# taz.de -- Franz Ferdinand und Europas Politik 1914: Die Tragik des Moments | |
> Am 28. Juni 1914 wurde Franz Ferdinand im offenen Wagen durch Sarajevo | |
> kutschiert und erschossen. Darauf folgten Julikrise und Erster Weltkrieg. | |
Bild: Die Ruinen von Verdun im Jahr 1916. | |
Ein Foto vom 28. Juni 1914, das Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau | |
Sophie auf der Treppe des Rathauses in Sarajevo auf dem Weg zu ihrem Gräf & | |
Stift Cabriolet zeigt, ist in den letzten hundert Jahren unzählige Male | |
reproduziert worden. Was der Fotograf und die Umstehenden nicht ahnen | |
konnten, weiß heute der Betrachter. Kurze Zeit nachdem diese Aufnahme | |
gemacht wurde, waren der Thronfolger und seine Frau tot: Opfer des jungen | |
serbischen Nationalisten Gavrilo Princip, der zusammen mit anderen die | |
Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers geplant hatte. | |
In den Wochen nach der Tat, in der sogenannten Julikrise, entschied man | |
sich in Wien, das Attentat als Anlass für einen Krieg gegen Serbien zu | |
nehmen. Aus Berlin kam die Zusicherung, den Bündnispartner dabei zu | |
unterstützen, koste es, was es wolle. In den Hauptstädten Europas wurden | |
Entscheidungen getroffen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. | |
Man wünscht beim Betrachten des Fotos, der Fahrer hätte an diesem | |
Nachmittag eine andere Route gewählt oder dass sich das Paar nach dem | |
missglückten Bombenwurf am Morgen für den Abbruch des offiziellen Besuchs | |
entschieden hätte. Das Foto symbolisiert die Tragik des hier verewigten | |
Moments. Es sollten Franz Ferdinand und Sophie bald Millionen in den Tod | |
folgen. Bis heute streiten sich Politiker und Diplomaten, Historiker und | |
die Öffentlichkeit darüber, wer hinter den jungen Attentätern um Princip | |
die Fäden zog. | |
Noch umstrittener ist und bleibt, wer dafür verantwortlich war, dass die | |
Julikrise nicht diplomatisch gelöst wurde, sondern zum Ersten Weltkrieg | |
führte, der so viele Opfer forderte. Es ist uns bis heute nicht gelungen, | |
die Ursachen dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu aller | |
Zufriedenheit zu erklären. Uneinigkeit herrscht unter Historikern, wenn es | |
um die Interpretation der komplexen Hintergründe geht, die zum Ausbruch des | |
Krieges führten. Dieser Krieg warf lange Schatten auf die nachfolgenden | |
Jahrzehnte, mit Spätfolgen bis heute. | |
## Hintergründe und Quellen | |
Wir wissen heute zwar viel über die Hintergründe der Ereignisse vom Sommer | |
1914 und haben unzählige Quellen zur Verfügung, um nachzuvollziehen, was | |
damals passiert ist. Aber es bleiben noch immer viele Fragen offen. Warum | |
wurden Entscheidungen getroffen, die doch so offensichtlich von großer | |
Tragweite waren, und was wollten die Entscheidungsträger damit eigentlich | |
bezwecken? Warum wollten einige einen Krieg provozieren, obwohl sie doch | |
fürchteten, dass der nächste Krieg das Ende der Zivilisation bedeuten | |
könne? | |
Auch die jüngste Kontroverse um Christopher Clarks Schlafwandlerthese | |
liefert keine unumstößlichen Antworten und wirft ihrerseits neue Fragen | |
auf. Warum also führte das Attentat serbischer Nationalisten zum Ersten | |
Weltkrieg? Der Balkan war damals im wahrsten Sinne des Wortes ein | |
Pulverfass. Das nach den Balkankriegen 1912/13 erstarkte Serbien bedrohte | |
den Status quo und die innere Stabilität des Vielvölkerstaates | |
Österreich-Ungarn. Der Besuch des österreichischen Thronfolgerpaars fiel | |
unglücklicherweise auf einen serbischen Nationalfeiertag, den | |
Sankt-Veits-Tag, und fand trotz Warnungen, dass die Sicherheit nicht | |
garantiert werden könne, statt. | |
Der dreitägige Staatsbesuch war zunächst äußerst positiv verlaufen. Am 27. | |
Juni erklärte Sophie gegenüber einem kroatischen Parlamentsmitglied: „Wo | |
immer wir waren, haben uns alle, bis auf den letzten Serben, mit solcher | |
Freundlichkeit, Höflichkeit und echter Wärme begrüßt, dass wir mit unserem | |
Besuch sehr glücklich sind.“ Am nächsten Tag zögerte Princip, weil er die | |
Erzherzogin nicht auch erschießen wollte. Aber er schoss dann doch. Sie | |
starb fast sofort an einem Bauchschuss, während Franz Ferdinand dem Schuss | |
in den Hals kurze Zeit später erlag. | |
Das Attentat von Sarajevo sollte die Wiener Regierung provozieren und | |
unterminieren – dass man dort aber die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen | |
werde für die schon so lange erwünschte Abrechnung mit Serbien, hatten die | |
Verschwörer in Belgrad nicht erwartet. Nach zwei Kriegen waren Serbiens | |
Armee erschöpft und seine Finanzmittel aufgebraucht. Eine Ruhepause war | |
nötig; auf einen weiteren Krieg war man eigentlich nicht vorbereitet. | |
Anders aber in Wien, wo der Generalstabschef in den vorangegangenen Monaten | |
dutzendemal einen Krieg gegen Serbien verlangt hatte. Die schreckliche Tat | |
von Sarajevo brachte den Vorwand, den man gesucht hatte. Eine diplomatische | |
Lösung wollte man nicht; sie sei „odios“, meinte man am Ballhausplatz. Und: | |
die Wiener Regierung traf diese Entscheidungen nicht allein. | |
## Blankoscheck aus Berlin | |
Mit Deutschlands Unterstützung wollte man einen lokalen Krieg führen, war | |
sich aber gleichzeitig sicher, dass Russland sich höchstwahrscheinlich | |
einmischen würde. Dieses Risiko war man bereit in Kauf zu nehmen. Und der | |
deutsche Verbündete versicherte auch, Österreich-Ungarn den Rücken zu | |
stärken. Der sogenannte Blankoscheck aus Berlin ermöglichte es den „Falken�… | |
in Wien, ihre Kriegsforderung durchzusetzen und mit einem absichtlich | |
unannehmbaren Ultimatum Wirklichkeit werden zu lassen. | |
Dabei kam allerdings auch aus Berlin Druck, sich die serbische Provokation | |
nicht gefallen zu lassen. Nur ein starkes Auftreten könne den | |
Großmachtstatus Österreichs retten, und ein Verzicht darauf würde das | |
Bündnis zwischen dem kaiserlichen Deutschland und Österreich-Ungarn in | |
Frage stellen. Erst nach Übergabe des scharf formulierten (und bis dahin | |
streng geheim gehaltenen) Ultimatums an Belgrad am 23. Juli reagierten die | |
anderen Großmächte und natürlich auch Serbien. Dies entschärfte die Krise | |
nicht, auch wenn aus London Vermittlungsversuche kamen. | |
Ob diese letztendlich ernst gemeint waren oder nicht, spielt allerdings | |
kaum eine Rolle, denn es war ja in Wien eine diplomatische Lösung des | |
Konfliktes von vornherein abgelehnt worden. In Frankreich war man sich | |
einig, sich eine erneute Provokation auf dem Balkan nicht gefallen zu | |
lassen. Im Ernstfall wollte man Serbien und die anderen Bündniskräfte | |
bedingungslos unterstützen, genau wie eben auch Wien und Berlin sich dies | |
zugesichert hatten. | |
Im Ernstfall wollte der deutsche Generalstab den sogenannte Schlieffenplan | |
zum Einsatz bringen, um so gegen die Feinde in West und Ost kämpfen zu | |
können. Der Balkankonflikt wurde so zum Nebenschauplatz. Deutsche Truppen | |
marschierten Anfang August in Luxemburg und Belgien ein. Damit war der | |
Grundstein gelegt für die spätere Kriegsschuldzuweisung an das Deutsche | |
Reich. Die Verletzung der Neutralität seiner Nachbarn hatte den | |
europäischen Krieg heraufbeschworen – so sah man es im Ausland 1914 und | |
auch noch, als man sich 1919 in Paris zu Friedensverhandlungen traf. | |
## Viele Militärs forderten den Krieg | |
Ist Europa 1914 in den Krieg „hineingeschlittert“, wie es der britische | |
Premierminister David Lloyd George einst versöhnlich formulierte? Damit war | |
der Vorwurf der deutschen Kriegsschuld aufgehoben, und ein für alle | |
Großmächte erträglicher Kompromiss hatte sich gefunden. Dieser Konsens der | |
1930er Jahre ist der neuesten Interpretation sehr ähnlich. Und tatsächlich | |
lassen sich in allen Hauptstädten der Großmächte Kriegstreiber finden. | |
Besonders unter den Militärs der damaligen Zeit war es durchaus weit | |
verbreitet, dass man einen Krieg forderte. | |
Nicht nur in Wien und Berlin sah man in der Julikrise eine goldene | |
Gelegenheit, einen Krieg vom Zaun zu brechen, den man auf lange Zeit | |
gesehen ohnehin für unvermeidbar hielt. Auch russische und französische | |
Entscheidungen, einem Krieg nicht auszuweichen, trugen zu der Eskalation | |
der Krise schließlich bei. Es gibt, so Christopher Clark in einer | |
vielzitierten Metapher, keinen „rauchenden Colt“ zu entdecken, und wenn | |
doch, so hielt jeder der Hauptakteure einen in der Hand. Allerdings muss | |
man dabei bedenken, wer denn seinen Colt als Erster zog, wer den ersten | |
Schuss abgab. | |
Und das waren zweifelsohne die Mächte des Zweibunds: sie beschlossen Anfang | |
Juli, die Gelegenheit zum Krieg zu nutzen, und machten aus der Krise einen | |
Krieg. Österreich-Ungarn erklärte Serbien bereits am 28. Juli den Krieg und | |
begann diesen sofort mit einer Beschießung Belgrads – um zu verhindern, | |
dass es doch noch zu einer diplomatischen Lösung kommen würde. Und im | |
wilhelminischen Berlin hatte man, unter dem Zeitdruck des Schlieffenplans, | |
die Mobilmachung bereits beschlossen, als Russland Deutschland | |
willkommenerweise zuvorkam. | |
Auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen lassen sich die neueren | |
Tendenzen, die Verantwortung Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches | |
für die Eskalation der Krise zu verwischen, durchaus widerlegen. Die | |
politische und militärische Führung beider Länder wollte den | |
außenpolitischen Befreiungsschlag und riskierte damit leichtsinnig einen | |
Weltkrieg. Dass dieser allerdings zur „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts | |
werden würde, konnte im Juli 1914 niemand ahnen. | |
1 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Annika Mombauer | |
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