# taz.de -- Alltag in der Ostukraine: Die Parallelwelten von Donezk | |
> Die einen hoffen auf eine russische Invasion. Andere haben Angst. Die | |
> Mehrheit in der „Volksrepublik Donezk“ aber lebt weiter, als sei nichts | |
> geschehen. | |
Bild: Frühling in Donezk. | |
DONEZK taz | Müde quälen sich zwei Männer einen kleinen Fußweg im Zentrum | |
der ostukrainischen Stadt Donezk nach oben. Sie kommen von einer | |
Demonstrationen zurück. Wegen der Hitze haben beide ihr Oberhemd abgelegt. | |
Die meisten Fußgänger machen einen großen Bogen um die beiden Gestalten. | |
Die schweigsamen Männer haben etwas an sich, das sie von den meisten | |
Mai-Demonstranten unterscheidet. Der rechte von ihnen trägt einen | |
rotgefleckten Kopfverband. Sein Freund hält einen schwarzen Gummiknüppel in | |
der Hand. Die Jugendlichen, die vor dem Restaurant Liverpool an der | |
zentralen Artjomowskaja-Straße rauchend warten, machen den beiden sofort | |
Platz. | |
Die Szene vor dem Liverpool im Herzen von Donezk ist typisch. Während ein | |
Teil der Bevölkerung rund um die Uhr an den Aktionen der „Volksrepublik | |
Donezk“ teilnimmt, lebt die Mehrheit weiter, als sei nichts geschehen. „It | |
is a hard days night“ dröhnt aus den Lautsprechern vor dem Liverpool. Würde | |
hier nicht Russisch gesprochen, könnte man glauben, in Großbritannien zu | |
sein. Alle Stockwerke sind mit dem Union Jack und Dutzenden von Photos der | |
Beatles geschmückt. | |
Zwei Parallelwelten existieren heute in Donezk nebeneinander. Im Herzen der | |
Stadt gehen Frauen mit ihren Kleinkindern, die sich über ihr erstes Eis | |
oder den ersten Luftballon in diesem Frühling freuen, durch die | |
Parkanlagen. Hundert Meter weiter stehen maskierte Bewaffnete der | |
„Volksrepublik Donezk“ und bewachen eines der zahlreichen, von ihnen | |
besetzten öffentlichen Gebäude. Sie geben sich wie die Könige der | |
Metropole, haben es nicht gerne, wenn man ihnen widerspricht. | |
„Ich mache um die besetzten Gebäude immer einen großen Bogen“ berichtet e… | |
Wissenschaftler der Donezker Universität. „Und wenn ich dann doch mal vor | |
so einem Gebäude stehe, mache ich meinen Mund lieber nicht auf.“ | |
## Stets das Georgs-Bändchen dabei | |
Jeder hat in diesen Frühlingstagen seine eigene Überlebensstrategie. „Ich | |
bin für die Regierung in Kiew“, sagt Dmitrij, der unter der Woche in der | |
ukrainischen Hauptstadt arbeitet und die Wochenenden bei seiner Familie in | |
Donezk verbringt. „Aber ich werde einen Teufel tun und dies hier | |
irgendjemandem auf die Nase binden“. Letztlich will Dmitrij nur eins: in | |
Ruhe arbeiten und in Frieden leben. | |
Angst hat er vor allem um sein Auto. „Ich habe immer zwei Fähnchen bei mir: | |
die ukrainische Fahne und das Georgs-Bändchen“, ein schwarz-gelbes Band, | |
Erkennungszeichen unter prorussischen Separatisten. „Wenn ich in Kiew bin“, | |
erklärt Dmitrij, „stecke ich die ukrainische Fahne auf mein Armaturenbrett, | |
hier in Donezk bringe ich mein St. Georgs-Bändchen deutlich sichtbar vor | |
der Windschutzscheibe an. Ich will ja nicht, dass irgendein Verrückter mir | |
mein Auto zerstört, nur weil ich gerade die falsche Fahne auf dem | |
Armaturenbrett habe.“ | |
Wer durch die Stadt geht, sieht die kalkweiße Oper, italienische Boutiquen, | |
die wegen ihrer Preise eher zur Besichtigung als zum Einkaufen dienen, den | |
ausgedienten Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg an einer Straßenkreuzung, der | |
an die Gefallenen der Stadt erinnert. Es scheint, als hätte ein Stadtplaner | |
versucht, gleichzeitig Mailand und eine sowjetische Kleinstadt zu bauen. | |
Vor den im sowjetischen Stil errichteten Verwaltungsgebäuden spielen sich | |
Szenen ab, die so gar nicht zu dem beschaulichen Leben passen. | |
Stacheldraht, riesige Transparente in den russischen Nationalfarben, Fahnen | |
der „Volksrepublik Donezk“, eingetretene Türen und eingeschlagene | |
Fensterscheiben, Menschenansammlungen und Sprechchöre wie „Krim – Donbas | |
(die Region um Donezk, d.Red.) – Russland“ erinnern daran, dass man sich | |
mitten in einem Umbruch befindet, von dem niemand weiß, wie er enden wird. | |
Doch in Donezk gibt es auch Geschichten, die dazu gar nicht passen wollen. | |
Stolz berichtet eine Studentin, die eigens für zwei Tage aus der | |
Westukraine angereist ist, dass sie gerade an der Donezker Universität ihre | |
Doktorarbeit verteidige. Ihr Fach: ukrainische Sprache. | |
Ungezwungen telefoniert sie mitten in einem Café der Metropole mit ihrer | |
Familie auf Ukrainisch. „Eigentlich studiere ich in Kiew, Linguistik mit | |
Schwerpunkt ukrainische Sprache. Aber meine Doktorarbeit mache ich in | |
Donezk. Die Fakultät für ukrainische Sprache ist hier einfach besser. Mein | |
Professor in Kiew ist richtig eifersüchtig auf seine Kollegen in Donezk.“ | |
## „Hoffentlich kommen bald die russischen Truppen“ | |
Wer sich in ein Cafe im Herzen der Stadt Donezk setzt, findet kaum glühende | |
Anhänger der „Volksrepublik Donezk“. Dort kostet eine Tasse Kaffee einen, | |
die Pizza vier und eine Portion Calamares fünf Euro. | |
Unter denen, die sich das nicht leisten können, ist die Stimmung anders. | |
„Ich weine jeden Tag mit meiner Tochter“ sagt die Rentnerin, die an einem | |
Stand Blumen verkauft. Von ihren 90 Euro Rente kann sie nicht leben. | |
„Wir haben Angst, dass die Amerikaner uns hier alles kaputt machen. Wann | |
immer ich kann, bin ich bei unseren Leuten, und arbeite mit an den | |
Vorbereitungen für das Referendum am 11. Mai. Hoffentlich kommen bald die | |
russischen Truppen. Dann wird es uns besser gehen, meine Rente wird drei | |
mal höher als jetzt sein und wir können endlich in Frieden leben.“ | |
Sie scheint auszusprechen, was die Mehrheit der Bewohner von Donezk denkt. | |
Eigentlich will man gar nicht zu Russland. Man ist in erster Linie „gegen | |
Kiew“, will unabhängig vom ukrainischen Zentrum leben. | |
Doch ein eigener Staat wird wohl kaum überlebensfähig sein. Und da müsse | |
man sich wohl Russland anschließen, meinen viele. In keiner anderen Stadt | |
im Südosten der Ukraine ist die Unterstützung einer russischen Intervention | |
so hoch wie in Donezk. | |
Die Studentin aus der Westukraine hat es sich inzwischen anders überlegt. | |
Sie wird doch schon am Abend abreisen und nicht erst am nächsten Tag. „Man | |
kann ja nie wissen“, sagt sie. | |
4 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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