |
schlafen, was für eine Erfahrung! Der Bürgermeister erzählte uns, er sei im | |
Krieg 15-mal mit einem 50-Kilo-Rucksack voller Lebensmittel durch die Berge | |
zu den eingeschlossenen Soldaten in Gorazde marschiert, „fast 50 Kilometer | |
weit, und in der nächsten Nacht wieder zurück“. Wie lächerlich dagegen | |
unser Gejogge. | |
Oft hörten wir von Passanten: Schön, aber hat ja eh keinen Sinn. Frieden | |
auf Dauer? Unser gespaltenes Land kriegt sich nie auf die Reihe. EU? Wie | |
sollen wir je dahin kommen? Auffallend: Im serbischen Loznica wurden wir | |
besonders herzlich empfangen, mit einer Tanzperformance im Theater, die | |
Kulturchefin der Stadt zitierte Brecht und Martin Schulz. Ganz anders als | |
in den serbischen Gebieten Bosniens (Republika Srpska) wie etwa in Visegrad | |
und Zvornik. | |
Die nichtmuslimische Minderheit in Bosnien macht bisweilen einen | |
verbitterten Eindruck. Ein Mann sagt: „Wir Serben hier sind nur unter | |
Druck. Wir wurden nach dem Krieg ungerecht abgefunden. Im Fernsehen gibt es | |
Zensur. Da war der Krieg ja besser als dieser Frieden. Ich glaube, dieses | |
Stück Welt zwischen allen Kulturen ist unregierbar.“ Wir versuchen das | |
alles zu verstehen: Sind viele Serben in Bosnien-Herzegowina so verstockt | |
und misstrauisch, weil sie voller Schuldbewusstsein sind nach den Massakern | |
ihrer Fanatiker im Balkankrieg? Ähnlich wie die kollektiv schuldigen | |
Deutschen nach 1945? | |
## EU-Hymne bei Ortsdurchfahrten | |
Was für unentdeckte Landschaften! Die spektakuläre Drina etwa mit ihren | |
Felsschluchten muss sich vor Rhein, Donautal und Ardeche nicht verstecken. | |
Plötzlich winkt uns ein energischer serbischer Polizist aus allen Träumen: | |
„Was haben Sie in dem Anhängern geladen?“ Eine lange Zwangspause droht. | |
„Den Frieden“, sagt die bosnische Kroatin Snjezana aus dem | |
Organisationsteam ganz ernst. Alle müssen lachen. Wir dürfen weiter. | |
Konni aus Kaiserslautern mit seinem „Friedensmobil“ tuckert hinter den | |
Läufern her. Der Mann mit dem weißen Rauschebart, der wirkt wie aus den | |
Siebzigerjahren in die Gegenwart gebeamt, kocht für uns und beschallt die | |
Läufer mit seinen Außenlautsprechern – auf Wunsch mit Konstantin Wecker | |
oder donnernder Klassik. Bei Ortsdurchfahrten läuft vornehmlich die | |
EU-Hymne – rockig mit eigenem englischem „Flame for Peace“-Text oder mit | |
Chorgesang einer Jugendtheatergruppe aus Tuzla auf Bosnisch. Bewegend. | |
Forttreibend. Am Abend will die „Ode an die Freude“ nicht mehr aus dem | |
Kopf. | |
Am Mahnmal in Srebrenica für die über 8.000 hingemetzelten Muslime vom Juli | |
1995 erzählt uns Amir, ein Zeitzeuge: „Bis dahin hatte ich gedacht, dass | |
man nur einmal stirbt. Das stimmt nicht. Erst wurden die Menschen hier | |
getötet, dann mit Maschinen zerstückelt, dass man sie nicht mehr | |
identifizieren kann. Drittens, und das ist das Schlimmste, wird geleugnet, | |
dass das alles überhaupt passiert ist.“ Amir selbst war während des | |
Genozids auf dem „Marsch des Todes“, um aus dem überfüllten Srebrenica zu | |
fliehen, „sieben Tag und acht Nächte war ich unterwegs“. Unzählige, die m… | |
ihm flüchteten, wurden neben ihm niedergeschossen. Es ist unfassbar, was | |
Vertreter unserer Spezies hier angerichtet haben. Man schämt sich, Mensch | |
zu sein. | |
Wir bilden einen kurzen Gedenkkreis, ein Dutzend muslimischer Frauen fädelt | |
sich ein. Das ist, für einen Moment zumindest, Frieden. Sasa, 32, ein Serbe | |
aus Srebrenica, voll tätowiert, Holzfäller von Beruf, hatte mit uns einen | |
kleinen Kranz niedergelegt. Eine schöne Geste. „Das wird Gerede geben im | |
Ort, wenn ich zurückkomme“, sagt er, „aber das ist mir egal. Ich stehe | |
dazu.“ Dann schloss er sich dem Lauf an, drei Tage lang, bis Blutblasen ihn | |
stoppten. | |
Am 21. September soll die Friedensflamme in Aachen eintreffen. Initiator | |
Jussen sagt: „Ich bin sicher: Jeder Tag wird ein Abenteuer für sich.“ Das | |
kann man schon nach zehn Tagen bestätigen. Am Mittwoch war erst einmal Land | |
unter in Bosnien: Überflutungen, Erdrutsche, weggerissene Brücken, | |
gesperrte Straßen. Ob man eine bessere Welt nur schwimmend findet? | |
10 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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