| # taz.de -- Debatte IS-Freiwillige: Verquere Brigaden | |
| > Die IS-Freiwilligen aus dem Westen nehmen eine alte Tradition auf – vom | |
| > griechischen Freiheitskampf bis zum spanischen Bürgerkrieg | |
| Bild: IS-Kämpfer, irgendwo an der Grenze zwischen Syrien und Irak. | |
| Stellt sich im Westen wirklich niemand ernsthaft die Frage, warum so viele | |
| junge Menschen aus Europa, Kanada, Australien, ja sogar aus China sich auf | |
| den Weg nach Syrien und in den Irak machen, um in den Reihen des | |
| sogenannten Islamischen Staat (IS) und anderer islamistischer Milizen zu | |
| kämpfen? | |
| Zuletzt hat die New York Times eine beeindruckende Grafik über die Herkunft | |
| der ausländischen Freiwilligen erstellt. Die Zahlen sind dabei nur bedingt | |
| aussagekräftig und teils widersprüchlich: Jedenfalls aber wird die Präsenz | |
| ausländischer Milizionäre in Syrien und Irak auf 17.000 geschätzt (die | |
| Unsicherheit entsteht, weil mal nur der Irak oder nur Syrien, mal | |
| ausschließlich IS oder alle Organisationen, die dort kämpfen, gelistet | |
| werden). | |
| Die größten Kontingente kommen natürlich aus Tschetschenien und dem | |
| Nordkaukasus (ca. 9.000), aus der Türkei (1.000) und aus dem Kosovo (400) - | |
| also aus Ländern, in denen der Islam dominiert; aber 1.900 kommen eben auch | |
| aus Westeuropa (davon 700 allein aus Frankreich, 340 aus Großbritannien, 60 | |
| aus Irland), um die hundert aus den USA und zwischen 50 und 100 aus dem | |
| fernen Australien. | |
| ## Résistance als Terroristen | |
| Die landläufige Erklärung lautet, dass es sich bei diesen Freiwilligen um | |
| Fanatiker handelt, um Irrläufer, kurz um „Wahnsinnige“. Und Wahnsinn war ja | |
| auch die Kategorie, die von Caligula bis Hitler, Idi Amin und Saddam | |
| Hussein auf alle Diktatoren angewendet wurde, die gestürzt wurden oder die | |
| es zu stürzen galt. | |
| Diese Erklärung erklärt aber nichts, im Gegenteil, sie zeugt von | |
| intellektueller Hilflosigkeit. Dabei muss man mit solchen Zuschreibungen | |
| von außen ohnehin höchst sorgsam umgehen: Niemand nennt sich selbst einen | |
| Terroristen – wie auch niemand sich selbst als Populisten bezeichnet. Nach | |
| einer alten Maxime ist der Terrorist der einen der Freiheitskämpfer der | |
| anderen. Terrorist nennt der Feind seinen Gegner, der Sieger den Besiegten. | |
| Im Zweiten Weltkrieg bezeichneten die Deutschen die Kämpfer der | |
| französischen Résistance als Terroristen – nach dem Sieg der Alliierten war | |
| davon selbstverständlich keine Rede mehr. So wie die Kämpfer der | |
| algerischen FLN von den Franzosen Terroristen genannt wurden und der | |
| Terminus nach der Unabhängigkeit verschwand, einfach deswegen weil die FLN | |
| gesiegt hatte. Der Sieger schreibt die Geschichte, von Begin bis Ho Chi | |
| Minh. | |
| Das Phänomen der neuen Internationalen Brigaden verdient also eine | |
| vertiefte Beschäftigung – die nicht ohne eine Studie auskommen kann, die | |
| kürzlich von der US-Denkfabrik „Rand National Defense Research Institute“ | |
| veröffentlicht wurde. In der 2010 in Angriff genommenen Untersuchung [1][An | |
| Economic Analysis of the Financial Records of al-Qaeda in Iraq], die die | |
| Al-Quaida Finanzierung in den Jahren 2005 -2010 betrachtet – dem | |
| Rand-Institute zufolge aber auch für IS relevant ist – finden sich zwei | |
| bemerkenswerte Schlussfolgerungen: | |
| 1. Der Sold spielt keine entscheidenden Rolle, sich den islamistischen | |
| Milizen anzuschließen. | |
| 2. Bei den Terroristen handelt es sich um Menschen mit überdurchschnittlich | |
| hohem Bildungsgrad: Das sind keine marginalisierten, ungebildeten | |
| Wahnsinnigen – so wenig wie es die ersten freiwilligen Milizionäre der | |
| Moderne waren. | |
| ## Brigadist Lord Byron | |
| Gemeint sind jene Eliten, die sich für die Freiheit des christlichen | |
| Griechenlands vom islamischen türkischen Reich schlugen und für sie zu | |
| sterben bereit waren. Die berühmtesten unter ihnen waren der englische | |
| Dichter Lord Byron (gestorben 1824 in Mesolongi) und der italienische Graf | |
| Santorre di Santarosa (gestorben 1825 in Sfaktiria). Zur Symbolfigur des | |
| Brigadismus im 19. Jahrhundert wurde dann nicht zufällig Giuseppe | |
| Garibaldi. Der „Held der zwei Welten“ kämpfte in Brasilien, Uruguay, | |
| Italien und Frankreich (1870/71 gegen die Deutschen). | |
| Alle diese Freiwilligen hatten sich die Worte des Saint-Simonisten Emile | |
| Barrault (1799- 1869) zu eigen gemacht: „Ein Mensch, der wirklich ein | |
| Kosmopolit ist, indem er die Menschheit zu seinem Vaterland erklärt und | |
| sein Schwert und Blut jedem Volk zur Verfügung stellt, das gegen die | |
| Tyrannei kämpft, der ist mehr als ein Soldat: er ist ein Held.“ | |
| Im 20. Jahrhundert wurde diese Tradition von den republikanischen, | |
| anarchistischen und kommunistischen Brigaden fortgeführt, die in Spanien | |
| kämpften und deren Engagement im Krieg gegen Franco reiche Spuren in der | |
| Literatur hinterlassen hat: Von „Wem die Stunde schlägt“ Ernestes | |
| Hemingways bis zu „Hommage an Katalonien“ von George Orwell. | |
| ## Islam statt Menschheit | |
| Nach dem Zweiten Weltkrieg brach diese Linie plötzlich ab. Kein | |
| europäischer Freiwilliger kämpfte in Südafrika oder in Vietnam. Das | |
| Phänomen tauchte erst Anfang der 1990er Jahre wieder auf, mit den Kriegen | |
| in Bosnien und in Afghanistan – bis hin zu IS heute. | |
| Aber dieser neue Internationalismus unterscheidet sich wesentlich von dem | |
| vor 1945. Es geht nicht mehr um Patriotismus, nationale Befreiung oder um | |
| Klassenkampf, sondern um einen religiösen Befreiungskrieg gegen die | |
| Ungläubigen. Die IS-Freiwilligen können sich nur dann auf Barrault berufen, | |
| wenn sie an die Stelle der „Menschheit“ den Islam setzen. | |
| Die Frage ist also: Wie ist es dazu gekommen, dass sich die Jugend Europas | |
| nicht mehr für die Menschheit, das Vaterland, den Sozialismus aufopfern | |
| will – sondern für die Religion? Was haben wir dieser Jugend angetan, um | |
| sie dahin zu bringen? | |
| Was einen rasend macht am vor allem in Europa herrschenden Diskurs über den | |
| islamischen Fundamentalismus, ist die Oberflächlichkeit, was die | |
| strukturellen Gründe angeht, die soziale Entfremdung. Alles wird reduziert | |
| auf die unbrauchbaren und offensichtlich unsinnigen Kategorien „Wahnsinn | |
| und Fanatismus“. | |
| Dass IS mitnichten aus lauter Minderbemittelten besteht, zeigt schon die | |
| Tatsache, dass es einer Gruppe von Anfängern mit ein paar öffentlich | |
| inszenierten Hinrichtungen von Westlern gelungen ist, von der einzig | |
| verbliebenen Supermacht als Hauptfeind anerkannt zu werden. | |
| 3 Oct 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.tehelka.com/islamic-state-the-other-side-of-isis-west-asia-iraq-… | |
| ## AUTOREN | |
| Marco D'Eramo | |
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