| # taz.de -- Essay zum UN-Weltkulturerbe: Mord mit besten Absichten | |
| > Durch das Label „Weltkulturerbe“ wird das Vermächtnis der Menschheit | |
| > nicht gerettet, sondern zerstört: Aus Städten macht es lebensfeindliche | |
| > Museen. | |
| Bild: Das wirkliche Leben findet draußen vor der Altstadt statt: San Gimignano… | |
| Entsetzlich, mitansehen zu müssen, wie immer mehr Städte der Agonie | |
| verfallen: großartige, opulente, pulsierende Städte, die Jahrhunderte, zum | |
| Teil sogar Jahrtausende den Wechselfällen der Geschichte widerstanden, die | |
| Kriege, Seuchen und Erdbeben überlebt haben. Und nun verwelken sie, | |
| entvölkern sich und verkommen zu Kulissen, in denen eine blutleere | |
| Pantomime gegeben wird. | |
| Wo einst das Leben brodelte, wo ein harter, zielstrebiger Menschenschlag | |
| sich Platz verschaffte, um voranzukommen und sich die Welt anzueignen, wo | |
| getreten und mit Ellenbogen gestoßen wurde, gedeihen heute nur noch | |
| Würstchenbuden und immer gleiche Auslagen für sogenannte regionale | |
| Spezialitäten, für jede Art Kunsthandwerk von Musselin und Batik bis zu den | |
| unvermeidlichen Armreifen. Vom lauten und wüsten Leben ist nur die | |
| Postkartenansicht geblieben: alles genau wie im Katalog beschrieben. | |
| Das Todesurteil für die Städte kommt, nach einem bürokratischen Hürdenlauf, | |
| aus Paris: Aus einem Gebäude an der Place de Fontenoy im 7. Arrondissement. | |
| Und das Urteil ist nicht mehr anzufechten, es ist ein label, ein brand, das | |
| den Städten buchstäblich unter die Haut gegangen ist. | |
| Ich spreche vom Unesco-Titel „Welterbe der Menschheit“ (World Heritage). | |
| Dieses Etikett ist bei Berührung tödlich: Wo die Unesco hinlangt, wird die | |
| Stadt gemeuchelt und anschließend ausgestopft. | |
| ## Athen 450 v. Chr. | |
| Dieser Mord geschieht in bester Absicht und mit reinem Gewissen, eben um | |
| ein Erbe der Menschheit haltbar zu machen. Aber es steckt im Wort: Haltbar | |
| machen heißt einbalsamieren, einfrieren, heißt den Städten den Verschleiß | |
| und die Wunden, die die Zeit schlägt, ersparen; heißt die Zeit tatsächlich | |
| anhalten wie auf einer Fotoplatte, heißt Wandel und Entwicklung aussperren. | |
| Gewiss steht die Unesco vor einem Dilemma. Denn es gibt Güter, die | |
| geschützt und bewahrt werden müssen. Wahr ist aber auch, dass es keine | |
| Propyläen gäbe, keinen Parthenon, kein Erechtheion, wenn die Athener sich | |
| 450 v. Chr. entschieden hätten, die Akropolis so zu lassen, wie sie eben | |
| war. Die Unesco wäre verrückt geworden angesichts des bewundernswerten | |
| Potpourris, das im 16. und 17. Jahrhundert in Rom aus Antike, Barock und | |
| Manierismus entstand. Und seien wir froh, dass das Pariser Viertel Marais | |
| nicht zum Weltkulturerbe erklärt wurde, sonst könnten wir vom Centre | |
| Pompidou nur träumen. | |
| Zwischen bauen und bewahren muss ein Gleichgewicht gefunden werden. Wir | |
| möchten in Metropolen mit Kunst und Baudenkmälern, nicht in Mausoleen mit | |
| angeschlossen Schlafstädten leben. Es ist unmenschlich, jemanden dazu zu | |
| verurteilen, sein ganzes Leben im Gästetrakt eines endlosen Museums | |
| verbringen zu müssen. | |
| ## In San Gimignano | |
| Nach dreißig Jahren war ich wieder im toskanischen San Gimignano: Innerhalb | |
| der Stadtmauern gibt es keinen Metzger mehr, keinen Gemüsehändler, keinen | |
| echten Bäcker; und wozu auch? – wenn die Bars und Restaurants und die | |
| Souvenirgeschäfte schließen, dann bleibt keiner aus San Gimignano zum | |
| Schlafen im Zentrum. Alle wohnen sie in den modernen Häusern außerhalb der | |
| Mauern, in der Nähe der Einkaufszentren. Die Altstadt ist zum Set für einen | |
| Ritterfilm geworden, sie trägt sozusagen Kostüm, sie ist einzig und allein | |
| dazu da, die unvermeidlichen „traditionellen“ Produkte zu vermarkten. Und | |
| je kleiner die Stadt ist, desto schneller stirbt sie. Das gilt nicht nur | |
| für Italien. | |
| In Laos hat das Weltkulturerbe Luang Prabang das gleiche Schicksal ereilt. | |
| Das Zentrum ist eine einzige große residence für Touristen, aus Wohnhäusern | |
| sind Restaurants und Hotels geworden, umgeben vom üblichen Nippesmarkt mit | |
| Taschen, Gürteln, Schmuck. Wenn man sehen will, wo die Laoten wohnen, muss | |
| man ein paar Kilometer mit dem Rad auf der Photisalath Road fahren, über | |
| die Phu Vao Road hinaus – erst dann findet man wieder eine lebendige Stadt. | |
| Wen es nach Porto in Portugal zieht, der bemerkt sofort die unsichtbare | |
| Grenze, die sich um das Gebiet des World Heritage zieht: Die Menschen | |
| werden andere – hier eine bunte, heterogene Menge, dann wie durch | |
| Zauberhand nur noch Ladeninhaber, Gastwirte, Kellner. Und sie alle stürzen | |
| sich auf die konforme Masse der Trekkingstiefelträger mit ihren | |
| grauenhaften kurzen Hosen und ihren bloßgelegten behaarten Beinen – wer | |
| weiß, warum Menschen im Tourismuseinsatz meinen, sich kleiden zu dürfen, | |
| wie es bei sich zu Hause nur Deutsche wagen würden. | |
| ## Gesicht der globalen Tourismusmaschine | |
| Der Brand „Weltkulturerbe“ dient der Beherbergungsindustrie als | |
| ideologisches Diplom, es ist das intellektuelle und menschliche Gesicht der | |
| globalen Tourismusmaschine. Und es lenkt nur vom Problem ab, wenn man | |
| „Weltkulturerbe“ mit Institutionen wie Nationalparks gleichsetzt: Denn | |
| Naturschutzgebiete sollen der dort ansässigen Fauna und Flora das Gedeihen | |
| ermöglichen, während die menschliche Fauna durch den Welterbestatus | |
| praktisch zum Verlassen des ausgewiesenen Schutzgebiets gezwungen wird, | |
| weil alles, was zu einem normalen Leben gehört, unmöglich gemacht wird. | |
| Zwei Umstände kommen erschwerend hinzu. Zum einen ein Phänomen, das man | |
| „zeitlichen Fundamentalismus“ nennen könnte, demzufolge es verdienstvoller | |
| scheint, das zu bewahren, was einer länger zurückliegenden Epoche | |
| entsprungen ist: Weil sie tausend Jahre älter ist, rechtfertigt die | |
| Ausgrabung einer römischen Mauer den zerstörerischen Eingriff in das | |
| Ensemble eines großartigen mittelalterlichen Kreuzgangs – so geschehen in | |
| der Kathedrale von Lissabon. | |
| Das zweite Phänomen ist philosophischer Natur. Da die Unesco die Stätten | |
| des Weltkulturerbes stets weiter vervielfältigt, und da die Menschheit | |
| gleichzeitig weiterhin Kunstwerke produziert (so hoffen wir) –, wenn wir | |
| also nach zweitausend Jahren Kulturgeschichte schon umstellt sind von | |
| Erbstücken: Was wird in tausend, in zweitausend Jahren sein? Leben wir dann | |
| auf dem Mond und kaufen Eintrittskarten für einen Besuch auf der Erde? | |
| ## Einbalsamiertes Italien | |
| Und wie ist es nun dazu gekommen? Nach jahrelangen Diskussionen | |
| verabschiedete die Generalkonferenz der Unesco 1972 das „Übereinkommen zum | |
| Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“, dem bis heute 190 Länder | |
| beigetreten sind. 1976 wurde das „Welterbekomitee“ geschaffen, das 1978 das | |
| erste Erbe definierte. Heute gibt es 1007 Welterbestätten in 161 Ländern: | |
| 779 kulturell, 197 natürlich und 31 gemischt. | |
| Zu den 779 Ausgezeichneten gehören 254 Städte – ob nun in ihrer Gesamtheit, | |
| ob einzelne Viertel oder nur die Altstadt. Die absolute Mehrheit dieser | |
| Kunststädte findet sich in Europa (138). Und wiederum fast die Hälfte davon | |
| ist auf vier Länder verteilt: Italien (29, inklusive Vatikanstadt und San | |
| Marino), Spanien (17), Frankreich und Deutschland (je 11). | |
| Wenn man von seiner relativ geringen Fläche ausgeht, dann ist Italien das | |
| Land mit der höchsten Dichte an Welterbestätten. Und man möchte doch | |
| meinen, inzwischen sei, was auszumachen war, auch ausgezeichnet. Aber nein: | |
| In den 1970ern gab es gerade mal eine Stätte, in den 80ern gab es fünf | |
| weitere, in den 90ern dann die große Explosion mit 25 neuen Heritages; und | |
| seit Beginn des neuen Jahrtausends kamen erneut 20 hinzu. | |
| Und immer noch drängeln die Städte, die Dörfer, die Regionen, dass sie ja | |
| als Erste einbalsamiert werden. Wie die Länder, die sich um Olympische | |
| Spiele bewerben, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihren Untergang | |
| heraufbeschwören wie Griechenland mit Athen. | |
| Und wir stehen fassungslos vor der Perspektive, dass unser Land ein | |
| einziges großes Museum werden wird, in dem wir uns nur mit Filzpantoffeln | |
| fortbewegen dürfen, verzweifelt nach dem Notausgang suchend. | |
| Nicht mehr lange, dann wird man den Film „Flucht aus dem Museum“ drehen, | |
| damit wir wenigstens auf der Leinwand wieder durchatmen können; damit wir | |
| einmal durchgeschüttelt werden vom wahren Leben und Städte sehen, die sich | |
| wandeln dürfen, bevor sie und wir endgültig eingemottet werden. | |
| Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
| 30 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco D'Eramo | |
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