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# taz.de -- Strukturwandel in Ostdeutschland: Auferstehung mit Ruinen
> In Zeitz, der Stadt des Maschinenbaus, der Kinderwagen und Klaviere, hat
> die Deindustrialisierung gewütet. Doch es gibt erste Zeichen der
> Erholung.
Bild: Zweiter Versuch für einen alternativen Raum in Leipzig: Die Bewohner des…
ZEITZ taz | Südlich von Leipzig, stromaufwärts entlang der Weißen Elster,
verwischen sich langsam die Spuren der Braunkohletagebaue. Hügelige
Landschaft, Obstplantagen, vereinzelt ein Weinberg. Dann taucht Zeitz auf,
wie die biblische Stadt auf dem Berge, Bischofssitz seit über tausend
Jahren, dominiert vom gotischen Rathaus, hinter dem selbst die barocke
Moritzburg im Altstadtring zurückzutreten scheint.
Beim Näherkommen aber zeigen sich Risse im Bild der mächtigen
Vergangenheit. Um den Bahnhof gibt es Straßenzüge, in denen kein
bewohnbares Haus mehr zu finden ist. Prächtige Gründerzeithäuser verfallen
ebenso wie einst liebevoll gestaltete Villen mit wunderschönen
Jugendstilfassaden. Inmitten dieser architektonischen Morbidität schlurft
hin und wieder eine Gestalt über das grobe Kopfsteinpflaster, es riecht
nach schalem Bier und Müll aus den überfüllten Tonnen. „Zu verkaufen“ st…
an manchen mit Spanplatten vernagelten Fenstern. Doch wer kauft hier eine
Immobilie?
Ein Bauunternehmer erwarb Häuser an der einst prachtvollen Rahnestraße,
lässt sie aber nur weiter verfallen. Unter ihnen ist das Baenschhaus aus
der Renaissance, das die Stadt für 1,3 Millionen Euro notsichern musste.
Die erbärmlichsten Schrottimmobilien wurden mit Geldern aus einem
Bundesprogramm abgerissen, das beschönigend „Stadtumbau Ost“ heißt. „Mut
zur Lücke“ ist einer der Slogans von Oberbürgermeister Volkmar Kunze (FDP).
„Es gab eine Zeit, da musste man auch in Zeitz einen Antrag stellen, um
eine Wohnung zu bekommen“, sagt Kathrin Wiegleb. Mit Stolz zeigt die
Stadtführerin Besuchern das Rathaus mit seinen Fresken, Holztäfelungen,
geschnitzten Türfassungen, Stilmöbeln und dem riesigen Lüster im
Friedenssaal. Die Wohnungsknappheit, das waren die DDR-Jahre, in denen die
Einwohnerzahl um die 45.000 pendelte. Plattensiedlungen wie Zeitz-Ost
entstanden. Heute leben noch rund 30.000 Menschen in Zeitz, doch diesen
Stand hält die Stadt nur durch einige Eingemeindungen im Jahr 2009. „Das
sind etwa so viele Bewohner wie vor hundert Jahren – aber bei doppelt so
großem Stadtgebiet“, sagt Wiegleb.
Damals, vor einhundert Jahren, wuchs und wuchs die preußische Kreisstadt.
Die 1855 gegründete Zeitzer Eisengießerei und Maschinenfabrik AG Zemag
lieferte Anlagen zur Braunkohleveredlung und läutete das Zeitalter der
Industrialisierung ein. Ab 1877 brachte eine Dampfmaschine mit der ersten
deutschen Standseilbahn ganze Fuhrwerke in die Oberstadt. Die Brikettfabrik
Herrmannschacht von 1889 ist das weltweit älteste erhaltene
Industriedenkmal seiner Art. Aber Zeitz lebte nicht nur vom Groben. Mit
zeitweise bis zu 30 Fabriken war es ein Zentrum des Klavierbaus in
Deutschland. Die meisten Babys des Kinderbooms in der DDR wurden in
Zekiwa-Kinderwagen aus Zeitz ausgefahren. Die Modelle des aus der Zeitzer
Firma Naether hervorgegangenen Herstellers wurden ein Exportschlager.
## Korrekturversuche am Verliererimage
Die schlagartig eintretende Konkurrenzsituation nach der Währungsunion 1990
jedoch vernichtete die industrielle Basis der Stadt weitgehend. „Chemie-
und Industriepark“ steht heute noch großspurig über dem Eingang des
Hydrierwerks vor der Stadt.
5.000 Menschen arbeiteten hier einst, heute sind es noch 600 Beschäftigte.
Die von Südzucker übernommene Zuckerfabrik Zeitz hat überlebt, ein Teil der
Gießerei und die zu Goldeck aus Leipzig gehörende Schokoladenfirma Zetti.
Die verlassene Kinderwagenfabrik am alten Mühlgraben hingegen ragt in den
Himmel wie ein Mahnmal der Deindustrialisierung.
„Ich möchte es den Zeitzern nicht mehr zumuten, immer zu lesen oder zu
hören, wie schlecht hier alles ist“, sagt Thomas Sagefka, der Sprecher der
Stadt. Er kämpft gegen das Image der Stadt als Wendeverlierer und lädt ein
zu einem Rundgang durch die Stadt. Vor dem Rathaus der Altmarkt, der
zentrale Platz, der mit Fördermitteln neu gepflastert und umgestaltet
wurde. Gegenüber ragt der Turm des Gewandhauses mit seinem
Big-Ben-Glockenspiel empor, einst Gestapo-Hauptquartier, heute Sitz einer
Galerie und der Stadtinformation. Einige Häuser weiter sitzt der Verein
„Unterirdisches Zeitz“, er bietet Führungen durch ehemalige Bierkeller.
Sagefka zeigt auch die „Kulturkirche“ des ehemaligen Franziskanerklosters,
in der ein kleines, privates Theater namens Kürbiskern nistet.
Die Einzelhandelsketten bevorzugten die Einkaufszentren am Stadtrand,
Sagefka wertet schon als Erfolg, dass nur etwa ein Drittel der
Einzelhandelsflächen leer steht. Zwei glatt gestylte junge Männer, die für
eine Sonderaktion eines Mobilfunkanbieters angereist sind, warten vor einem
der wenigen Läden auf Kunden. „Ein bisschen asozial“ sei das Milieu hier
schon, raunt einer leise.
Stadtpatron St. Michael ist allgegenwärtig, auch im Namen eines 1998
erstmals ausgelobten Existenzgründerpreises, der immerhin einige
Kleinunternehmen in die Stadt gebracht hat. Als Thalia. die einzige
Buchhandlung der Stadt, aufgab, füllte im Mai dieses Jahres die erst
28-jährige Sabine Nüssel die Lücke. „So schlimm ist das hier gar nicht“,
sagt die gelernte Friseurin, nur die Ladenmiete sei relativ hoch. Ihre
kleine Buchhandlung namens Gutenberg wurde im Rathaus freudig begrüßt –
ebenso wie jede andere, noch so bescheidene Ansiedlung auf den im Übermaß
vorhandenen Gewerbeflächen.
Ein „kleines Wunder“ nannte Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) gar
jüngst die Entwicklung des Standorts im äußersten Süden Sachsen-Anhalts.
Tatsächlich hat sich die Zahl der Arbeitslosen im vergangenen Jahrzehnt auf
13 Prozent etwa halbiert. Die städtischen Schulden konnten um ein Drittel
auf 12 Millionen Euro abgebaut werden. Das Elster-Hochwasser im Vorjahr
sorgte sogar für einen Anstieg der Investitionen. „Wir brauchen hier keine
Millionäre“, hatte der ehemalige Oberbürgermeister Dieter Kmietcyk gesagt
und die drittklassigen Abenteurer aus dem Westen gemeint. So verschrecke
man Investoren, fürchteten damals einige Zeitzer.
## Alternative Nischen in einer Seniorenstadt
Zwei Schüler der sechsten Klasse laufen durch eine Straße voller Ruinen am
Rande der Altstadt. „Traurig“ seien diese, sagen sie. „Es ist nicht viel
los für unser Alter.“ In Zeitz werden die beiden wohl nicht bleiben. Laut
Stadtentwicklungsplan werden sie im Jahr 2020 zu einer Minderheit von nur
noch 8 bis 9 Prozent Jugendliche gehören, während fast 40 Prozent der
Einwohner die 65 überschritten haben werden. Die ehemalige Stadt der
Kinderwagen diskutiert, welche Kindertagesstätten sie noch sanieren und
erhalten will.
Zukunft verspürt man in Zeitz noch am ehesten am Rande der Stadt. Dort, am
Berg, liegen die Reste des Benediktinerklosters Posa. Im November 2013 hat
ein Verein das Gelände von der Stadt günstig gepachtet. Dahinter stecken
junge Leute, die vor über zehn Jahren in der Stadt mit einem Kulturcafé
namens „Muckefuck“ in der inzwischen abgerissenen Oettler-Brauerei noch
gescheitert waren. Wie Philipp Baumgarten, der sich in Leipzig als
Künstler, Fotograf und Verleger betätigt hat, sind einige von ihnen
zurückgekehrt – und bringen immerhin sechs Kinder in die Stadt.
Sie knüpfen an klösterliche Traditionen auf säkulare Weise an und haben die
konsumkritischen Grundsätze ihrer „offenen Gemeinschaft“ in einem Manifest
formuliert. Was sich hinter der schmucklosen Scheune und der Fassade des
ehemaligen Schafstalls verbirgt, könnte die Leipziger Kunstszene zur
Stadtflucht verleiten, hofft Baumgarten. Ein noch provisorischer, großer
Veranstaltungssaal, ein richtiges Theater, geräumige Ateliers.
Kunststudentin Katharina Geißler ist vor der Ateliernot in Dresden schon
hierher geflohen. „Wir möchten das kulturelle Epizentrum der ganzen Region
werden“, sagt Baumgarten voller Selbstbewusstsein.
Einen halben Hektar groß ist das Weingut gleich nebenan. Der vitale
78-jährige Norbert Hörig und seine Frau Brigitta haben 1997 wieder
aufgerebt, was seit der Reblauskatastrophe 232 Jahre brachlag. Was sie
keltern, reicht für die Gesellschaften im Weinzelt und in der urigen Laube.
In solchen touristischen Angeboten sieht der gelernte Gastronom Hörig, der
auch im Stadtrat sitzt, die Zukunft der Stadt. Aber dafür gebe es nicht
einmal ausreichend Übernachtungskapazitäten – obschon die Stadt mit dem
Zucker- und dem Weinfest eine Belebung des Tourismus versucht.
Der Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannte sich 1976 aus Protest gegen
Gottlosigkeit und kommunistische Indoktrination vor der Michaeliskirche
selbst. Würde er seine Kritik an der gottlosen DDR relativieren, wenn er
die Entwicklung der Stadt bis heute erlebt hätte?
Aber vielleicht wird Zeitz ja doch noch zum Anziehungspunkt für Junge und
Alternative, wie es sich beim Kloster Posa andeutet. Vom Bahnhof kommen
zwei junge Männer von 18 und 23 Jahren heimgeschlendert, dunkel-trendig
gekleidet. Sie stammten eigentlich aus dem Ruhrpott, haben aber im 20
Kilometer entfernten Weißenfels Arbeit bekommen. Sie sind genügsam, und in
Zeitz „lebt man billig“, auch wenn „die Szene ein bisschen fehlt“. Die
Ruinen stören sie nicht, im Gegenteil, die Kontraste machten gerade den
Reiz der Stadt aus. „Es lässt sich überall leben, man muss nur wissen,
wie.“
18 Oct 2014
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
DDR
Sachsen-Anhalt
Schwerpunkt Ostdeutschland
Wende
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Berlin
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Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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